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Meinetwegen zugrunde gehn

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Wenige Tage nur nach diesem dunkelsten Abend meines jungen Lebens wollte es der Zufall, dass ein Bekannter von mir, Franz Obexer vom akademischen Alpenklub, den ich im gemeinsamen Hörsaal kennengelernt hatte, mich zu einer Bergfahrt einlud, die mir alle himmlischen Freuden an Ruhm und Genuss versprach. Wollte ich die Möglichkeit, Mitglied im Klub zu werden, nicht verscherzen, musste ich mich rasch entschliessen, jetzt wird sich 's zeigen, ob du ein Mann bist, Karl, und fähig zum Grossen, dachte ich, das Schicksal bietet eine Hand, die nicht ausgeschlagen werden darf, ich war grimmig, war in Stimmung und sagte prächtig rasch zu.

0 HerrgottI 0 herrliche, unbesonnene Jugend! Das Dunkle, Hässliche hinderte mich merkwürdigerweise nicht mehr, vielleicht war es in Wirklichkeit überhaupt nichts gewesen: ich war jetzt zu allem bereit.

Hätte ich einen einzigen Monat früher der väterlichen Mahnung, der bürgerlichen Vernunft zum Trotz zu einer Bergfahrt zuzusagen gewagt, die ich selber als Grenze des Möglichen, zum mindesten als Grenze für mich Anfänger empfand?

Jetzt war alles ganz anders! Jetzt war alles gleichgültig! Jetzt beherrschten neue Gestirne, veränderte Gesetze mein Leben. Viel fataler war ich schon aus dem engen Kreis des Wohlanstandes hinausgetreten. « Jetzt musst du bleiben, was du bist, der Abenteurer », dachte ich, und mit eisernem Trotz und frommen Gebeten im Herzen tat ich den zweiten Schritt auf einem rauhen, eisigen Höhenweg, den ich nicht so bald wieder verlassen sollte.

Alles war neu für mich, grossartig, schneidig, flott, nichts erinnerte mehr an die alte, lahme Vorsicht und an die engen Begriffe der Städter.

Neu war es für mich, wie diesmal neben den Ski noch Steigeisen und Seile mitgeschleppt wurden, ganz neue, ganz flotte Menschen waren meine Begleiter vom akademischen Alpenklub, und unerhört tapfer war die Art, wie diese winterliche Tödifahrt mit Singen und Jauchzen abends um neun inszeniert wurde, während die guten Linthaler Bauern zum « Lichterlöschen » bliesen und in die Federn krochen » Das war der Einmarsch in eine neue Welt, das war jetzt die Hochregion des Lebens, die sich auftat, das war jetzt das Leben selbst, dem ich mich vor kurzem ausgeliefert hatte. Es würde streng und gefährlich sein. Von diesem Leben gäbe es nie mehr ein Zurück, also losgeschossen, Karl, noch recht viel Schönes und Taten, noch grosse Taten, grosse Taten irgendwelcher Art vor dem schlimmen Ende.

Ob ich dem Berg gewachsen sein werde, und vor allem den Kameraden? Solch ein Prachtskerl wie Maxwell oder Franzi möchte ich werden! Warum hat mein Schicksal mich diese Freunde nicht früher finden lassen? Warum erst jetzt, da mein Leben vielleicht schon verspielt und verpfuscht ist? Diesen 22 Maxwell, diesen jungen Australier, der, erst im dritten Semester, als Bergsteiger schon ebenso berühmt ist wie ein alter Zermatterführer! Diesen lustigen, ewig frischen, übermütigen Franz Obexer, den seine Klubbrüder kurzweg Overreckt nannten! Diese Kameraden gefielen mir. Das waren nicht Bier-studenten in unserm Schweizersinn. Sie hatten etwas von der weitern Welt an sich, waren menschliche Götter, standen himmelhoch über Ansichten und Konventionen und — jetzt war ich mit dabei!

Als vierter in der Partie ging noch ein anderer Klubaspirant mit, Hans Meier, ein dünner, eher zarter Mensch, im Wettstreit mit ihm würde ich nun um das Recht, in den Klub aufgenommen zu werden, ringen.

Runde, friedliche Wolken zogen sanft am Monde vorbei, warfen dunkle Schatten in den engen Talspalt des Sandbaches, wo wir heiss vor Anstrengung durch die geheimnisvolle Nacht, durch Wald und über holprige Lawinenschneekegel vorwärts und hinauf drangen, einer märchenhaften, für mich heiligen Welt entgegen.

Lieder im Herzen und klein wie eine Ameise vor dem riesigen Berg gab ich mein Bestes, um Schritt zu halten, mir schien, der Mond, das liebe, nützliche Licht am Himmel, schaue mir allein zu.

