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Ludwig Rütimeyer als Gebirgsforscher

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Von Dr. Carl Schmidt ( Sektion Basel).1 )

Es ist eine durchaus naturgemäße Thatsache, daß seit alter Zeit die Männer, deren Lebensberuf es ist, in der Schweiz die Summe naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu mehren, überwältigt von der Fülle der Probleme, welche die Welt des Hochgebirges in sich schließt, mit Vorliebe den Stoff ihrer Specialuntersuchungen gerade in den Alpen suchen, daß sie ihr Bestes thun, um die Ergebnisse dieser Studien zum Gemeingut der denkenden Menschheit werden zu lassen. Den Gelehrten unserer Zeit steht in dieser Hinsicht ein reiches und fruchtbringendes Arbeitsfeld zu Gebote, indem sie ihre Bestrebungen mit denjenigen des Schweizer Alpenclub vereinigen. So treffen wir denn eine ganze Anzahl Naturforscher, auch Historiker und Linguisten, die mit ihren eigentlichen Fachstudien die Erforschung des Hochgebirges verbinden oder auch letztere als Ferienarbeit mit tiefem Verständnis kultivieren und so, als Gebirgsforscher unablässig thätig, an der Entwicklung des S.A.C. selbst innigen Anteil nehmen. An der Wiege des *S.A.C. standen mit die hervorragendsten Gelehrten der Schweiz; zu denjenigen, welche stetig bemüht x ) Bis jetzt sind schon mehrere Nekrologe von Rütimeyer erschienen. Folgende sind mir bekannt geworden:

1B. B. ( Prof. Bud. Burckhardt ). Allgemeine Schweizer Zeitung, Nr. 281, 282 und 283. 1895.

2Prof. C. Schmidt. Basler Nachrichten, 3. bis 7. Dezember 1895. Verhandlungen der schweizerischen naturforschen Gesellschaft 1895 ( mit Verzeichnis der Publikationen Rütimeyers ).

3Prof. C. Keller. Neue Zürcher Zeitung, Nr. 336, 337, 339, 341. 1895.

4H. G. St. ( Dr. Hans G. Stehlin ). Correspondenzblatt für Schweizer Ärzte, Nr. 24. 1895.

5W. His. Anatomischer Anzeiger, XI. Band, Nr. 16. 1896.

6A. H. B. ( A. Hoffmann-Burckhardt ). Alpina, Nr. 2. 1896.

Einige Abschnitte des vorliegenden Nekrologes habe ich aus meiner attera Publikation übernommen.C. Seh.

waren, die Bestrebungen des Alpenclubs mit tieferem wissenschaftlichen Gehalt zu durchdringen, zählen wir in erster Reihe Ludwig Rütimeyer.

In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wuchs in der Schweiz ein zwar auf nur wenige Namen gestelltes Geschlecht von Naturforschern heran, die in treuer Freundschaft verbunden, jeder auf seine Weise seine besondere Arbeit verfolgend, bald die höchsten Staffeln wissenschaftlichen Ruhmes erreicht hatten. Merkwürdigerweise sehen wir mehrere derselben, in ähnlichen Familientraditionen heranwachsend, durch ähnliche Jugendeindrücke auf bestimmte Bahnen gewiesen, mit ähnlichen Schwierigkeiten kämpfend ihr hohes Ziel erreichen.

In einem stillen Pfarrhause irgendwo im schönen Schweizerlande stand die Wiege dieser Männer. Ein einsichtsvoller Vater leitete die erste Entwicklung des Knaben und lehrte ihn, die Augen offen zu halten für die Dinge der Natur. Familientradition, wohl auch Mangel an genügenden Geldmitteln, ließ den Studenten auf dem Umwege über Theologie oder Medizin zu seinem Lebensberuf, dem Studium der Naturwissenschaften, zur akademischen Laufbahn gelangen.

