Streifereien im Clubgebiet 1893
Vou Prof. H. Schiess ( Sektion Basel ).
I.
Bergün und Umgebung.
Bergün bezeichnet die mittelste Thalstufe, welche die Albula durchströmt. Filisur, etwas zu tausend Meter hoch, bezeichnet die untere Ebene, freilich nicht in norddeutschem Sinne, sondern im Schweizersinne, wo auch mäßige Flächen, wenn sie in sanften Neigungen dem sie durchströmenden Flusse folgen, diesen Namen gewinnen. Denn auch Bergün selbst verlangt einige Nachsicht, wenn es den Namen einer Ebene haben soll. Ist doch auf der Siegfriedkarte der vordere Teil des Dorfes mit 1364 und der hintere Teil mit 1388 M. bezeichnet, als hinterste Thalstufe wäre dann das 1745 M. hohe Wiesenthal Preda zu bezeichnen, an das sich nach hinten das reizende Seelein Palpuogna anschließt, dem der Wirt zum weißen Stein seine Forellen entnimmt, die sich sowohl durch ihre Güte als durch ihren Preis auszeichnen sollen. Die Wiesenfläche von Bergün streicht von Südosten nach Nordwesten und ist hier in malerischer Weise durch zwei waldige Coulissen geschlossen. Als die Albula ihr tiefes Bett noch nicht ausgegraben hatte, war der Wiesengrund ein See, in dessen Fluten die Bergünerhörner sich spiegelten. Durch die jetzige Öffnung sieht man die verschiedenen Rothörner: das Lenzerrothorn, Parpanerrothorn und das Arosarothorn, die im Abendlicht einen ungemein malerischen Abschluß des reizenden Landschaftsbilds gewähren. Diese Rothörner repräsentieren die Bernerberge, die man aus den Walliserthälern gegen Nordwesten auch im abendlichen Gold erglänzen sieht.
Nach dem Graugrün oder falben Rot der Ebene des merkwürdigen Sommers 1893 war das schöne Grün der Wiesen von Bergün doppelt erfreulich, und war die Klage über wenig Futter zwar auch hier hörbar, so gab es doch noch schönes Heu, und der Duft des Produktes der hohem Bergwiesen, das gerade während unseres Aufenthaltes eingebracht wurde, war für uns ein täglicher Nasenschmaus; selten noch habe ich ein so intensives Aroma genossen, wie auf dem freien Estrich, der gerade über der Heubühne lag, in dem wir manche Stunden vergnügter als in einem herrlichen Salon zugebracht haben.
Das Dorf Bergün ist mit Filisur und Stuls das wohlhabendste Gemeinwesen des Kreises Beifort. Man findet viele stattliche und gutgebaute Häuser, zum Teil mit Sgraffitozeichnungen um die Fensteröffnungen und schönen Eisengittern, die meistens an einem oder zwei der Fenster sich befinden, die von beiden Seiten das gerundete Hausthor einschließen. Man sieht, daß es sich nicht um einen bessern Verschluß, sondern nur um einen Zierrat handelt. Dann finden sich auch einzelne sehr originelle kleine dreieckige Erker, die nur wenig aus der Mauerfläche vorragen. Die Bewohner treiben fast ausschließlich Viehzucht und die Heuernte dauert sehr lange Zeit. Zuerst wird natürlich in Bergün geheuet. Dann zieht das ganze Dorf nach der Val Tuors und nach Preda. Dann kommen die hohen Bergwiesen in Val Tschitta, die bis zur Höhe von 2200 m geheuet werden. Das Heu wird auf niedrigen Wagen durch Rindvieh herausgeführt. Die Kühe und Ochsen werden beschlagen und in jedem Orte befinden sich eigene Gerüste, wo die Widerspenstigen eingespannt werden, damit der Schmied seine Arbeit ohne Gefährde besorgen kann.
Viele Bewohner weilen lange Jahre auswärts, in Frankreich, Rußland, Dänemark. So fanden wir in dem Privathause, in dem wir wohnten, ein Familienportrait, das in Kopenhagen war gefertigt worden.
Der Bergüner spricht zuerst romanisch, und erst in der Schule lernt er Deutsch, das er dann sehr rein spricht. Wenn man aber auf der Straße ein Kind deutsch anspricht, so bekommt man keine Antwort. Auch der Gottesdienst ist romanisch, und nur unserem fleißigen Kirchenbesuch war es zu verdanken, daß der Herr Pfarrer während des August deutsch predigte.