Nacht war 's und doch hell wie am Tag, verlassen schlummerte das einsame, wilde Tal, über turmhohen Wänden hingen steile Lawinenschneehänge, im Mondlicht blinkend, geisterhaft schimmernd und drohend wie gezückte Fall-messer.

Der Sandbach rauschte, irgendwo ganz im Schnee verloren, hie und da klirrte irgendwo Eis auf Eis, rastlos und dampfend wie Rosse kletterten wir kleine Menschlein zwischen grossen Bergen empor.

Maxwell, der Engländer, lenkte unsern Zug, gab kurze Kommandorufe ab in Deutsch aus dem Englischen, ebenso ruhig wie klar und doch von bangen Ahnungen erfüllt. Ich schwitzte, ich staunte, ich musste für kurze Sekunden an die Unsicherheiten meines merkwürdigen Lebens denken.

Dann wurde unser Schneeweg steiler. Während unten über die Brocken-haufen gefallener Lawinen die Ski getragen wurden, schnallten wir jetzt an. Die Nordwand des Tödi stand schwarz vor dem Himmel. Die erste Steilstufe zur Sandalp wird in steinhartem Schnee mit geschulterten Ski keuchend bewältigt, um so steiler türmt sich gleich darauf der obere Sandalphang auf.

Wolken zogen unaufhaltsam am Mond vorbei, an die Unwiederbringlich-keit der Zeit erinnernd und an Ewigkeit.

Ich lachte keuchend: wenn mein guter Vater mich jetzt sähe! Mitten in der Nacht, tief im Winter, ohne Führer, und schliesslich morgens um drei erreichten wir die Fridolinshütte, kochten Tee, kauten trockenes Brot, legten uns endlich müde nieder und schliefen tief und schwer bis weit in den neuen Morgen.

« Gut, dass es für heute zu spät ist! » dachte ich, vor die Hütte in die glitzernde Sonnenpracht tretend. Nicht dass ich müde wäre, aber der Tödi ist ein hoher Berg im Winter.

Jetzt reibt der Australier sich den Schlaf aus den Augen: « Was für ein feiner Tag! 0verreckt, schau! » « Wir wollen ihn benützen, den schönen Tag, wenn wir den Gipfel heute auch nicht erreichen, so können wir wenigstens rekognoszieren für morgen! » « Und übrigens, wer weiss, mit Ski geht 's manchmal schnell! » Fieberhaft wird nach kurzem Frühstück gerüstet. Zwei Säcke, etwas Proviant, die Steigeisen nicht vergessen! « Beide Seile, ja! Hat jeder seinen Pickel? » Zehn Minuten vor Mittag geht 's los.

Vorläufig wurde das ein schöner Spaziergang, bald begannen wir aber auf den Gletscher hinauszusteuern und mussten auf einmal durch ganze Systeme tiefverschneiter Spalten lavieren.

Wir gingen an zwei Seilen. Jeder der beiden bewährten Akademiker hatte einen Kandidaten der hohen Bergkunst, einen stud. mont ., wie wir uns damals gern und stolz nannten, am Seil, Maxwell den Meier. Ich bin mit Overreckt zusammengebunden.

An der Sonne ist 's warm, in den Schattenlöchern hockt grimmige Kälte.

Der untere Eisfall des Gletschers neben der Grünhornhütte bot keinerlei ernstliche Schwierigkeiten, nur etwas langsam ging 's vorwärts, etwas gar langsam hinauf und hinab, durch tiefe, pulverschneeerfüllte Eistälchen, über Eistürme und Zacken, die Rücken und Kanten zwischen den Spalten sind vom Wind abgeblasen und hart wie Stein.

« Ob der Sommerweg über die obere Hütte nicht besser wäre? » fragt Franzi.

« Im Winter bietet der Gletscher die beste Route! » findet Max; und er muss es wissen.

Jetzt öffnet sich rechts der Blick in die Schneerunse, die, angefüllt mit Lawinentrümmern, vom Tödigipfel herniederzieht. Gelbe Wände hängen von allen Seiten auf sie herein: « In der Tat, wäre das nicht gerade ein Weg für Ski! » « Schön, » denke ich, « dass wir ganz auf dem Gletscher draussen bleiben, da fällt uns wenigstens nichts auf den Kopf. » Je mehr wir uns dem obern Eisfall nähern, um so schwerer türmt die Barrikade sich auf. Eiszacken, an denen sich das Sonnenlicht in Bänder zerfetzt, starren phantastisch über unsern Köpfen in den tiefblauen Himmel, die Sonnenkugel geht unter, geht wieder auf. « Etwas mehr nach links hinaus, damit kein Gletscherabfall uns trifft », kommandiert Max. Und nun stehen wir dicht am Fuss des Eisbrockengetümmels. « Hier also soll ich hinauf! » Der Engländer hackt mit wuchtigen Schlägen. Das Wintereis ist spröd, Schollen wie Austernschalen brechen aus, schüsseiförmige Vertiefungen entstehen statt Stufen. Zwanzig Meter hoch ist diese erste Eiswand, nicht völlig senkrecht, aber hart und glatt wie ein Porzellankrug.