Karl Ludwig Rütimeyer, der in Basel am 25. November 1895 im Alter von 70 Jahren und 9 Monaten starb, war wohl der letzte dieser eigenartigen Naturforschergeneration, die so große Erfolge errungen, die den Ruhm schweizerischer Naturwissenschaft in alle Welt getragen. Ludwig Rütimeyer wurde am 26. Februar 1825 in dem Dorfe Biglen im Emmenthal geboren. Sein Vater war Pfarrer und er das fünfte von acht Kindern. Bis zum 13. Jahre war der Vater sein Lehrer, dann bezog er die höhern Schulen von Bern und wurde 1843 Student der Theologie. Sehr bald jedoch vertauschte er die Theologie mit der Medizin. In der That absolvierte er dann auch im Jahre 1850 „ endlich " das medizinische Staatsexamen. Allgemeine Naturwissenschaften, Zoologie, Geologie, Botanik, hatten aber wohl sein Interesse weit mehr in Anspruch genommen als die praktische Medizin. Die Dissertation, mit welcher er die medizinische Doktorwürde erlangte, war eine heute noch sehr wertvolle, mit Karten und Gebirgszeichnungen reich ausgestattete geologische Studie „ Über das schweizerische Nummulitenterrain mit besonderer Berücksichtigung des Gebirges zwischen dem Thunersee und der Emme ". Eine ganze Woche lang übte der junge Dr. med. als Hülfsarzt in Interlaken die ärztliche Praxis aus, dann war es ihm möglich, einen längern Aufenthalt in Paris zu nehmen, wo er hauptsächlich zoologische Studien betrieb, aber doch auch noch medizinische Kliniken besuchte. Im Jahr 1852 war Rütimeyer in England und nach einem kurzen Aufenthalt in Bern bot sich eine neue Gelegenheit zum Reisen, diesmal schon im Banne äußerer Pflichten, indem er mit dem kranken Berner Patrizier Herrn von Effinger als ärztlicher Begleiter nach Neapel und Palermo ging. Durch eine Berufung als außerordentlicher Professor der vergleichenden Anatomie an die Uni- Ludwig Rütimeyer als Gebirgsfor scher.

versität Bern ( 1853 ) wurde „ die ihm stets vorschwebende Wolke, doch zur praktischen Ausübung der Medizin genötigt zu sein,^ definitiv verscheucht. " Schon 1855; kurz nach seiner Verheiratung, erhielt er einen Ruf nach Basel, zur Übernahme der neugegründeten Professur für Zoologie und vergleichende Anatomie.

Professor Dr. Ludwig Rütimeyer.

1835—1390.