In der alten halb romanischen Kirche wird das Auge, wenn es nicht auf dem Prediger ruht, durch die sonderbare innere Kirchendecke, die mit einer Art von gewürfeltem Teppich ausgekleidet ist, in Anspruch genommen. Nach der Kirche zeigte uns einmal der Herr Pfarrer das Museum, einen kleinen Stock ausgestopfter Tiere enthaltend.
Zu den Annehmlichkeiten von Bergün muß mit Fug ein kleines Bad gerechnet werden. Es ist eine reichlich fließende Eisenquelle, die benutzt wird, und eine Einrichtung, wie sie bei uns zu Thal in manchem viel größern Orte vermißt wird.
Wenn über Mittag das Gerassel der Postwagen, die zahlreichen Pferde und Kutscher ein gewisses Leben in das Dorf bringen, ist die übrige Zeit des Tages einer klassischen Ruhe geweiht, und auch dein nächtlicher Schlaf, o Wanderer, wird durch kein Gejohle, kein Pferde getrappel gestört. Deine Fenster magst du ruhig offen lassen. Nur der frische Morgenwind wird deinen Schlaf allenfalls etwas kürzen und keine blutgierige Mücke wird dich stören.
Wie Bergün im Herzen von Khätien liegt, so liegt es wieder im Centrum von vier Thälern, die uns eine reiche Auswahl der verschiedensten und schönsten Ausflüge bieten. Unmittelbar beim Dorfe öffnet sich die Val Tuors mit schönem felsigen Eingang, hinten erst zu einem wiesenreichen Thalgrund sich erweiternd. Nach Osten auch ganz nahe sich erschließend, kommt die Val Tisch, in deren Hintergrund der Piz Uertsch sein Haupt erhebt. Hier hinten waren die Eisengruben, deren Erz in Bellaluna verarbeitet wurde.Von ihrem Hintergrunde kann man Über eine Paßhöhe zum Plazbi gelangen, das beim Piz Fregslas in die Val Tuors einmündet. In den Anfang dieses Thals kommt man, wenn man von der Val Tuors die Clubhütte des Kesch erreichen will. Wendet man sich südöstlich, so steigt man ein Stück auf der Albulastraße bis zu dem Weiler Naz; dort wendet man sich rechts und steigt zur Val Tschitta an, die zuerst nach links die Val Mulix abgiebt, in deren Hintergrund der Piz della Pyramida thront. Der Hintergrund des Tschitta zeigt nach links den Gletscher des Piz Val Lung, den man von hier leicht ersteigen kann. Geht man gerade vorwärts, so kommt man zur Paßhöhe der Fuorcla da Tschitta, die zu den kleinen Seen de Lajets führt und hinüber nach Alp Err. Man ist damit schon zu dem Gebiet des Piz d' Err gelangt.
Von kleinen Ausflügen, die wir gemacht, führe ich zuerst an, einen auf den Cuoim da Latsch. Latsch ist auf einer kleinen Terrasse eine Halbstunde über Bergün aufgebaut. In Bergün selber sieht man nur die Kapelle und ein Haus über den Rand hervorragen. Es giebt einen Fahrweg nach Latsch. Man kann sogar mit der eidgenössischen Post hinauffahren; aber am naturgemäßesten schlägt man einen Fußweg ein, der von den letzten Häusern von Bergün gegen Val Tuors zu sich in mäandrischen Windungen hinaufschlängelt. Man ist erstaunt, oben ein so stattliches und großes Dorf zu treffen.
Von Latsch steigt man anfangs durch Matten, später durch Wald aufwärts. Weiter oben kommt man auf Alpen, die aber geheuet werden, und endlich auf ein gewaltiges Plateau, das mit seinen kleinen Erhöhungen einen wechselvollen Blick in das Stulser- und Tuorsthal gewährt. Man sieht von dieser weiten Alpfläche prächtig den Aela, das wilde Tinzenhorn und den Piz Michel. Zu Füßen liegen Bergün und Latsch. Der ganze Ausflug kann bequem an einem Morgen ausgeführt werden.
Ein anderer Ausflug geht über die Häusergruppe Sagliaz am Eingang der Val Tisch und zum Teil durch Wald auf gebahntem Wege nach dem Bergrücken, der die Val Tisch von der Val Tuors trennt. Man kommt über die Weiden der Alp Darlux immer höher und endlich auf den Kamm, dessen vorderer Gipfel Piz da Darlux heißt und 2644 Meter mißt, während der hintere Gipfel, Cima da Tisch, 2880 Meter hat. Von hier übersieht man prächtig den Uertsch, leider war diese Seite ganz in Wolken, dagegen sahen wir gegen das Albulathal hinauf und gerade gegenüber den Eckpfeiler des Muot, der wenig bestiegen wird.