« Um nicht Zeit zu verlieren, » ruft Maxwell, « haueich kleine Tritte, nachher seile ich euch herauf! » Wir stehen und warten kaltwerdend im Pulverschnee, Max schafft und arbeitet, jetzt ist er fast oben und jetzt — fällt er wieder herab.

« Ich will es weiter links versuchen! » knirscht er durch die Zähne, und arbeitet von neuem, Max ist ein berühmter Kletterer, aber eine Katze ist er eigentlich nicht. Niemand begreift, wie er an dieser glasharten Wand ohne die geringste fremde Hilfe hinaufkommt.

Skipaar um Skipaar seilt Max empor, Sack um Sack, Mensch um Mensch. Endlich stehen alle oben. Weiter!

« Wir wollen die Ski noch eine Strecke weit tragen! » Das Eis ist immer noch steil und kaum überschneit; grosse Schrunde zwingen zum Lavieren, drängen uns bis in die Mitte des Eisstromes hinaus. Endlich wird der Gletscher sanft, der Schnee tiefer, der Eisfall- und Gletscherspaltenspektakel hört auf.

« Jetzt schaut da! » denke ich laut, « dort oben neben dem Bifertengipfel — wer schaut uns zuDer Mond! » Ja, viel Arbeit, viel Zeit! Abend ist es inzwischen geworden, wir sind noch keinen Schritt höher als der Frühstücksplatz, wo die Tur eigentlich erst beginnt. Abendlich kalt und schattig sind alle Klüfte geworden, und von der drückend steilen Wand des Bifertenstockes ist der letzte Sonnenstrahl weg. Aber niemand braucht diesen schönen Mondabend ernster zu nehmen als einen Schlechtwettermorgen. Den Mond als Helfer und Begleiter kennen wir bereits, und ringsum, soweit unser Blick in dem engen Gletscherzirkus reichte, war der Himmel klar und ohne die Spur einer Wolke. Windstill war 's, nicht das kürzeste Stückchen Grat « rauchte », verriet Wind und damit eine gefährliche Unbeständigkeit des Wetters.

Ob nicht dennoch jeder von uns wusste, dass Umkehren das einzig Richtige sei! War es an uns jungen Unerfahrenen, klein beizugeben? Lag das Kommando zur Umkehr bei Max und Franz? Geht man abends sieben, geht man in einer Winternacht auf den TödiWährend wir, im Schnee sitzend, bei einem Mundvoll Brot und Schokolade neue Kräfte sammelten, hoffte ich ebenso freudig, wie es mir graute, weiterzugehen. Einladend streute der Mond sein verlockendes Licht über alle Höhen, und als wir uns jetzt, ganz selbstverständlich, und ohne dass einer ein Wort verlor, wieder aufwärts in Bewegung setzten, waren wir nicht mehr nur vier, sondern jeden begleitete als treuer Kamerad sein kurzer, koboldischer Schatten.

In zähem Gleichmass, Ski vor Ski, kamen wir unbegreiflich langsam höher und, wie im Traum trotz brennendem Wunsch mit unerklärlichen Widerständen kämpfend, einer fremden Glitzerwelt langsam näher. Weiss lief unser Hang zur Spitze in den dunklen Himmel aus, das weisse Mondlicht lockte, betäubte, täuschte, half, und die letzten irdischen Begriffe gingen bald verloren.

Bang ahnte ich etwas Furchtbares in unserer Langsamkeit. Der Berg schien mir verdächtig. « Vom Eisfall bis zum Gipfel kann 's doch keine Ewigkeit sein, » fand ich, « aber es ist ja gleich! » War das alles Absicht, war das der Kniff, den das Schicksal anwandte, uns mit Mondpracht zu bezaubern? Oder war der Schnee tief und die Fahrt wirklich hart? Lähmte die Grosse des Berges unsere jugendliche Zuversicht? So dass wir nicht einmal dem mehr trauten, was wir doch mit inniger Hingebung taten?