Trotz mehrfacher verlockender Berufung ist Rütimeyer Basel treu geblieben. Vierzig Jahre lang nannte er Basel seine Heimat, alle diese Zeit lebte er in konsequentem, zielbewußtem Arbeiten zur Erfüllung der ihm zukommenden, von ihm selbst aber zur höchsten Intensität gesteigerten äußern Pflichten, in ununterbrochenem Schaffen im Dienste der Wissenschaft, deren Meister er geworden. Er war Professor der Zoologie r«*w*wi k und vergleichenden Anatomie geworden, ohne je eine fach Wissenschaft-liehe Arbeit auf diesem Gebiete veröffentlicht au haben, aber schon seine am- 18. Januar 1856 gehaltene Antrittsrede „ Über Form und Geschichte des Wirbeltierskelettesu zeigt uns, von welch hoher Warte aus Rtitimeyer diese Wissenschaften zu durchdringen vermochte. Die tiéfgrlindige Arbeitsweise Rtitimeyers ließ ihn das Gebiet seiner Specialforschungen beschränken auf gewisse Themata, die er durch Jahrzehnte hindurch mit eiserner Konsequenz verfolgte. Alle seine Arbeiten gehören dem Gebiet der Paläontologie und vergleichenden Osteologie an und beziehen sich mit Ausnahme der Untersuchungen über lebende und fossile Schildkröten alle auf Säugetiere. Zuerst fanden die vielen Tierreste, welche in den namentlich seit 1850 entdeckten Pfahlbauten der Schweizerseen*aufgefunden wurden, in Rtitimeyer ihren Bearbeiter. Nachdem in einer ersten Arbeit ( 1860 ) das Material det einzelnen Fundorte gesichtet worden war, gab er in einer zweiten, weit größern Studie ( 1862 ) die vollständige Naturgeschichte aller gefundenen Species der wilden und zahmen Tiere. Wir erhalten ôo ein bis ins kleinste genaues Bild der Gesamtphysiognomie der Fauna jener alten, wenn auch nicht ältesten Etappe menschlicher Geschichte in der Schweiz. Eine gesamte Fauna aus noch entlegeneren Zeiten menschlichen Daseins konnte Rtitimeyer erforschen, als erst am Salève, dann aber namentlich bèi Thayingen im Kanton Schaffhausen, sogar aus einer Zeit, die mit der großen Ausdehnung der Gletscher annähernd zusammenfällt, viele Tierüberreste zusammen mit Spuren des Menschen gefunden wurden. Die Untersuchung dieser beiden Faunen ist der Ausgangspunkt geworden für jene Arbeiten Rtitimeyers, ^die als Specialuntersuchungen eine gewaltige Lebensarbeit darstellen, in denen das Hauptgewicht seines Überreichen geistigen Vermächtnisses liegt. Indem Rütimeyer die Pfahlbau-tiere auf ihre Herkunft prüfte und ihr Verhältnis zu den lebenden Nachkommen feststellte, mußte er dazu kommen, die Geschichte ganzer Tiergruppen, gestützt auf reiches paläontologisches und tiergeographisches Material, aufzudecken. In rascher Folge erschienen in den sechziger, siebenziger und Anfang der achtziger Jahre eine Reihe umfangreicher Monographien über die Naturgeschichte der Rinder, Schweine, Pferde und Hirsche. Die letzte große Arbeit des unermüdlichen Forschers War die Monographie der eocänen Fauna von Egerkingen, deren Überreste in Form einzelner Knochen und Zähne, seltener Zahnreihen, in Bohnerzthonen eingebettet sich finden. Es gelang Rtitimeyer, 90 verschiedene Arten nachzuweisen, d.h. einen Reichtum tierischen Lebens aus jener langen Fest-landszeit unseres Landes, die zwischen der Ausdehnung der Kreide- und der Molassemeere liegt, welcher die heutige Tierwelt um vieles überragt. Nur ein charakteristisches Beispiel der Beobachtungs- und Kombination^-gäbe Rtttimeyers, auf das mich Prof. Lang in Solothurn aufmerksam machte, möchte ich erwähnen. Rtitimeyer hatte nach einer Anzahl von Bruchstücken unter den vielen Schildkröten aus dem Jurakalk von Solothurn auch ein Genus Tropidemys aufgestellt. Erst viel später kam eine ganze Rückenschale zum Vorschein, welche nun mit der zum voraus bestimmten Form genau übereinstimmt.

Wenn nun einerseits die Gründlichkeit und zähe Konsequenz, mit der Rütimeyer seine einmal in Angriff genommenen Themata verfolgte, sein schaffen von selbst in gewisse feste Bahnen lenkte, so war doch bei ihm -ein Sichverlieren in den Details der Specialuntersuchung durchaus undenkbar. Aus einer erdrückenden Fülle von Beobachtungen und von litterarischem Material wächst ein Reichtum individueller, weitausgreifender Gedanken heraus, die in unabweislicher Folgerichtigkeit zu kühnster Verallgemeinerung hinüberleiten. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht Rütimeyers Stellung zur Lehre Darwins; in erster Linie ließ er die Thatsachen sprechendie Natur war ihm heilig und Gewaltsamkeit oder Vorwitz ihr gegenüber erschien ihm als Frevelobwohl er die fortlaufend sich vollziehende Umgestaltung der Organismen, die Transmutation der Art, sehr wohl kannte, so blieb ihm doch die rein mechanische Naturerklärung Darwins, die Annahme eines Fortschrittes zum Höchsten nur durch natürliche Auslese, fremd aus tief innerlicher Überzeugung, er verzichtete aber darauf, diese seine persönlichen moralisch-philosophischen Anschauungen, ähnlich wie Oswald Heer es gethan hat, in ein scheinbar wissenschaftliches Gewand zu kleiden.

