Unbekanntes vom Galenstock
Unbekanntes vom Galenstock
Mit 2 Bildern. Von Klaus Wiesinger.
Wie lange habe ich nun schon auf diesen herrlichen Morgen gewartet, der mir all jenes Bergerleben mit unwiderstehlicher Kraft in Erinnerung ruft! Schon Wochen arbeiten wir Tag für Tag in Nebel und Regen an unseren Befestigungen, ganz in die Aufgabe vertieft, der Witterungsunbill nicht achtend. Heute aber ist ein festlicher Tag angebrochen. Die schlanken Föhren stehen vor dem fast vergessenen Blau des Himmels und wirken durch die Dunstschicht, die sie noch von uns trennt, unwahrscheinlich hoch. Jetzt fällt der erste Sonnenstrahl auf die Stämme, und das Herbstlaub zu Füssen wird mehr und mehr mit Gold überschüttet. Nun arbeitet die Erinnerung mit all ihrer verfügbaren Kraft: das Laub wird zu sonnendurchwärmten, gelben Felswänden, die Stämme sind die himmelstrebenden Pfeiler des Grates, und der blaue Himmel darüber mit den feinen Federwölkchen ist mein Berghimmel.
Das war eine trübe Bergwoche Ende August, wenigstens was das Wetter anging. Der Winterstock wurde im Nebel bestiegen, und am Gletschhorn-südgrat hatten wir wegen Schneefalls umkehren müssen. Schliesslich, um die Untätigkeit nicht unerträglich werden zu lassen, versuchten wir nochmals die Begehung dieses berühmten Südgrates, der jedem Bergsteiger, der einmal am Fusse seines kühnen, ungebrochenen Aufschwungs gestanden hat, zum Inhalt seiner Bergträume wird. Die Besteigung, die wir trotz Regen und Nebel durchführten, wurde zum Erlebnis, das in unserer Erinnerung immer leuchtender wird.
Meine Rekrutenschule habe ich in Andermatt gemacht, und während der zwei Wochen, die wir in den Militärbaracken auf der Furka verbrachten, leuchtete über uns die Firnkuppe des Galenstockes. Von einer Gwächte gekrönt, trennt sie die dunkel aus dem Siedeingletscher aufragenden Steilwände vom Himmel. Rechts zieht vom Gipfel herab ein luftiger Grat, der sich schliesslich fast lotrecht in die Obere Bielenlücke herabsenkt. Damals, vor sechs Jahren, fasste ich den Entschluss, diesen Grat zu begehen. Seither ist der Plan gereift, und Freude erfasst mich bei dem Gedanken, dass morgen dieser Wunsch vielleicht in Erfüllung gehen werde.
In der vergangenen Woche hatten wir Zeit genug, das Hüttenbuch zu studieren, und ich suchte nach Eintragungen über den Südostgrat des Galenstocks. Dabei fiel mir ein Widerspruch auf. Im Clubführer durch die Urner Alpen steht nur wenig über den Grat: «... man überschreitet den Bergschrund, indem man gegen einen ziemlich engen, gut sichtbaren Kamin ansteigt, durch welchen man unmittelbar nördlich des ersten Gratturmes auf den eigentlichen Südostgrat gelangt ( schwierig ). » Hier folgen die Überlegungen, die zum Entschluss führen: Wenn er wirklich so schwierig sein sollte, so wird uns im Abstieg das Seil helfen. Warum wurde aber dieser Grat nur einmal, und zwar im Abstieg, begangen laut Eintragungen im Hüttenbuch1Stellt er doch mit UNBEKANNTES VOM GALENSTOCK.
dem Nordostgrat zusammen eine ideale Überschreitung des Galenstockes mit Rückkehr in die Albert Heim-Hütte dar. Ein Beweis mehr, dass dieser Grat ein Stiefkind der Bergsteiger ist, ist die Tatsache, dass seine Beschreibung im Clubführer 1930 direkt aus der Ausgabe 1905 übernommen ist, trotzdem sie, wie wir feststellen mussten, völlig ungenügend ist. Woran mag es liegen, dass dieser Grat bei den Bergsteigern so wenig Beachtung gefunden hat? Diese Unbekannte verdoppelte für uns den Reiz des Unternehmens.