Einer der schönsten kleinern Ausflüge ist die Besteigung der Muchetta, der vordersten Spitze des Stulsergrats, der nach hinten zur Monstein-kette sich fortsetzt. Man kann den Ausflug, wenn man nur um 5 Uhr aufbricht, in einem Vormittage machen. Sie ist 2662 Meter hoch und erfordert drei und eine halbe Stunde, nicht, wie Tschudi, dessen Distanzangaben viel zu kurz sind, angiebt, zwei Stunden. Es besteht ja eine Höhendifferenz von fast dreizehnhundert Metern und eine Horizontaldistanz von 5 Kilometern; setzen wir die Combe'sche Formel: K X ( D + H ), so haben wir: 12 X ( 5+13216, also 3 Stunden 36 Min., was auch der Wirklichkeit entspricht.
Man steigt, etwas außerhalb des Dorfes, rechts einen steilen Fußpfad hinauf und gelangt, nachdem man eine Zeitlang die Straße tief unter sich gesehen hat, durch ein kleines Felsthor in einen schattigen Wald, steigt dann mäßig, bis man auf die Hochebene Latsch und Stuls gekommen, oder eben den Verbindungsweg dieser beiden Dörfer erreicht hat. Von hier kann man rechts gehend einen reizenden Weg nach Latsch machen oder man wendet sich links und hat nun dahin immer die schönste Aussicht auf den Aela, der sich hier imposant ausnimmt. In Stuls findet man ein gutes Sträßchen, das in das Stulserthal einführt. Über eine kleine, aber kühn geschlagene Brücke erreicht man die Häusergruppe von Runsolas; hier überschreitet man den Stulserbach und steigt anfangs in der Val Torta, dann, den Bach überschreitend, nach links auf steilem Pfade aufwärts durch Wald und weiter oben über Alp weiden. Ziemlich lange hat man einen ordentlichen Pfad, dann geht es pfadlos über magere Grashalden zu einer Schäferhütte, die einen sehr niedrigen Stand menschlicher Wohnung darstellt. Die Schafe halten sich hier oben auf und zwar häufig, ihren Dejektionen und dem daran haftenden Geruch nach zu urteilen, bis zum eigentlichen Kamm hinauf. Der Stulsergrat, den man von Brienz her schon sehr gut sieht und der bei der Herreise unsere Aufmerksamkeit gleich auf sich gezogen hatte, hat einige hintereinanderliegende Spitzen. Die Muchetta ist die vorderste der drei über 2600 m hinausgehenden. Weiter vorn erst sieht man direkt auf Filisur hinunter. Wir hatten drei und eine halbe Stunde gebraucht. Der Tag war sehr schön, und da die Anstrengung der Besteigung nur eine geringe ist, konnte man sich ungestört dem Studium der Aussicht hingeben. Man sieht hinunter nach Tiefenkastei gegen das Oberhalbstein, besonders schön gegen Davos, dessen mächtige Hôtels einen eigentümlichen Kon- trast bilden zu den Rothörnern und den Matten und Wäldern. Unmittelbar zu unsern Füßen liegt Wiesen mit seinem Kuretablissement. Nach der anderen Seite dann Bergün und gegenüber die Bergünerhörner. Von entfernteren Bergen sieht man die Glarner sehr schön, von den Bernern habe ich nichts gesehen, wohl aber schön die Engadinerfürsten. Gerade unter uns liegt der Latscherkulm, wie eine große ebene Matte. Wir kamen gerade noch recht zum Lunch nach Bergün zurück.
Großen Reiz gewährt auch der Aufstieg zum Hospiz des Albula. Die Albula bildet eine Reihe von hübschen Wasserfällen, weiter oben kommt man zu den ebenen Bergtriften von Präda und dann, zu einer weitern Terrasse aufsteigend, erblickt man den Sturz der Albula aus dem Lai da Palpuogna. Ich war ganz erstaunt, als ich diesen dunkelgrünen See zwischen den Tannen und Lärchen hervorblinken sah. Die Färbung und Einrahmung ist reizend. Weiter oben zieht sich ein Tannenstreifen bis beinahe zum Wirtshause zum weißen Stein. Dort oben ist ein zweites, aber beinahe leeres Seebecken, dessen Wiederherstellung scheints vergebens versucht worden ist. Dort sprudeln die zwei mächtigen Quellen heraus, die sich vereinigend die junge Albula bilden, die am Wirtshaus zum weißen Stein vorbeiläuft. Weiter aufwärts wird der Paß öde und reizlos. Er soll den Lawinen ziemlich ausgesetzt sein. Auf der Paßhöhe ist noch ein kleiner See.