Die nicht für den Fachgenossen in erster Linie und für ihn allein geschriebenen Arbeiten Rütimeyers sind meist Gelegenheitsschriften, in denen er die Resultate seiner Forschungen in der Form darlegte, wie sie bedeutungsvoll erscheinen für den Fortschritt unseres Naturerkennens. Klassisch sind diese Schriften alle geworden, populär wohl kaum. Einige derselben mögen hier erwähnt werden: Über die Aufgabe der Naturgeschichte ( 1867 ), Über die Herkunft unserer Tierwelt ( 1867 ), Die Grenzen der Tierwelt ( 1868 ), Die Veränderung der Tierwelt seit Anwesenheit des Menschen ( 1875 ) etc.

Der Wirkungskreis, den Rütimeyer in Basel gefunden, war für die Entfaltung seiner reichen Gaben in hohem Maße günstig. Als akademischer Lehrer war sein Ansehen und Einfluß gewaltig, die Kraft und Tiefe seiner ganzen Persönlichkeit offenbarte sich dem Studenten unmittelbar und überwältigte ihn. Auch außerhalb Hörsaal und Studierstube bethätigte er sich überall, wo er seine thätige Mitwirkung als zweckdienlich erkannte. Großes leistete er für die naturhistorischen Sammlungen Basels, eine in ihrer Art einzig vollständige Sammlung für vergleichende Anatomie der Wirbeltiere ist sein ureigenes Werk. In der naturforschenden Gesellschaft Basels und der Schweiz war Rütimeyers Stellung eine dominierende, vor allem aber widmete er dem Alpenclub seine innigsten Sympathien. Wir sahen Rütimeyer heranwachsen in unmittelbarem Verkehr mit der « jgjra^o, « -r^-sT^ -s. v vGarl Schmidt, Tj draußen auf blumiger Wiese war sein Spielplatz. Als Maler 4fatur nachbilden zu können, war einst sein Jugßndtraum und unmerklich ist aus dem naiv sinnigen Naturbetrachten der ersten Jugendjahre das ernsthafte Erforschen der Natur herausgewachsen, die jugendliche Begeisterung aber über die Schönheit der Natur ist ein Grundzug seines Denkens und Empfindens geblieben « ein ganzes Leben lang. Die einzige Erholung von seinem allzu angestrengten Arbeiten waren seine Reisen, die aber wiederum nur eine Änderung in der Form seiner Arbeit i)0d$uteten* Naturschönheit zu genießen und wunderbar zu schildern, war Rtttimeyer in seltenem Maße eigen, aber sein poetisches Empfinden war getragen von denkender Betrachtung der Naturerscheinungen in ihrem ursächlichen Zusammenhang; Es war Rtitimeyer ein Bedürfnis, seine Reiseeindrücke und Beobachtungen zu formulieren und so entstanden seine Schilderungen des Meeres, der weiten Ebene, des fruchtbaren Hügellandes, des eisumpanzerten Hochgebirges: Naturgemälde, die hervorgingen aus 4em ästhetischen Genuß, den eine freiev übersichtliche Anschauung der lîàtur in allen ihren Formen bietet und aus dem Bestreben, sich Rechenschaft zu geben über all die kleinen Einzelheiten, welche die Harmonie dçs lebendigen Bildes bedingen. Es war aber Rtitimeyer nicht gegeben, die freie Natur zu sehen allein mit den Augen des tief und weitblickenden Naturfreundes, auch hier verlangte der Gelehrte sfdn Recht; die Qe-, staltung von Meeresküste, von Berg und Thal, das waren vorzugsweise die geologischen Probleme, die Rtitimeyer mit außergewöhnlicher Meisterschaft in diesen, seinen Ferienarbeiten behandelte.