Erst der schwarze Spalt der Randkluft kurz unterm Gipfel, der uns, mit Steigeisen statt Ski unter den Füssen, auf den Südgrat drängte, zerriss den Nachtspuk. Derb und brutal dämmerte Wirklichkeit. Wind sprang auf, es wurde beissend kalt. Overreckt, mitten in der Turnerei über eine zweifelhafte Schneebrücke der Randkluft begriffen, fand es nötig den Rock anzuziehen. « Elf Uhr! » rufter,«Härrgott! » Ein Klirren und das leuchtende Zifferblatt verschwindet im Schrund.

Der Tödigipfelgrat ist auch bei Nacht begehbar. Unangenehm wurde nur der Wind; denn bevor wir den Schneealtan des Gipfels erreichten, wurde dieser Wind zum Orkan.

« Wohin sieht man jetzt von da oben? » dachte ich und trat an den Rand der Wächte. Puh, Wolken und Wolken! Jetzt sieht man nicht einmal den Claridenpass und — wo sind nur die vielen bekannten Berge? Doch, dort: wie Haifischrückenflossen ragen im Westen zwei dunkle Dreiecke aus dem Wolkenmeer heraus, Düssistock und Cambriales! Puh, Mitternacht auf dem Tödi!

Der Himmel, wie aus einem Guss, lastet schwer über der Welt, und der Blick der Menschen, scheu im Geisterlicht dieser schwindelnden Höhe, sinkt schwer wie Blei in die düstere, grausige Tiefe...

Während wir sorgsam Schritt um Schritt wortlos zum Abstieg fügen, brodelt bei schärfstem Südwest ringsum ein Wolkenmeer, noch liegt unser Gletscherkessel übernatürlich hell und wie festlich beleuchtet im Mondschein zu unsern Füssen, noch ist unser Rückweg frei, aber bevor wir den Bergschrund hinter uns haben, beginnt die Wolkensündflut, wie ein Strom durch Schleusen brandend über Bündner Tödi und Urlaun herüberzuschlagen, und der Sturm verdoppelt im Herunterfallen in den engen Schlund des Bifertengletschers Wucht und Geschwindigkeit, als fürchte er, zu spät zu kommen, um uns armen Opfern den Heimweg abzuschneiden.

Noch ist die Nacht hell wie der Tag, aber wie wir jetzt etwa um ein Uhr früh mit grimmig entschlossenem Mut kaum dreihundert Meter unterm Gipfel ins Bassin des Bifertengletschers, ins nächtliche Wolkentreiben eintauchen, fällt 's grausam über uns her. Ozeanwellen von Staubschnee und Wolken hüllen uns ein, jedes Sehvermögen erlischt, brüllend schlägt Sturm von der Gliemspforte, von der Bifertenlücke, vom ganzen Urlaungrat auf uns herab, wie mit nassen Peitschen geschlagen schmerzt das Gesicht, orangerot, gelb wie bengalisches Licht, rot wie Widerschein von Feuersbrunst leuchtet für ein paar letzte Minuten der Mond durch den wirbelnden Rauch.

Noch vermag ich, gebückt durch den Sturm kriechend, schnüffelnd wie ein Jagdhund die Aufstiegsspur zu erraten. « Das Seil gut gestreckt! » Die Gletscherspalten kann man nicht einmal mehr ahnen! « He da! Aufgepasst! » « Sind wir auf der Spur? » fragt 's von hinten.

« Nur zu und möglichst rasch, möglichst tief hinunter! » Skifahren am Seil ist bei Tag schon ein Kunststück, das nicht jedermann fertigbringt. Mit sturmblinden Augen, in tosendem Orkan, nachts, auf dem Gletscher ist die Grenze des Menschenmöglichen bald erreicht. Hup, hup hüpft 's davon ins Bodenlose, du hast die Bauchmuskeln steinhart gespannt zum Stösse parieren, ein Ruck durch das Seil und — schon liegst du im Schnee.

« Auf, auf und hinunter! » « Halt, halt! Wo sind die zwei andern? Warten! » ruft 0verreckt. « Wir wollen zusammenbleiben, alle vier einander helfen! » Wir schnaufen und warten.

Der Hintermann am zweiten Seil, beim Aufstieg schon erschöpft, ist völlig zusammengebrochen. Von Skikünsten keine Spur mehr. Der Australier schleift ihn wie am Lasso durch den Schnee.

Jetzt ahnt man, dass die beiden aufgeschlossen in der Nähe sind. Sehen kann man sie nicht. « Weiter! » Es beginnt steiler zu werden. « Wahnsinnig, » denke ich, « in diesen Eishängen skifahren zu wollen! » Wir müssen schon nahe dem obern Rand des Abbruches sein... « Aufpassen! Gestrecktes Seil! Vorsicht! » Mit kleinen Tritten schräg vorwärts und abwärts kantend, fühle ich einen Ski in der Luft... « Achtung, Schrund! » Jetzt stürmt der Australier gewaltsam heran, brüllt gute Räte in den Wind, der die Worte an die Bifertenwand hinüberschmeisst, wo sie ohnmächtig zerschellen.