Für meine Frau und mich ist es eine ausgemachte Sache, dass ein Berg zu überschreiten ist, falls kein zwingender Grund dazu besteht, auf demselben Wege zurückzukehren. Die Überschreitung eines Gipfels gewährt uns heute noch die seltene Möglichkeit, das Glück jener Pioniere nachzuempfinden, die die Berge unentweiht vorfanden. Dies gilt besonders dann, wenn man wie wir das Talent hat, sich für den Abstieg jeweils die schwierigere Route auszusuchen. Während des Aufstieges besteht zumeist die Möglichkeit, sich auf bekanntem Wege zurückzuziehen, wenn etwas Unvorhergesehenes eintritt. Anders beim Abstieg. Die Schwerkraft verriegelt uns den vertrauten Rückzug mit jedem Meter, den wir tiefer steigen. Sich durchschlagen lautet die Parole. So erleben wir den Berg in vollster Intensität.
Ein ganz besonderer Morgen leitete den Tag ein, an dem wir den Galenstock überschreiten sollten. Die Kerzenlaterne zieht ihren engen Kreis um unsere Körper und Gedanken. Wir sind ein winziger Ausschnitt Leben in der unendlichen Nacht, die uns einhüllt. Unsere Sinnesorgane schärfen sich aufs äusserste, um uns durch die Wahrnehmung eines Lautes oder Fels-umrisses oder auch des Schneegeruches mit dieser undurchdringlichen Welt zu verbinden. Das Murmeln unter dem Gletschereis, die Pfadspur, ein flüchtig beschienener Stein, alles Materielle wirkt auf unserer Seele, die wir bloss und verletzlich durch die Bergnacht tragen, wie wenn eine Schale von ihr gefallen wäre.
Die Dämmerung führt uns in die Wirklichkeit zurück, und mit dem Erlöschen der Laterne fallen die räumlichen Schranken von uns. Doch die Seele bleibt noch eine Weile in dieser Schwebe, die uns das Göttliche begreifen lässt. Und das ist gut, denn was wir jetzt erleben, verlangt Bereitschaft: es ist die Wiederholung der Schöpfung, so wie jedes Individuum in seiner Entstehung die ganze Entwicklung seiner Art in gedrängter Form wiederholt. Kulissenhaft verdeckt uns die Spitzbergkette die aufgehende Sonne, während ihre sieghaften Strahlen die wild aus dem Nebel ragenden Felsriffe vergolden. Das Herrliche geschieht lautlos. Die Geburt eines Tages ist seine festlichste Stunde.
Am Fusse des Gletschhornsüdgrates schwenken wir von der Tiefen sattelroute links ab und überqueren den Gletscherstrom, wobei einige kleinere Spalten zu überspringen sind. Die Steigeisen werden angeschnallt und helfen uns, den steilen, aperen Teil des Gletschers leicht überwinden. Dort, wo die Neigung flacher wird, sind, wie es sich an solchen Stellen gehört, einige Spalten zu umgehen. Von nun an bereitet das Spuren einige Mühe, denn wir brechen durch die Kruste des Harsches ein. Geradeaus halten wir auf den vorstehendsten Punkt der Felswand zu. Der Bergschrund wird auf dem Bauche kriechend überwunden, und den Einstieg vermittelt, wenn man so sagen darf, eine steile, !».93 - Photo E. Gos, Lausanne Le Cervin, côté italien, après le mauvais temps 94 - Lith. de Loppé, BibliothèqueLe Cervin, vu du Breuil, avec l' ancienne auberge Nationale, Berne3 du Mt. Jumont Autorisé officiellement le 28. H. 1940, conformément à l' ACF du 3. X. 1939 »ninnar & Cie. S.A.Z.urich Die Alpen - 1940 - Les Alpes faule Rinne, die über einer Wand steht, von welcher die Bergseite der Schmelz-kluft gebildet wird. Nach Überwindung dieser heiklen Stelle gewinnt man einen rutschigen Stand im Geschiebe. Weiter oben sind die Felsen brüchig, aber leicht. 50 Meter weiter nördlich findet sich ein leichterer Durchstieg, den wir aber wegen des Neuschnees gemieden haben. Der Nordostgrat wird kurz vor jener Stelle erreicht, wo der Schneegrat beginnt. Auf seiner Ostseite finden wir einen geschützten Rastplatz, doch der nahe Gipfel lässt uns nicht lange verweilen. Die wohl ausgeprägten Stufen im Firn sind von einer rücksichtsvollen Partie auch im Abstieg intakt gelassen worden. Noch in der ersten Hälfte des Vormittags betreten wir den Gipfel und lassen uns an der einzigen Stelle, die nicht von einer Gwächte gebildet wird, nieder, nämlich dort, wo die Gipfelrippe der Ostwand mit feiner Firnschneide an den Gipfel stösst.