Wir haben somit die Basis, auf welcher die Thätigkeit Rtttimeyers #ls „ Gebirgsforscher " ruht, kennen gelernt, der Erinnerung an seine Arbeiten in dieser Richtung mögen noch einige Worte gewidmet sein. Als Schüler, als Student der Medizin durchforschte Rtitimeyer die Berge seiner Heimat Er galt als einer der besten Kenner alpiner Flora; wie er diese botanischen Studien immer weiter gepflegt hat, zeigt der Umstand, daß er zu dem letzten Werke Osw. Heers „ Über die nivale Flora der Schweiz " ( 1884 ) wichtige Beiträge liefern konnte. Unter dem Einfluß seines Lehrers Bernhard Studer stehend, hat Rtitimeyer ein geologisches Thema zu seiner ersten wissenschaftlichen Arbeit gewählt, dieselbe enthält eine große Z$hl von Beobachtungen über die Geologie der Alpenketten nördlich des Thunersees, welche durch die neuern, von der geologischen Kommission der Schweiz herausgegebenen Arbeiten zwar ergänzt, aber kaum berichtigt zu werden brauchten. Im Jahre 1854, kurz nach Abschluß seiner Wanderjahre, hielt Rtttimeyer in Bern eine Reihe öffentlicher Vorträge: Schilderungen von Bau, Form und Farbe unseres Kontinentes auf einem Durchschnitt von England bis Sizilien. Dies Jugendwerl* Rütimeyers „ Vom Meer bis zu den Alpen " gehört zu den schönsten Naturschilderungen, die wir überhaupt besitzen, es ist heute noch in höchstem Grade lesenswert. Die stillen Kräfte, welche die Wanderung der Gesteinsmaßen, die Gestaltung des Landes bedingen, werden belauscht in ihrer unermüdlichen Thätigkeit am Meere, an den steilen Küsten Englands, an den Dünen Hollands, auf den Gipfeln unserer Berge und hinab durch unsere Thäler wieder bis zum Meere. Ich habe nirgends eine auch nur annähernd so groß angelegte Schilderung der Physiognomie unseres Landes gefunden, wie in den Kapiteln: „ Sandsteingebirge, Kalkgebirge und Kristallinische Gebirge " des vorliegenden Bucties. Während der Verfasser schon vor 50 Jahren in Beziehung auf alle Fragen der Oberflächenbildung des Landes durchaus moderne Anschauungen vertritt, lebt er in Hinsicht auf das Problem der Gebirgsbildung selbst noch vollständig in den vulkanistischen Theorien seiner Zeit. Der Alpenring um Piémont erinnert ihn an die Mündung des Vesuv.

Im Jahre 1863 wurde der Schweizer Alpenclub gegründet, wenn auch Rütimeyer an der konstituierenden Versammlung desselben in Ölten nicht teilnahm — die diesbezügliche Notiz in der von Ernst Büß verfaßten Denkschrift über die ersten 25 Jahre des Schweizer Alpenclub beruht auf einem Irrtum — so trat er doch mit allen Kräften ein für das Gedeihen des jungen Vereines. Gemeinsam mit Dr. Abraham Roth und Apotheker Lindt besorgte er die Redaktion der drei ersten Bände ( 1864—1866 ) des Jahrbuches und schrieb für diese drei ersten Bände unseres Jahrbuches eine Reihe von Beiträgen; wir finden in Band I „ Die Bevölkerung der Alpen ", „ Über Berghöhlen ", in Band II „ Gebirgszeichnungen " und in Band III „ Litteratur zur Kenntnis der Alpen ".