« Was brüllst du, Max? » « Deckung vor dem Sturm suchen in einem Schrund! » kommandiert auf einmal klar hörbar die eiserne englische Stimme von hinten. Ich stolpere vor, falle rückwärts, stehe auf, falle wieder. Ich versuche gehorsam zu tun, was man mir befiehlt, aber umsonst: « Max, willst nicht du vorangehen? Es tut mir leid, ich weiss beim besten Willen nicht, wie man das macht — Deckung suchen in einem Schrund! » Fahl, gelb, grünlich zieht eine Welle Mondlicht durch die brodelnde Wolkennacht, meine Sinne verwirrend. Maxwell, den erstarrten, gestrau-chelten Kandidaten als Bremsklotz hintendrein schleifend, bewegt sich als gespenstische Silhouette etwa sechs Meter vor mir und etwas tiefer, schattenhaft verzerrt im trüben Schein der dunstigen Nacht und — was ist jetzt nur das«Ich kann den Max nicht mehr sehen! » will ich rufen, « verdammt, blendet einen dieser dumme Sturm! » Ich versuche nochmals zu schauen, reisse die Augen von neuem auf... « Herrgott, der Max ist wirklich verschwunden !» « Meier, Seil halten! » brülle ich laut, stürze mit einem Satz auf den Maroden, ergreife sein Seil.

Max ist in eine Spalte gefallen. Unsichtbar hängt er im Schrund. Kein Zoll ist mehr von dem schönen Engländer zu sehen.

Nach einer Weile, was passiert da Merkwürdiges vor mir? Wie eine Hand aus dem Grab ragt plötzlich ein einzelner Ski in die Nacht herauf, zappelt hin und her, fliegt in die Luft, ein zweiter folgt und — fällt mit dem ersten zurück.

Overreckt, mein Seilkamerad, hat unterdessen begonnen, sich loszu-knüpfen, es gelingt ihm nur langsam, mit erstarrten Händen den Knoten zu lösen, aber nun bewegt er sich, unangeseilt — welch herrlicher Mut!—, das Seil, das an mir befestigt ist, lose in der Hand haltend, auf die Spalte zu, die Max verschlang, vorsichtig bis dicht an deren Rand schleichend. Und jetzt schleudert er mit sicherm Wurf dem Maxwell, der immer noch unsichtbar im Schrund hängt, mein Seilende zu, ein Rucksack fliegt wie aus der Unterwelt herauf, fällt zurück, verschwindet für immer. Nichts bewegt sich mehr da vorne, nur Overreckt kauert im Schnee, und niemand würde ahnen, dass dort im tollen Wolkentreiben, unterm Boden, unterm Schnee, ganz im Eis drinnen immer noch ein lebendes Menschenherz schlägt...

Aber der zähe Australier im Schrund denkt trotz der abscheulichen Kälte, und trotzdem das Seil und der Sturm ihm den Atem verschnüren, noch lange nicht ans Kapitulieren. Er hat inzwischen das Seilende, das Franzi ihm zuwarf, ein paarmal um einen Arm geschlungen und hängt jetzt wenigstens statt nur an einem an zwei starken, dicken Bergseilen. Und jetzt ruft Overreckt deutlich: « Ziehen! » « Höh, Ruck! » Der englische Kopf taucht neben Obexer auf... « Höh, Ruck! höh, Ruck !»... Max will bei aller Anstrengung nicht über den Rand der Spalte herauf. Der Schnee ist weich. Die Seile schneiden ein. Unsere Kräfte erlahmen. Gut, dass er wenigstens nicht völlig in den Schrund zurücksinkt.

« Der Max muss vor allem heraus! » denke ich jetzt. Meine Handschuhe sind steinhart vereist. Ich streife sie ab. So kann ich ordentlich ziehen, und eine Viertelstunde nachdem er verschwunden, liegt der Australier keuchend und schnaufend neben uns.

« So... und jetzt weiter bitte, wir sind noch nicht zu Hause. In der Fridolinshütte wird 's behaglicher sein zum Ausruhen! » « Aber Vorsicht! » Der Gletscher ist hier ungemütlich steil. Und eisig! Kaum eine schäbige Kruste Schnee klebt auf dem Eis. Franzi geht jetzt voraus.

« Hast du die Spur? » « Nein! » « Sie muss hier deutlich sein. Stufen im Eis kann der stärkste Sturm nicht verwehen! » « Es geht nicht! » Maxwell versucht 's und—gibt auf: « Wir müssen den Morgen abwarten! » « Hier wird 's uns töten! » murmle ich.