Den schönsten Spaziergang machten wir noch am Tag vor unserer Abreise, und zwar nahmen daran auch die Damen und mein Großtöchterchen teil. Es ist das die Rundtour um den Aela, die auch im Itinerar beschrieben ist, pag. 158. Sie soll acht Stunden erfordern. Sagen wir neun, so werden wir der Wahrheit näher kommen. Man geht auf der Albulastraße aufwärts bis Naz. Dort überschreitet man den Fluß und steigt durch lichtes Gehölz und Matten aufwärts, bis da, wo sich das Thal in zwei teilt: Mulix und Tschitta. Die Leute waren überall streng am Heuen. Wir begegneten den niedrigen Wagen, auf denen 8-9 zusammengebundene Heubündel aufgestapelt sind. Hie und da purzelt auf dem holprigen Pfade der Wagen um und muß wieder aufgerichtet werden. Dies möglichst zu verhüten, geht der Fuhrmann immer sorgfältig nebenher, um so alle Kollisionen mit der horizontalen Linie möglichst zu vermeiden und auszugleichen. Val Mulix verläuft eine schöne Strecke als schönes Alpthal eben. Hinten ist der Pyramidenspitz. Wir folgen dem muntern Bächlein des Thalwassers, das neben dem Wege herhüpft. Weiter hinten kommt man zu schönen Grashalden, die heute eine Menge Heuer zeigen. Die Zugtiere sind ausgespannt und lassen sich das duftige Bergheu wohlschmecken. Weit hinten ist eine kleine Steinhütte, wo man der Unbill der Witterung einigermaßen entgehen kann. Im Thalhintergrunde, da, wo die Matten sich zu den Felsköpfen der Tschimas da Tschitta hinaufziehen, ließen wir uns an dem Bächlein nieder und zogen unsere Vorräte hervor. Mettier hatte auch sein Söhnlein mitgenommen, das unterwegs Pflanzen suchen sollte.Von unserem Frühstücksplatze aus sah man gerade auf die Albulastraße. Ein Blick auf die Karte zeigt auch, daß die Albulahöhe und ihr Thal dieselbe Direktion hat, wie das Tschitta-thal. Weiter oben gelangt man in ein ziemlich enges schutterfiilltes Bergthal, das nach links von dem Gletscher des Piz Val Lung begrenzt wird; hier sahen wir, von dem kleinen Mettier aufmerksam gemacht, zwei Gemsen auf dem Gletscher. Über ihnen kreiste ein großer Vogel, von dem die Gesellschaft annahm, es sei ein Steinadler.
Geradeaus scheint das Thal sich völlig zu schließen; doch sieht man später eine Öffnung nach rechts und kommt zu einer Paßhöhe, auf der man nur den hintersten Teil des Aela vor sich aufsteigen sieht. Man ist in einem kleinen Thal, das von Schutthalden eingeschlossen erscheint. Dieselben haben zum Teil eine auffallend rote Farbe.
Wir sehen westlich auf einen Kamm, an dem sich eine Schneebekleidung zeigt. Vorher wechselt rotes mit schwarzem Gestein. Hier wird die Kleine zu ihrer großen Freude ans Seil genommen und auf dem Schneekamm, der die eigentliche Fuorcla da Tschitta darstellt, 2922 m hoch, einige Stufen gehauen. Auf der andern Seite wird sogar eine kleine Glissade ausgeführt. Der Firn war in diesem heißen Sommer sehr zurückgegangen. Wir sahen in die Lajets hinunter, und vor uns liegt ein kleines ungenanntes Wasserbecken. Der Ausfluß der drei kleinen Seen geht nach Val d' Err, in deren oberster Stufe wir uns jetzt befanden. Man hatte uns von dem rauhen Wege in diesem Thälchen gesprochen. Hält man sich an die Achse des Thals und sucht auf dem kürzesten Wege den untersten See zu gewinnen, so muß man über mächtige Steintrümmer klettern und sich zwischen solchen durchwinden. Mettier führte uns aber auf einem etwas weitern, aber viel zahmeren Wege sicher und mühelos zu unserem Ziele. Wir fanden neben dem untersten See Pferdespuren im Sande und in den Steinen. Es mußte jemand aus der Val d' Err hier heraufgeritten sein. Wir erblickten hier sehr schön den Piz d' Err mit seinem Gletscher und den Piz Piatta, für den Mettier schwärmte. Wir änderten nun die Richtung und wandten uns nördlich. Vor uns lag eine gelbrote Schutthalde, die beinahe keine Vegetation zeigte. Nach rechts und gerade vor uns waren die schreckhaften Felsklüfte des Aela zu schauen, die uns um so mehr interessierten, als wir sie vor zwei Tagen von oben studiert hatten. Nach links ragte das Tinzenhorn hervor, das hier nicht die drohende Pyramidengestalt hat wie von Stuls, sondern mehr einem Klotze gleicht.