Sehr wertvoll für alle Zeiten ist die letztgenannte gründliche Arbeit. Ganz und gar aus der Liebe und Begeisterung für die Alpenwelt herausgewachsen ist der Aufsatz Rütimeyers über „ Die Bevölkerung der Alpen ". Damals, im Jahre 1864, hatte er seine Untersuchungen über die Tierreste der Pfahlbauten abgeschlossen: zusammen mit seinem Kollegen W. His hatte er die schweizerischen Schädelformen bearbeitet. Mit diesen neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften eigenen Schaffens verband Rütimeyer die Erinnerung an botanische Studien, die er privatim eifrigst gepflegt hatte, und so muß denn dieser anspruchlose Aufsatz Rütimeyers als ein Muster naturhistorischer Darlegung gelten. Der Inhalt der Denkweise des Verfassers enthüllt sich am besten aus seinen eigenen Worten: „ So betritt unser Fuß in Wirklichkeit bei unseren Alpenwanderungen den Schauplatz des Lebens früherer Generationen, die in den Ebenen längst unter dem Geröll e der Gegenwart, das auch uns aufnehmen wird, begraben liegen; ja man darf sagen, daß wir in um so tiefere Schichten der Vergangenheit dringen, je höher wir uns nach den Zinnen dieser Zufluchtsstätte schwindender Schöpfungen erheben ".

Ein Umstand mag hier hervorgehoben werden, der diese altern populären Darstellungen Eütimeyers besonders anziehend macht. Seine Schreib- weise ist hier einfacher, als in den spätem Schriften, die Perioden sind weniger lang, weniger überladen, er gönnt den in reicher Fülle sich ihm aufdrängenden Gedanken und Bildern noch den Raum zu freier Entwicklung, während in den spätem Abhandlungen das Verständnis erschwert wird durch den komplizierten Satzbau, welcher sein konzentriertes geistiges Schaffen in Häufung von Wenn und Aber, in einem Luxus immer neu sich aufdrängender Erwägungen und in Einschaltung eigenartigster Bilder spiegelt.

Ganz specielle Aufgaben im Alpenclub übernahm Rütimeyer nach zwei Richtungen. Als das Centralkomitee zum zweiten Male in Basel seinen Sitz hatte ( 1870—72 ), war er Vizepräsident desselben und verfaßte für die betreffenden Jahre die drei musterhaften Itinerarien über „ das Gotthardgebiet ", „ das Rheinwaldgebirge " und „ die Tessineralpen " ( Jahrbuch des S.A.C., VII, Vili und IX ).

Als im Jahre 1868 durch Zusammenwirken des Schweizer Alpenclub und der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft auf Antrag von Prof. Rambert der Plan gefaßt worden war, eine gründliche Vermessung des Rhonegletschers vorzunehmen, wurde Rütimeyer als einer der Vertreter des Alpenclub in die Gletscherkommission gewählt, deren Präsident er nach Desors Tode ( 1882 ) wurde. Im Jahre 1874 wurden mit Unterstützung des Eidgenössischen topographischen Bureaus die Vermessungen nach einem bestimmten Plane von Herrn Th. Goßet in Angriff genommen. Über 20 Jahre hat Rütimeyer für das Gelingen dieses mehrfach so stark gefährdeten Unternehmens gearbeitet und gekämpft. Das Interesse für die Sache suchte er durch einen im 16. Bande des Jahrbuches publizierten Aufsatz: „ Ein Blick auf die Geschichte der Gletscherstudien in der Schweiz " zu wecken und nachdem er ebenfalls im Jahre 1881 die bis zu dem Zeitpunkt erlangten Hauptresultate der Rhonegletscher-Ver-messung geschildert hatte, gab er fast Jahr für Jahr bis 1889 Bericht über den Gang der Arbeiten und im Frühjahr 1895 schrieb er die Geschichte des ganzen Unternehmens, als Einleitung zu dem großen Werke, in welchem die Resultate der seit 20 Jahren gesammelten Beobachtungen zusammengefaßt werden sollen.

Es mögen nun noch einige der Gebirgserforschung gewidmete Arbeiten Rütimeyers erwähnt werden, welche nicht direkt mit seiner Thätigkeit als Mitglied des S. A. O. zusammenhängen, in denen er streng wissenschaftliche Ziele verfolgt.