Die Rast war die köstliche Belohnung für das Ausharren während einer ganzen Woche. Die Gedanken über den bevorstehenden Abstieg wurden in einem tiefen Winkel der Seele verstaut, so dass wir uns ungetrübt der Sonne und dem Weitblick hingeben konnten. Ein nicht endendes Meer von Gipfeln umgab uns rings, so dass wir uns so recht im Mittelpunkt der Erde fühlten. Das blieb nun auch der Kern der Stimmung während dieser glücklichen Gipfelstunde. Nicht wir waren der selbstgefällige Mittelpunkt, nein, nur unser Berg war es, dem wir den heutigen Tag verdanken.
Nochmals überlegten wir, ob es nicht klüger sei, den einfachen Südgrat-abstieg zum Belvédère zu wählen. Aber welch ein Umweg wäre damit verbunden, zumal ein Teil unserer Ausrüstung noch in der Albert Heim-Hütte lag. Ausserdem stand ja der Südostgrat auf dem Programm, und es würde sicher ein leiser Schatten in meiner Erinnerung zurückgeblieben sein, wenn wir auf unser Vorhaben verzichtet hätten. Während wir solche Überlegungen anstellten, hatten wir uns bereits angeschickt, den Einstieg in unseren Grat zu suchen. Dieser ist nämlich unter einer Gwächte verborgen, welche ich nur unter grösster Vorsicht zu betreten wagte. Der Einstieg befindet sich etwa hundert Schritte südlich des Gipfels. Nach dem Durchbrechen der Gwächte findet eine Rutschpartie statt, worauf ein kurzes Verbindungsstück mit faulem Schnee zum Felsgrat hinüberleitet, der zunächst den Eindruck grösster Harmlosigkeit erweckt. Die losen Blöcke, die das Kennzeichen einer wenig begangenen Route sind, erheischen einige Vorsicht, doch kommen wir rasch abwärts. Ein von uns ins Rollen gebrachter Stein löst eine Lawine aus, die zischend die Ostwand hinabfegt, wie ein Wasserfall über einen Übergang hinausschiesst und prasselnd unten aufschlägt, wo sie, sich langsam vorwärtsschiebend, einen grossen Kegel über dem Bergschrund auftürmt. Rechts von uns poltern andauernd Schnee- und Steinlawinen durch die schwarze Wand.
Nach einer halben Stunde wird das Gestein besser, aber auch schwieriger. Wir benützen oftmals die Ostflanke des Grates, um denselben wieder durch schmale Bändchen und Risse zu gewinnen. Auf diese abwechslungsreiche Art gelangt man in eine kleine Scharte, von wo aus sich ein Couloir in die Ostwand hinabsenkt, das vermutlich, wie wir später von unten feststellen konnten, das im Clubführer erwähnte Kamin ist. Das konnten wir aber nicht wissen, denn der Führer ist hier sehr ungenau und für den Abstieg fast gänzlich unbrauchbar.
Jenseits der Scharte betritt man eine Felskanzel, einem Adlerhorst vergleichbar. Auf drei Seiten nichts als glatte Wände. Es sollte dies der letzte Rastplatz sein bis zum Tiefengletscher, der sich noch etwa hundertfünfzig Meter unter uns befand, und so bereiteten wir uns für das Kommende vor. An ein ruhiges Rasten war nicht mehr zu denken. Die Spannung war zu gross, sie verlangte nach Lösung. Vom vorgeschobensten Punkt der Kanzel steigt man durch einen Kamin östlich des Grates einige Meter ab und gewinnt durch Spreizschritt einen Absatz, von wo aus die Gratkante wieder gewonnen wird. Hier ist ein Block aufgesetzt, dem wir uns aber nicht anzuvertrauen wagten. Neben dem Block befindet sich eine Ritze, in die ich einen Ringhaken treibe. Es ist der zweite, von dem ich mich im Laufe von zehn Jahren getrennt habe. Warum soll er unedler sein als eine Seilschlinge, wenn er nicht dazu missbraucht wird, um sich an betonglatter Wand emporzunageln? Nun wird das fünfunddreissig Meter lange Seil durch den Ring gezogen, um uns beim Hinabklimmen in einem steilen Riss zu helfen, der auf einen massigen Stand ausmündet. Hier befindet man sich gegenüber einem grossen, imposanten, glattwandigen Turme. Man schwingt sich nach Westen über die Gratkante und seilt sich weiter über