Auf dem Kamme angekommen standen wir zwischen den zwei Unholden auf dem Aelapaß 2760 m. Es strich da oben ein scharfer Wind, und wir zogen es vor, weiter unten auf einer kleinen, teilweise sandigen Ebene, die noch Spuren von Wasser zeigte, zu lagern. Der Himmel, der den ganzen Tag etwas bewölkt gewesen, fing an, sich bedenklich zu verfinstern. Hinter den bizarren Felszähnen, die das Tinzenhorn mit dem eben überschrittenen Kamm verbinden, sah man wüste Nebel zu uns hertibertreiben. Wir waren nun im Thal, Val Spadlatscha, das nach Filisur hinunterläuft, und wären ebenso rasch dort gewesen, als in Bergün. Wir zogen uns aber durch Steine anfangs, dann durch magere Triften abwärts, nicht ohne dabei auch die südliche oder vielmehr nordwestliche Aufstiegsroute zum Aela und die Route auf das Tinzenhorn zu studieren. Die Spadlatschahütte lag ja links unter uns. Wir wandten uns unter einem Felssporn des Aela nach rechts, auf steilen Rasenhängen ging es quer hinüber und aufwärts zum Chavagl gruond, dem großen Pferd, im Gegensatz zum Chavagl pitschen, dem kleinen Pferd. Das ist eine große, etwas holperige Hochebene, auf der nach Mettier Edelweiß zu finden ist. Daß sie selbst Edelweiß pflücken dürfe, das war ja der Hauptsport für die Kleine. Es regnete ein wenig, als wir oben anlangten und nun wieder Tuors, Latsch und Stuls unter uns liegen sahen. Aber es war nur ein „ Sunneregeliu, wie die Kleine sich ausdrückte, und wir sahen, daß wir für morgen keinen Regentag einschreiben müssen. Die Aussicht bei schönem Wetter muß hier schön sein. Man konnte von hier durch Val Spadlatscha nach Filisur hinunter, teilweise auf gutem Sträßchen. Aber auch nach Bergün geht ein Sträßchen hinunter, auf dem das Bergheu geführt wird, aber jetzt war ein Teil davon abgestürzt. Bei Fontana Fredda wurde die durchs Edelweißsuchen etwas zerstreute Gesellschaft wieder gesammelt und der Rest der Vorräte vertilgt. Schon um 5 Uhr waren wir wieder in Bergün.
II. Erste Traversierung des Uertsch.
Der Sohn unserer Hausfrau, Herr Ingenieur C, hatte uns von einer Tour über eine Forcella gesprochen, die uns von der Val Tisch ohne erhebliche Schwierigkeit nach dem Albulahospiz bringen würde. Da das Wetter schön zu werden versprach, wurde beschlossen, diese Tour zu unter- nehmen, aus der dann, ohne daß wir es ursprünglich beabsichtigt hatten, eine Traversierung des Piz Uertsch wurde. So brachen wir, d.h. ich mit meinen zwei jüngsten Söhnen und meiner jüngeren Tochter, am 25. Juli morgens 5 Uhr auf nach der Val Tisch. Einen Führer hatten wir bestellt, er war aber nicht zur rechten Zeit eingetroffen, so gingen wir denn allein. Mit Proviant waren wir versorgt, und auch mein Seil hatte ich auf alle Fälle mitgenommen.