Nach Vollendung seiner Dissertation hat Rütimeyer das Gebiet jener geologischer Detailforschung, die ihn zuerst als Forscher ins Gebirge geführt hat, verlassen, wie eifrig er aber namentlich denjenigen Zweig geologischer Untersuchungen verfolgte, der in näherer Beziehung stand zu der Art seiner paläontologischen Studien, das zeigt seine im Jahre 1869 Peter Merian gewidmete Schrift „ Über Thal und Seebildung ", in welcher wir eine Wiederauflebung und Vertiefung von Beobachtungen und Gedanken finden, denen der Verfasser bereits 15 Jahre vorher in seinen Berner-Vorträgen „ Vom Meer bis zu den Alpen " Raum gegeben. Die geologische Forschung war Ende der sechziger-Jahre, einige wenige gute und viele schlechte populäre Darstellungen abgerechnet, fast ausschließlich Gelehrtenwissenschaft geworden und zwar mit Recht, galt es doch vorerst, durch mühselige Specialuntersuchungen die Basis für weitere Verallgemeinerung zu erringen. Die dem allgemeinen Verständnis näher liegenden Fragen nach der Entstehung des Reliefs der Oberfläche waren, freilich ohne vorerst namentlich unter Fachleuten weitgehendes Echo zu finden, bereits angeregt worden durch einige Schweizer, wie A. Escher v. d. Lindt, E. Desor, B. Studer, A. Favre, und Engländer, wie Ch. Lyell, A. Ramsay und Tyndall; Rütimeyer aber war es, der in seiner gedankenschweren Schrift, gestützt auf das berühmte Lyellsche Prinzip von den « Actual causes », die Lehre von der Thal- und Seebildung zuerst in feste wissenschaftliche Bahnen lenkte.

Die genetische Erklärung der geologischen Erscheinungen erschien Rütimeyer in letzter Instanz als Poesie, doch als Poesie im ernstesten Sinne des Wortes: „ nicht Erzeugnis spielender Phantasie, sondern Schöpfung der Erdgeschichte aus ihren heute noch zugänglichen Monumenten, Rekonstruktion der Vergangenheit durch besonnene Beurteilung der Gegenwart, man möchte sagen ein Besinnen des Menschen auf die Vergangenheit der materiellen Basis seines Daseins ".

Die Thäler sind keine bei der Gebirgserhebung gewaltsam aufgerissene Klüfte, es sind die Rinnen, welche das fließende Wasser allmählich sich selbst gegraben; die Seen, ein naturhistorisches Geheimnis, sind ephemere Erscheinungen, kleine Episoden in der Geschichte rasch wachsender Thäler. Der Entwurf einer Karte über die Geschichte der Flüsse und Seen in der Schweiz, die dem in Rede stehenden Werk beigegeben ist, war eine kühne That, die den „ Gesichtspunkt " des Autors eher erläutern, als eine „ faktische Erklärung " des Problems geben sollte. Eine große Summe von Fleiß und Scharfsinn ist seit 1869, wesentlich dank der Anregung durch die Schrift Rütimeyers, zur weitern Lösung dieser Fragen erfolgreich verbraucht worden; ein ähnlicher kartographischer Versuch ist aber nicht mehr gewagt worden, und wenn auch heute da und dort eine Linie anders gezogen werden müßte, das Prinzip, der Gedanke bliebe derselbe.

Bewunderungswürdig ist einerseits die vollständige Beherrschung der vielsprachigen allgemeinen Litteratur über diese geologischen Fragen und andererseits die genaueste Kenntnis der in Specialarbeiten versteckten Lokalangaben, wie beides uns in der geologischen Arbeit des Zoologen Rütimeyer entgegentritt. Nicht unerwähnt möchte ich es lassen, daß Rtitiineyer sich unbedenklich in Gegensatz stellte zu den Anschauungen seines hochverehrten Lehrers Bernhard Studer.