eine etwa acht Meter hohe, senkrechte Wand ab. Auf diese Weise gelangen wir in eine tiefe, schmale Scharte. Wie es manchmal in der Altstadt kleine, nur wenige Meter breite Häuslein gibt, die von ihren ausgewachsenen, angebauten Nachbarn überragt werden, so stellt unsere Scharte einen Giebel dar, auf dem wir beide gerade Platz finden, wenn wir uns ruhig verhalten. Das südlich angrenzende Haus wird von dem genannten Turm gebildet, in dessen wohltuendem Schatten wir uns aufhalten. Über die Seitenwand des andern Nachbarhauses haben wir uns soeben abgeseilt. Unter Ausnützung aller verfügbaren Reibung rutschen wir über das nach Osten geneigte Dach unseres Hauses. Vorschriftsgemäss, wie bei jedem rechten Haus, überragt das Dach die Wand. Da hier jede Abseilmöglichkeit fehlt, benützen wir die nördlich angrenzende Wand und erreichen über spärliche Griffe die Kante einer abstehenden Felsplatte, über die das Doppelseil gelegt werden kann. Wegen Platzmangels geraten wir uns dabei gegenseitig ins Gehege. Nach fünf Meter Abseilen gelangen wir auf ein noch steileres und ebenso glattes Dach und werden nun erst gewahr, dass wir uns vorher bloss auf dem Dache des Mansardenfensters befunden hatten. Wieder leisten Reibungswiderstand und mühsames Verspreizen an den spärlichen Rauhigkeiten des herrlichen Granites die Hauptarbeit gegen die Schwerkraft. Weiter unten bildet das Dach mit der nördlich angrenzenden Wand eine Rinne, und man ist froh, nach zwanzig Meter heikler Kletterei wieder einen sicheren Stand zu haben. Ein prächtiger Zacken verlangt geradezu nach einer Seilschlinge, und in fast zwanzig Meter langer Fahrt über eine senkrechte Wand wird der Firn erreicht. Während meine Frau den direkten Weg benützt, mache ich einige Meter höher auf einer Kanzel, die ich durch ein Pendel erreiche, einen Zwischenhalt, nicht um meiner Frau von hier oben eine Predigt zu halten, sondern um die Pickel auszupacken und das Seil, das sich von hier aus leicht einholen lässt, für die Gletscherbeschreitung zwischen uns doppelt zu legen. Der steile Firnhang erheischt wegen des faulen Schnees Vorsicht, wenigstens solange wir uns noch oberhalb des Bergschrundes befinden. In der Oberen Bielenlücke fühlen wir uns eine Viertelstunde lang sicher. Hinter uns liegt der schwierige Fels, vor uns der nachmittäglich aufgeweichte Gletscher, dessen Spaltenverlauf wir uns aus der Vogelschau während des Abstiegs genau eingeprägt haben. Die grossen Schrunde können wir umgehen, doch geschieht es hie und da, dass wir mit einem Bein durch eine faule Schneebrücke einbrechen. Reflektorisch legen wir uns auf den Bauch, um die Spalte kriechend zu überwinden. Nun wird der Hang steiler, und wir haben Bedenken, dass die ganze Schneeschicht auf dem Eise abrutschen und mit uns in die Tiefe gleiten könnte. Oberhalb des Punktes 3002, der Felsinsel, die den Oberen Tiefengletscher in zwei Arme teilt, machen wir nochmals von den Steigeisen Gebrauch. Wir folgen dem südlichen Rande der Felsen, und ein guter Teil des Abstiegs vollzieht sich als Rutschpartie, wozu wir uns Steinplatten als Unterlage aussuchen, um uns vor der Nässe des Schnees zu schützen. So wurde diese Überschreitung zur idealen Kombinationstour von Fels und Firn. Beim Durchwaten des Gletschersumpfes wünschen wir uns, wir wären mit Schwimm-häuten auf die Welt gekommen, denn an manchen Stellen versinkt man bis über die Schuhe im Wasser. Auf dem Hüttenweg schliesst sich der Kreis unserer Bergfahrt, und damit überkommt uns eine Ruhe, wie wir sie seit langem nicht mehr gekannt haben.
Brauche ich zu erwähnen, dass es zwei glückliche Menschen waren, die talaus zogen, dem rauschenden Bergbach entlang, und die sich gegenseitig eine jener Herbstblumen ansteckten, die uns Kunde tun von der Neige des Sommers?