Der Weg führt, sobald man die erste Thalstufe überwunden hat, langsam steigend, durch Wald aufwärts. Bald sieht man im Hintergrund das steile Gebirge des Uertsch und bemerkt auch einen Sattel im Westen des Berges. Aber von weitem schon kann man wahrnehmen, daß dieser Sattel sich ungemein steil auf ebenem Gletscher aufbaut und daß man auch von demselben die Bergkette nur schwer traversieren könnte. So änderten wir den Plan und gedachten bis in den hintersten Thalgrund zu gelangen und dann zu schauen, wie der Berg von dort ausschaue. In nicht ganz zwei Stunden hatten wir die Alp Tisch erreicht und machten hier einen ersten kurzen Halt. Die Alphütten liegen auf der linken Seite des Thales. Sie sind groß und schön, und die Ställe weit und hoch, doch schlecht ventiliert. Ihre Bewohner standen in Parade da und wir konnten uns nur mit Mühe durch die uns Anglotzenden durchwinden. Der Hirt trieb sie bald auf die andere Seite des Thals und wir ließen sie dann im Ansteigen noch einmal Revue passieren. Es sind sehr hübsche, nicht zu große Tiere von graubrauner Färbung in verschiedener Mischung, meist noch sehr jung, gut genährt. Die Futternot war ihnen nicht anzusehen. Und doch klagen in Bergün die Leute über einen sehr dürftigen Ertrag.
Von Alp Tisch hat man noch mehr als eine Stunde eine Art Weg, der als eine breitere Straße von früher her deutlich sich markiert. Es wird die Weganlage sein, die man ehemals zur Herausschaffung des Erzes benützte aus den jetzt verlassenen Eisengruben. Nun kommt man an die Moräne des Vadret da Tisch, dann auf den Gletscher selbst, der in seiner untern Abteilung ganz aper ist und die bekannten Gletscherbächlein zeigte, die zu dieser Tageszeit noch spärlich fließen. Wir sind jetzt gerade unter der Forcella, die etwa der Stelle 3114 auf der Exkursionskarte entsprechen möchte; wir können hier den ungemein steilen, allerdings nur wenig zerrissenen Hang genau übersehen und finden, daß ein Emporklimmen an demselben, für unsere Kräfte wenigstens, unmöglich wäre. Herr C. hatte offenbar von unbekannten Dingen gesprochen, als er uns die Passage anriet. Wir zogen uns langsam über den glatten eisigen Teil des Vadret in die Höhe. Der Gletscher war zum Glück ganz mit Steinen besäet und ermöglichte so ein ziemlich rasches Vorrücken. So kamen wir gut auf den noch schneeigen Teil und rückten im Zickzack ostwärts und aufwärts. Der Kamm, der das Tisch von dem Plazbi trennt, lag gerade vor uns. Der Gedanke, die Forcella direkt zu überschreiten, war, wie bemerkt, bereits aufgegeben worden. Dagegen erschien es möglich, vielleicht von dem Halse des Uertsch doch noch auf den Sattel zu kommen. Um diesen Zweck zu erreichen, wandten wir uns der auf der Karte mangelhaft markierten Felsmauer zu, welche die östliche Flanke der Eishalde der Forcella bildet. Dazu mußten wir zuerst gerade aufwärts stampfen und, uns dann links wendend, den Felskamm antreten. Das war nicht so ganz leicht und kostete uns, bei der schlechten Beschaffenheit der Felsen, einige Mühe. Der Fels zeigte nämlich eine fast senkrecht gegen uns gerichtete Schichtung, so daß man bei bedeutender Steilheit nur sehr unsicheren Halt bekommen konnte. Weiter oben wurde es besser und verfolgten wir daher so lange als möglich dieseBahn, die uns etwas nach rechts hinüber führte. Wirhatten also nach rechts über und teilweise neben uns das Eiscouloir des Sattels. Nach links thronte stolz die Spitze des Uertsch. Ich machte mir schon die Rechnung, daß es uns weiter oben, wo der Hang der Eispforte mäßiger geworden, doch noch gelingen werde, traversierend die Höhe der Forcella zu erreichen. Dort dachte ich dann mit der Tochter zu warten und den Söhnen es zu überlassen, ob sie noch den Berg selber erklimmen wollten.