Glücklicherweise haben wir unsere Pickel. An dachjähem Eishang über dem Gletscherabbruch beginnen wir mühsam uns einzugraben. Eine hori- zontale Furche wird ins Eis geschnitten, langsam verbreitert, bergwärts ist sie nach einer halben Stunde schon einen Fuss tief.

« Jetzt grab du ein wenig, von Allmen! » keucht Franzi erschöpft mich an. Ich will es versuchen, denke ich, herrjeh, und merke plötzlich, dass ich den Pickel nicht halten kann! Zum Teufel! meine Hände sind starr. Die Handschuhe, die ich ausziehen musste, gingen längst im Sturm verloren.

Ich schwinge die Arme, reibe die Hände mit Schnee; das strengt an, tut weh und — hilft nichts! Ich kreuze die Arme über der Brust, strecke die Hände in den Kittel unter die Achseln. Aber jetzt zwickt mich der Sturm ins Gesicht, dass ich beinahe ersticke.

Noch ein wenig länger muss das Biwakplätzchen werden! Einer hackt, die andern warten. « Wer den Kopf in die Furche dicht ans Eis streckt, kann, für Minuten vor dem Sturm gedeckt, ordentlich atmen! » Endlich ist unser Einschnitt drei Meter lang, bergwärts fast einen halben Meter tief, einen Spreizschritt breit ist das Plätzchen fast eben, für bescheidene Ansprüche nicht nur ein Obdach, sondern für die, die zu unterst liegen, zeitweise sogar fast windstill.

Max, als praktischer Mann und Engländer, ist unterdessen Kopf voran in meinem Rucksack verschwunden, nur vom Bauch abwärts sichtbar, verschlüpft sich jetzt wie ein Maulwurf in die Rinne, sein halbtoter Seilkamerad daneben, Overreckt und ich oben drauf.

« Ich habe einen guten Grund, mein Leben nicht mehr sehr ernst zu nehmen, » denke ich, « ich will wenigstens zeigen, dass ich mutig bin! Ein wenig Mühe, nicht kaput zu gehen, will zwar auch ich mir geben, aber ein Plätzchen mehr nach aussen und dem Sturm ausgesetzt genügt für mich! » Schlotternd, die Arme vor den Gesichtern verschränkt, liegen vier Körper in pechschwarzer Nacht am blanken Eishang, Sturm heult, Orkan saust. Wollte man seine Hände in den Taschen bergen, waren diese zugefroren und voll Eis, und schützte man nicht in erster Linie seinen Kopf mit Hilfe der Ärmel, peitschte eiskörnerbeladener Sturm einem ins Gesicht, dass man erstickte. Grimmig drohte Sterben und Verderben! Seid ihr bereit«Eigentlich sollte ich noch weiterleben, eigentlich hätte ich noch allerlei wieder gutzumachen, abzuwarten, aber — meinetwegen zugrunde gehn! Und doch: nein! » « Redet, Kameraden, rührt Euch! » brüllte Overreckt in den Sturm, « nicht schlafen, schlafen ist Tod! » Meine Hände waren ohne Empfinden. Da war nichts mehr zu machen. Ich versuchte es nochmals mit Fingerübungen. Die Gelenke versagten vollkommen. « Schlimmstenfalls werde ich wenigstens frei vom Militärdienst! » Wenn wir ganz einschlafen? Erfrieren! Wird man uns im Sommer finden? Keine grosse Wahrscheinlichkeit. Der Gletscher wird uns behalten. Wie Steine werden wir in ihm versinken und unsere Zukunft, unser Geheimnis, unsere — Schuld mit uns.

Unvermindert brüllt der Sturm. Eng an das Eis geschmiegt, riskiert man doch fortgerissen, in Nacht und Tiefe geschleudert zu werden. Manchmal stöhnt einer von uns wie ein unbekanntes, verwundetes Tier... Unerträglich wird die ganze Muskulatur durch das krampfhafte Zittern geschwächt, die Lungen schnaufen trotz dem untätigen Liegen hart. Eisgepanzert von unten bis oben, die Augenlider zugefroren, Eiszapfen in den Haaren, blind und halb ohnmächtig dem Sturm ausgeliefert, und doch noch nicht tot!...

« Das Schlottern und Zähneklappern », denke ich, « wärmt. Vielleicht hat die gute Mutter Natur dieses Beben und Zittern zur Vorsehung erfunden, damit Menschen in Sturm und Nacht um eine Stunde oder zwei später erst erfrieren. » Selig hat einer sich ergeben, schläft mit langen Atemzügen. « He, aufpassen, du dort irgendwo in der Nacht! » Ein anderer brüllt von Zeit zu Zeit: « Mut, ausharren, alles hat schliesslich ein Ende! » «... sogar das Leben! » Wenn es sein muss, ist sterben nicht schwerer als leben. Alles Schlafen ist wie Erlösung. Schlafen ist angenehmer, als gegen den Sturm sich wehren müssen und trotzen.

