Über den Nordostgrat zum Calandagipfel
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Von Paul Bartsch
( Chur ).
Weiche warme Sommerluft spielt im Tal. Zwischen den schmalgiebligen Häusern der alten Stadt guckt dunkelblauer Himmel, lacht glitzernd goldene Sonne. Über die Dächer hinweg schweift der Blick und bleibt wie liebkosend an den Bergen hängen. Silberblinkend grüssen sie aus der lockenden Höhe, und immer wieder ruht das Auge auf ihrer Schönheit. Und wie ich so schaue, da kommt es über mich. Kaum spürbar zuerst und dann alles überbordend, das wunderbar süsse Heimweh zu den Bergen. Aus einem Winkel des Herzens, aus tiefster Verborgenheit steigt es herauf und rinnt wie köstliches Fieber durch meine Adern. Und da weiss ich, dass ich den Lockungen nicht widerstehen kann, den Rucksack zu packen und den Höhen zuzuwandern.
Keinen seltenen Gipfel will ich erklimmen, keine Spitzenleistung vollbringen. Nur still und bescheiden meinen Bergerlebnissen ein neues hinzugesellen, eine Fährte aufgreifen, die ich vor Jahren einmal gegangen bin und an die ich immer wieder gern zurückdenke: « Über den Nordostgrat zum Calandagipfel. » Die Bergschuhe knirschen auf der holperigen Dorfstrasse von Haldenstein. Sie singen ihr Lied der Berge: es tönt wie verhaltenes Jubeln, wie wilde erdnahe Leidenschaft, wie ungestümes Wollen, das, von der Enge des Werkeltages befreit, aufatmend sich auslebt im süssen Zweitackt des Schrittes...
Schon verschwindet das Dorf unter mir im grünen Reigen der Obstbäume, und von fernher leuchtet aus dunkeln Wiesen das junge Gold der Äcker. Lähmende Sonne brütet in den steilen Kehren. Irgendwo aus der Bläue des Himmels lacht Vogelgezwitscher, eine Hummel brummt über den Weg, ein Schmetterling schillert in seltener Pracht. Auf zerborstenem Fels steht mahnend der Rest einer Burg. Ihr Turm ragt schießschartenbewehrt drohend empor und erzählt von den Zeiten, da Eisen und Feuer und todbringende Bauernfäuste in wildem Getümmel den Weg in die Freiheit bahnten.
Sinnend wandre ich fürbass. Harzduftender Föhrenwald spendet ersehnten Schatten. Auf den Bergwiesen von Arella weitet sich der Blick, und gerne hält man hier Umschau. Das breitschultrige Joch im Rücken, zwischen Mittenberg und Pizokel behäbig hingelagert, liegt mir gegenüber die alte, ehrwürdige Curia. Ihre Fenster und Scheiben funkeln, blitzen und gleissen im goldenen Strahl der scheidenden Sonne wie ein kostbares Diadem, wie eine verzauberte Stadt aus dem fernen märchenumsponnenen Orient. Dankbar begrüsse ich den lieblichen Bergwind, der hier kühlend die Stirne umschmeichelt; denn er macht den Anstieg um vieles leichter. Man hört von weitem Schellengeklingel, und meckernd kommen den Alpweg die naschhaften Ziegen herunter. Kaum wird man ihrer gewahr, so sind sie auch schon vorbei und verschwunden; warten doch unten im Dorfe die Bauern, um den weissen, köstlichen Inhalt ihrer strotzenden Euter zu bergen.
Nach dreistündigem Marsche ist Fontanulla erreicht. Hier sprudelt kristallklares Wasser. Ein Ort, wie geschaffen, eine Stunde und länger zu verweilen.
Steil ansteigend führt von hier der Weg durch breitstämmigen jahr-hundertalten Hochwald. Durch den späten Sommerabend dringt noch das Rauschen der Sense, und der helle Klang des Dengelhammers mischt sich darein. Über dem Montalin leuchtet ein Licht auf. Höher und höher steigt es und überschüttet die Welt mit neuem Glänze. Still und majestätisch wandelt der Trabant der Erde über den Himmel. Tief in die Menschenseele dringt sein magisches Licht und hat Gewalt über ihn. Vergangene Tage leben auf, und das Ohr lauscht willig dem betörenden Klange längst vergessener Stimmen, die in uns eine Welt wachrufen, die von der jetzigen so ganz verschieden ist.
Ein paar Schritte noch, ein tiefer Atemzug, und der heimelige Raum der Klubhütte umfängt mich. Plaudernd sitzt um die behäbigen Schiefertische ein fröhliches Bergsteigervölklein. Der Hüttenwart sorgt für alle, und so steht auch bald vor mir eine Schüssel mit dampfendem Tee. Ein Gefühl wohliger Geborgenheit erfüllt mich.
Schwere Bergsteigerschritte dröhnen im Flur. Wieder kommen Menschen, die gleich mir den sonnigen Höhen zustreben. Um vieles später hatten sie die Stadt verlassen, wo Arbeit und Pflicht sie zurückhielt.
NI
ÜBER DEN NORDOSTGRAT ZUM CALANDAGIPFEL.
Noch ist es nicht 4 Uhr, und schon sitzen wir beim Morgenimbiss. Dann geht 's ans Tagewerk. Das Gold des aufsteigenden Morgens säumt schon den Horizont. Nach kurzer Wanderung hat uns der Glanz des Tagesgestirns erreicht. Am Fusse einer steilen Halde, die zum Grat führt, beginnt der Anstieg.