Als wir das obere Ende des Felskammes erreicht hatten, war es schon eilf Uhr geworden. Gerade über uns lag ein Stück des gesägten Felskammes, der den Berg mit dem Col verbindet. Da hinauf mußten wir. und allmählich gab ich den Gedanken auf, den Col nach rechts traversierend zu gewinnen. Nach links umschließt ein Firnmantel in cylindrischer Krümmung den Hals des Uertsch, und erst weit oben konnten wir uns einigermaßen ein Urteil über den nördlichen Absturz des Berges bilden, der eine Annäherung von vornherein abweist. Also blieb es bei der Idee, gerade nach oben den Felskamm zu gewinnen. Wir brauchten dafür etwas mehr als zwei Stunden. Das Seil war schon auf dem obern Teil des Gletschers angelegt worden. Die Spitze des Zuges eröffnete mein Sohn H., dann kam meine Tochter, hierauf mein Sohn E., und dann meine Wenigkeit, um alles zu übersehen. Der Firn war im ganzen gut gangbar, nicht so hart, daß man Stufen schlagen mußte, nicht zu weich, so daß der Fuß guten Stand fand. Weiter oben wurde der Schnee eine Strecke weit sehr weich, so daß man teilweise bis über die Knie einsank. Das war für meine Tochter, die sich manchmal nur mit Mühe aus dem Schnee herauswinden konnte, äußerst beschwerlich. Zum Glück wurde es weiter oben wieder besser. Aber jetzt kam eine nach links ganz bedenklich weit gähnende Spalte. Nach rechts war eine Doppelbrücke, die uns aber nicht einleuchten wollte, und so zogen wir uns noch mehr rechts, wo sich die Spalte verengte, und kamen da ohne Schwierigkeit hinüber. Eine zweite, weiter oben gelegene kleinere Spalte wurde ebenfalls glücklich überwunden, und nun lag der Felskamm in greifbarer Nähe vor uns. Wenige Minuten führten uns zum festen Gestein und einige weitere Anstrengungen auf den Felskamm, den wir um 1 Uhr 35 Min. erreichten. Schon im Hinaufgehen hatten einige Wolken sich gezeigt, auch momentan die Sonne verdeckt, aber bis zum Horizont waren die meisten Berge frei und wir hatten einen schönen Ausblick. Ich war erstaunt über die Ausdehnung desselben. Die äußersten Vorposten hatten jenen schönen blauen Ton, den der Fels an klaren Tagen in großer Entfernung gewinnt. Doch zunächst hatten wir anderes zu thun, als die Aussicht zu bewundern. Als wir auf den Kamm traten, machten meine Begleiter ein etwas verwundertes Gesicht. Der Gipfel lag nach links hinüber. Gerade vor uns fast senkrechte Felswände. Wo der Weg möglich, ob er überhaupt möglich, das mußte sich zeigen. Ich ging nun voraus und es gelang ohne viel Tasten, bald auf dem Kamm, bald nach rechts, bald nach links ausweichend ohne Schwierigkeit zuerst den vor uns liegenden Steinmann — der Piz Uertsch hat mehrere mit Steinmännern gekrönte Spitzen — dann die weiter vor uns liegende kleine Schneehaube zu erreichen, die zu unserem Erstaunen die eigentliche Spitze bildet. Es war zwei Uhr, als wir den Gipfel betraten. Eine Stunde blieben wir oben. Da wir das Itinerar noch nicht in Händen hatten, wußten wir nicht, daß wir etwas ganz Neues gemacht. Jetzt, wo ich das Itinerar habe, sehe ich, daß Mettier diesen Weg soll erkundet haben. Es steht aber ausdrücklich, daß noch nie der Weg in der ganzen Ausdehnung gemacht worden sei.