Alle liegen wir ruhig, keiner redet, keiner rührt sich. Auf einmal ahne ich wieder, was uns bedroht, « he, auf Kameraden! » Mit Gewalt kratze ich das Eis aus den Augen, reisse die Lider wieder auf, um sie vor Schmerzen sofort wieder zu schliessen. Sehen kann man übrigens nichts.

Nochmals ein Versuch! Phosphorgelbes Licht, das blendet. Eine Helle wie in elektrisch erleuchtetem Saal, und trotzdem nichts zu sehen. Ich ergebe mich in die Nacht.

Nach einer Weile konstatiere ich, dass wir alle schlafen. « Herrgott, Kameraden, lebt auch ihr noch? » Jetzt wird 's ringsum ruhiger. Eintönig saust nur der Sturm; das Sausen wird zur Musik, verliert sich leiser werdend wie in unermesslicher Ferne...

Was ist los, wo bin ich? Wie lustig, man kann wieder sehen! Der Sturm scheint nachgelassen zu haben. « He, du schöner Prachtsaustralier, he, Max, kriech heraus aus dem Rucksack, es ist Tag geworden, durch den fallenden Schnee sind undeutlich und verschwommen Felsen zu sehen! » « Das ist die gelbe Wand! » Wir sind also richtig gegangen! Dort, etwas weiter links, unsere Stufen. Kerbe an Kerbe im glatten Eis, wo kein Schnee haften bleibt. Tritt um Tritt am glatten Hang, bis die Spur plötzlich unsichtbar werdend abbricht. « Dort ist die Steilstufe! Dort müssen wir hinunter! » Es mag etwa acht Uhr morgens sein oder neun, niemand weiss etwas Genaues, keiner hat eine Uhr, jedenfalls ist es nicht mehr Nacht, sondern Tag.

« Los! » kommandiert die englische Stimme.

« Ich kann nicht, » stöhnt Meier, « meine Füsse! » « Du musst! » Hop! fort! Es ist Zeit. Eine letzte bange Minute gönnt uns der Sturm zum Entweichen, ehe er von neuem einsetzt.

Die Ski bleiben zurück. Einer, mit Mühe senkrecht in einen Eisriss gesteckt, zeichnet wie ein Grabmal den Ort. « Fort! Es gilt das Leben! » Wir kleben in schlechtem Stand über dem Abbruch, marsch, marsch! Meine Hände sind tot, Meiers Füsse sind tot! Max und Overreckt können notdürftig mit dem Seil manöverieren. Ich bin der erste, der hinunter soll, schiesse hop, hop über das holprige Eis, angebunden ans Seil, das ungebremst durch vier erstarrte Hände läuft:

« Gut so! » rufe ich hinauf, den Hintern zerschlagen, bis an den Bauch in einem Schneeloch.

Meier wird hinuntergeworfen, Max folgt durch Overreckt hinunterlanciert, keiner ist ernstlich verletzt, und schliesslich legt Franzi das doppelte Seil, das wir unten durch sechs tote Hände gehen lassen, um einen vorspringenden Eisblock und — fällt auch zu uns herab.

Der Gletscher ist jetzt flacher, die reinste Promenade, hätten wir unsere Ski nicht zurücklassen müssen, kämen wir ordentlich vorwärts. So aber, zu Fuss bei dem tiefen Schnee, gelingt es nur schwer. Neuverschneite Spalten drohen allenthalben mit halbversteckten Mäulern. « Achtung! Aufpassen, bei dem heruntergekommenen Zustand, in dem wir uns befinden, könnte keiner einen Kameraden, der in eine Spalte einbricht, halten.

Der Schneefall nimmt wieder zu. Wind springt auf. Der kurze Abstieg von hundert Meter hat uns ungebührlich hergenommen. Wir stehen und beraten.