Hauchdünner Nebel hängt über dem Rheintal. Nicht allzulange vermag sich das zarte Gebilde zu erhalten. Die Sonne ist stärker, siegreich klärt sie den Tag, und wo ein Wölklein sich zeigt, fegt sie 's hinweg. Das ist ein Zeichen, das dem Bergsteiger gefällt und für den ganzen Tag ein gutes Omen bedeutet.
Ob unsern Köpfen wird es auf einmal lebendig. Gemsen fliehen blitzschnell davon. Jetzt ist ein ganzes Rudel in Bewegung, Steine kollern zur Tiefe, aus der der helle Pfiff des Murmeltieres gellt. Menschen sind hier selten, höchstens im Herbst streift ein Jäger und lauert auf Beute. Wir aber haben Genüge am Anblick und freuen uns der Behendigkeit und Wildheit dieser Tiere und der herben Schönheit der Umwelt. Auf dem Grat überrascht der prächtige Anblick der gegenüberliegenden Grauen Hörner, die wie eine Krone in den Himmel wachsen. Nordöstlich erregen der Falknis und der wuchtige Scesaplana unser Interesse, während südlich, teilweise vom Berggrat verdeckt, Teile des Calfeisentales sichtbar sind.
Am Seil überturnen wir den luftigen Grat und plattige Felsen. Nach einer Stunde ist die Einsattelung, die ein kühn aufragender Felsturm abschliesst, erreicht, und auch dieser bietet, da er stark zerklüftet ist, beim Überqueren keine allzugrossen Schwierigkeiten. Wieder folgen abschüssige Felsplatten mit wenig guten Griffen, die mit Vorsicht, sitzend und auch wieder bäuchlings bezwungen werden. Mit Verstemmen und Spreizen durchklettern wir zwei aufeinanderfolgende Felsrippen und gelangen so wohlbehalten in die Scharte. Hier drängt sich recht eindringlich die wilde Szenerie unseres Standortes auf. Schwarze zerklüftete Felsen stürzen zu beiden Seiten jäh ab, und wuchtig greift zu unsern Häupten ein mächtiger Gipfelblock ins Blaue. Ein wundersames Gemisch von Einsamkeit und weltenferner Sehnsucht, gepaart mit einem leisen Grauen, übermannt mich. Immer wieder wandern die Augen durch die dunkle Kluft ins tiefe Tal, durch das die blaugrüne Tamina ihre Wasser wälzt. An ihre Seite geschmiegt läuft die Landstrasse, wie ein weisses endloses Band. Jetzt kriecht ein Auto darüber und verschwindet, nicht grösser anzuschauen als irgendein Käfer, der den Weg überquert. Staub wirbelt auf, und deutlich vernimmt man das Tuten, das zu uns herauftönt wie der Gruss aus einer Welt, der wir für Stunden glücklich entronnen sind.
Ein steiles, abschüssiges Band, das an der Felswand sich hinaufzieht, weist die Fährte. Wir sichern, und dann geht 's in die luftige Wand, schrittweise die wenigen Stellen nützend, die ein Vorwärtsklettern ermöglichen. In den Minuten äusserster Anstrengung klingt einem das eintönige Rauschen der Tamina an das Ohr, den unheimlichen Abgrund, der uns zu Füssen gähnt, so recht eindrücklich vor Augen führend.
Der schwierigste Teil unserer Tour ist überwunden. Verwittertes Gestein, lose Felsbrocken und Schutt wechseln nun ab, und ohne die Hosenböden besonders zu schonen, erreichen wir wohlbehalten den Gipfel.
Ein herrlicher Rundblick lohnt die Mühe. Überall, wo das Auge hinblickt, ein Gleissen und Schimmern von Gipfel zu Gipfel, ein Grüssen und Winken von Berg zu Berg. Und ich sitze da, in mich gekehrt und trinke, trinke in vollen Zügen die herbe Pracht der sonnenübergoldeten Welt. Und stille wird es in mir, feiertäglich still, und es überkommt mich wie Gottesdienst, wie eine unsagbare Gnade, und alles Menschliche fällt von mir.
Grundfesten der Heimat, ihr Berge! Wie über alles gewaltig ist eure Sprache. Wie müssen euch unsere Vorfahren geliebt und verstanden haben, dass sie für euch ihr Herzblut liessen. So sehr war ihr Denken und Fühlen mit euch verwachsen, wie die wetterharte Lärche es ist, die auf hoher Alp tief in euer steiniges Erdreich die Wurzeln treibt, um so ganz und gar eins zu sein mit euch...
Und mich ergreift eine tiefe Wehmut. Wie ist doch im Drängen und Hasten der Tage in so manchem Schweizerherzen die Liebe zur Heimat erkaltet... Aber in meinen Ohren tönt wieder das Rauschen der Sense und das Klingen des Dengelhammers, und ich sehe Menschen mit schwieligen Händen in ihre schwere Arbeit hineinwachsen und sehe, wie die harte Fron sie der Erde näher bringt und wie ihr Herz im Heimatgrunde sich verankert. Und wie ein heiliges Symbol, das mich zukunftsfreudig und heiter stimmt, wird mir das Rauschen der Sense und das Klingen des Dengelhammers, die durch den stillen Abend der Berge tönen.