Wir hatten eine herrliche Aussicht. Besonders großartig stellt sich die ganze Berninagruppe dar. Dann kommt die Gruppe des Err, links Kesch ganz nahe, dann die Berge der Juliergruppe. Prachtvoll stellt sich die Silvrettagruppe dar. Ganz besonders schön ist der Blick ins Thal gegen das Engadin. Man sieht verschiedene Dörfer, unter andern Ponte und Pontresina. Gerade zu Füßen die Albulastraße. Das Läuten der Herden und die Rufe der Hirten sind deutlich vernehmbar. Den Abstieg beschlossen wir gerade nach unten südlich zu machen. Hätten wir, wie billig, das Itinerar vorher studieren können, so würden wir es nicht gethan haben. Herr Rydzewski schlug diesen Weg ebenfalls ein, und es heißt dort pag. 80/81 von demselben: „ Der Abstieg war besonders in den untern Teilen sehr schwierig, so daß das Gelingen nur der Kühnheit und Kletterfertigkeit Mettiers zu verdanken war. "
Wir hatten für den Abstieg die gleiche Ordnung wie für den Aufstieg. Ich war der letzte, H. der erste. Wir kamen langsam, aber ohne besondere Schwierigkeit abwärts und vorwärts. Die tief zu unsern Füßen liegenden Schutthalden näherten sich und es schien uns, die direkte Verbindung unserer Route lasse sich schon verfolgen. Ich schlug vor, nach der langen Kletterei einen Schluck Wein zu nehmen. Meine Jünglinge meinten, wir seien jetzt bald aus den Felsen heraus, und wollten warten. Unter uns sahen wir einen gelben Felskopf, und von dort schien ein Couloir hinunter zu führen. Es war inzwischen mehr als 5 Uhr geworden und sehnten wir uns nach dem Ende.Vorher schon hatte ich geglaubt, einer Bachrunse entlang nach unten zu kommen, sie war aber durch senkrechte Abstürze unten geschlossen. Bei dem Kopfe angekommen, sehen wir sogleich die Unmöglichkeit weitern Abstieges, und wenden uns nach links, wo ein Felsband ein weiteres Vordringen gestattet. Aber nach wenigen Schritten hört auch hier jede Möglichkeit des Weitergehens auf. Es mochte etwa 5V2 Uhr sein. Die Aussicht war gegen die Berninagruppe bezaubernd schön geworden. Sie wäre uns aber gewiß noch viel schöner vorgekommen, wenn wir gewußt hätten, wie uns aus \ der Klemme zu ziehen. Die Karte nochmals studierend sahen wir, daß wir hätten die östliche Flanke des Berges gewinnen sollen. So hieß es aufwärts und rückwärts, um die Kante zu erreichen, die einen sichern Abstieg bieten mußte. Ich übernahm jetzt die Führung. Nach Überschreitung verschiedener senkrechter Furchen der Südfront sahen wir endlich rechts hinaus ein Schneeflecklein auf einem Terrain winken, das mehr den Geröllcharakter trug. Aber wie wir um eine Ecke biegen, gähnen uns neue Abgründe entgegen.
Da hinüber ist unmöglich zu kommen. So muß man wieder aufwärts, dahin, wo die Klüfte nach oben sich zusammenschließen. Es war inzwischen 8 Uhr geworden. Unsere Lage wurde unangenehm. Endlich muß doch dieser östliche Gratkamm kommen. Aber nochmals kommt eine Scharte mit scharfen Platten. Also nochmals hinauf und rechts hinüber, und mit einem von Herzen kommenden Gottlob rufe ich zurück: „ Jetzt haben wir 's gewonnen !" Es war Dämmerung; aber zum Glück war der Mond aufgegangen und beleuchtete unseren Pfad, wenn auch mit trügerischem Licht. Im raschesten Tempo ging es nun über die Trümmerhalden abwärts. Steine wurden gewälzt, man achtete nicht darauf. Weiter unten kommen wir nochmals in steile Bachrunsen. Längst sahen wir unter uns ein Schneeflecklein, dann zeigte sich Rasen, der aber ziemlich steil abwärts führte. Wir zogen uns nun etwas links, und endlich waren wir wirklich unten. Wir mußten zwar noch über Steine stolpern und steile Grashalden traversieren, aber die Albulastraße lag vor uns. Jetzt wurde noch der Rest der Vorräte vertilgt. Nach manchem Stolpern hatten wir die Straße und mit ihr das Hospiz erreicht. H. war vorausgeeilt und sollte meiner Tochter telegraphieren. Das Bureau war aber geschlossen. Der Wirt schaute uns ganz verwundert an und konnte sich unser Erscheinen gar nicht erklären. Er war am Tage zuvor oben gewesen mit zwei Herren von der Sektion Bachtel, wir hatten ihre Namen in einer der vielen Gipfelflaschen gefunden. Am folgenden Tage wollte er mit andern Touristen wieder hinauf. Unsere Route war ihm nicht verständlich. Er teilte mir auch zwei Tage später, wo wir zum Hospiz gewandert waren, mit, daß sie gestern keine Spuren im Schnee gesehen hätten. Er glaubte offenbar nicht recht, daß es für führerlose Touristen möglich sei, so etwas auszuführen. Nachdem wir rasch ein Glas Veltliner genommen, machten wir uns auf der Landstraße auf den Weg nach Bergün, das wir halb schlafend um i Uhr erreichten. Wir waren also 20 Stunden auf der Wanderung gewesen, davon wohl 18 Stunden auf den Beinen.
So endete dieser Tag, Gott sei Dank, glücklich! Den Uertsch aber hoffe ich noch einmal auf dem Spazierweg zu machen, denn seine Aussicht kann nur gelobt werden.