« Heda, hat keiner den Mut und die Lust, sich durch den Sturm den Gletscher hinab nach Hause zu finden? » « Es geht nicht! Es ist zum Ersticken! » Maxwell versucht 's nochmals, taumelt wie betrunken, weiss nicht, soll er rechts oder links: « damned! » Wohl oder übel rüsten wir morgens neun zum zweiten Biwak. Mit einem Ski, den Franzi für diese Zwecke mitgerettet hat, graben wir uns eine Höhle, der nichts zur Gemütlichkeit fehlt als das Dach, schaffen in dem tiefen, weichen Schnee ein prachtvoll regelmässiges Grab aus, einen Meter tief, hätten wir ein Zelttuch oben drauf, wär 's sogar eine Hütte, und nun liegen wir, einer neben dem andern, wie von Freundeshand gebettete Leichen im Vierplätzergrab und — schlafen. Es schneit jetzt massig in grossen Flocken, und keiner will etwas anderes mehr als schlafen. Es sieht so friedlich aus: vier gute Kameraden im weissen Bett, es schneit, es schneit, der Wind vermag uns in diesem Bett nicht mehr zu treffen; ohne uns etwas zu leid zu tun, singt er ununterbrochen hoch, hoch oben in den Felsen der Schneerunse am Sandtödi sein Lied...

Es ist jetzt nicht mehr sehr kalt, ein unangenehmes, feuchtes Gefühl in den Kleidern hat mich geweckt. Fast schuhtief sind wir vom Neuschnee bedeckt. Ich putze die Augen mit den Armen aus. Es ist wieder heller.

« Auf! Und um Gotteswillen hinunter zur Hütte, bevor die neue Nacht kommt! » Wir haben gut geruht, fühlen uns frischer. Das Wetter erlaubt 's, es geht, langsam zwar nur. Und abends um neun, die neue Nacht war angebrochen, betraten wir nach dreiunddreissigstündiger Abwesenheit die Fridolinshütte, vom Kopf bis zu den Füssen verglast und vereist.

« 0, ich brauche nie mehr rechtsumkehrt zu machen! Keine Kanonen mehr zu richten! » Meine Hände, schneeweiss und steinhart, klingen gegeneinander wie Porzellan gegen Glas.

« Aufpassen, dass keine Finger abbrechen! » « Aber weh tut 's merkwürdigerweise nicht! » Mehr oder weniger verwundet waren wir alle. Ich mit den verletztesten Händen machte Feuer, kochte Tee, spürte nichts. Mein Kamerad-Kandidat stöhnte mit erfrorenen Füssen die ganze Nacht. Am nächsten Abend schwenkte ich meine Wunden im blauen Sublimatwasser der Klinik.

Die drei ersten Wochen nach dem Unfall wohnte ich auf meiner Studenten-bude und ging täglich zur Wundbehandlung in das Spital. Nach dieser Zeit war das Tote wirklich tot, und man durfte herzhaft abschneiden. Links kürzte man sämtliche Finger, ritsche ratsch, um zwei Glieder, rechts aber blieb ordentlich mehr, hauptsächlich ein schönes Stück Zeigefinger samt Nagel, vielleicht damit ich 's nicht zu verdammt schwer haben solle, diese fatale Geschichte noch aufzuschreiben.

Nein, schlimm ist ja das mit den Händen an und für sich nicht. Schlimm, furchtbar, entsetzlich aber war dieses:

Das Tödi-Unfallerlebnis schob sich in der Folge vor das weit schlimmere erste Erlebnis. Krank im Spital, verschwieg ich stumm wie das Grab jenes erste Unglück, und als ich endlich das bürgerliche Krankenhaus mit geheilten Händen verliess, war soviel Abstand von dem dunklen Furchtbaren entstanden, dass keine tausend Rosse mich darauf zurückgebracht hätten...

War jenes grauenhafte Erlebnis, jener Zusammenstoss mit den finstersten Mächten der Stadt überhaupt Tatsache gewesen? Oder hatte ich vielleicht unterm Eindruck des Biwaks, in den Klauen des Todes am Tödi, schon halb unterwegs in die Verdammnis, in Todesangst vor meinem Leben des Leichtsinns erschreckend Dinge geträumt, die ich gar nie erlebte? Dunkles, Furchtbares, das ich jetzt, gleichgültig ob es Wahrheit oder Einbildung war, ein für allemal aus meinem Leben auszumerzen, auszuradieren hatte, wenn ich in der ehrbaren Welt der Bürger weiterbestehen wollte!

Jedenfalls war von nun an mein Lebenslauf endgültig bestimmt, jedenfalls fiel nun — durch meine eigene Schuldvon Tag zu Tag länger jener schwarze Schatten über das Tal meiner Jugend, in dem ich mich, mit dem Schicksal ringend, keuchend ob meiner verscherzten Zukunft, langsam und schwankend einem Ungewissen Ziel zubewegte.Hms MorgmthaJa.m Diese Erzählung bildet das 2. Kapitel eines in Bearbeitung liegenden, umfassenden Romanes « .In der Stadt » ( Beichte des Karl von Allmen ), der die Lösung zu manchen Rätseln in Morgenthalers Erlebnisbüchern bringen wird.E. J.

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