Oberitalien war ein Lieblingsaufenthalt RütimeyersÜber Pliocaen-und Eisperiode auf beiden Seiten der Alpenu ( 1876 ) lautet der Titel der dritten großen, speciell geologischen Arbeit Rütimeyers. Auch hier wieder ist es die Kombination ausgedehnter Litteraturkenntnis uqd weitausgreifender eigener Erfahrung, mit scharfer, zugleich sinniger Naturbetrachtung und gewaltiger Synthese, die uns entzückt und die wir bewundern, Rütimeyer kannte des genauesten die Spuren, welche die einstigen großen Gletscher auf der Nordseite der Alpen hinterließen — in seiner Monographie des Rigi ( 1877 ) schildert er die einstige Gletscher-Land-schaft am Vierwald st ättersee —, er zeichnete die zu Bergrücken sich emporwölbenden Moränen von Corno und von Ivrea. Auf der Südseite erscheint das Gletscherphänomen gewaltig, wie aus einem Guß, auf der Nordseite ist alles nach Raum und Zeit viel verwischter. Die Sonne läßt die Moräne des Gletschers wachsen und deshalb erscheinen Sahatten- uüd Sonnenseite der Alpen zur Zeit einer gewissen Phase der Eisverbreitung viel schärfer ausgesprochen gewesen zu sein, als gegenwärtig.

In den Jahren 1877 bis 1883 unternahm Rütimeyer viele Reisen, welche im wesentlichen der Materialsammlung in auswärtigen Museen für seine Studien über die Hirschfamilie galten, wobei er aber nach Möglichkeit dem Genießen und der Erforschung der freien Natur sich hingab und fast regelmäßig in der Sektion Basel des S.A.C. über seine Wanderungen berichtete. Unvergeßliche Tage und Wochen verlebte er in der Bretagne; die düstere Einsamkeit des Landes, das nie rastende, an der zernagten Küste in schäumenden Wogen sich bäumende Meer, die geheimnisvollen Oberreste von Bauwerken entschwundener Völker, das waren hier die Elemente der Landschaft, die dem innern Schauen Rütimeyers als eine Individualität sich offenbarte^ und die ihm jene Worte zuflüsterte, deren Erinnerung er 1882 seine Aula-Vorträge „ Schilderungen aus Natur und Volk der Bretagne " widmete.

Rütimeyer war nrcht eigentlicher „ Bergsteigera, sondern „ Gebirgswanderer ". So hat er von Jugend auf mit seltener Ausdauer und staunenswerter Zähigkeit, meist allein versunken in Schauen und Denken, die Gebirge durchmessen und sich eine wirklich universale Kenntnis unserer Alpen erworben. Nicht nur durch seine mannigfaltigen Arbeiten über die Natur der Gebirgswelt, sondern auch unmittelbar persönlich stand Rütimeyer dem Alpenclub nahe. Immer war er bereit, so oft der Ruf zu irgend einer persönlichen Leistung im Interesse des S.A.C. an ihn erging. Namentlich in der Sektion Basel des S.A.C., an deren Gründung er sich in wirksamster Weise beteiligt hat, wird Rütimeyers Thätigkeit nie vergessen werden; wie er in dem Kreise der Basler Alpenclubisten gelebt hat, wurde von berufenerer Feder geschildert. Ihre Dankbarkeit bezeugten sowohl der Gesamtclub als auch die Sektion Basel, indem beide ihn ( 1884 ) zum Ehrenmitglied ernannten.

So scharf und genau umgrenzt Rütimeyer sich jeweilen die Ziele seines Schaffens zu stellen pflegte, so sehr er beherrscht war von der Realität des vor ihm liegenden Objektes, so lebte doch in ihm das Drängen, sich zu erheben über den Stoff, aus dem Stoff in die höchste Gedankenwelt. Seiner scharf ausgeprägten Persönlichkeit entsprach eine Universalität der geistigen Interessen, eine Vielseitigkeit faktischen Wissens, eine Kraft und ein Reichtum philosophischen Denkens, welche wohl den Grundton seiner fachwissenschaftlichen Schriften bedingen, aber am klarsten und freiesten sich äußern, da wo er die freie Natur in ihrer erhabenen Schönheit schildert. Man fühlt es dem Schriftsteller nach, welch reichen Genuß, welches Maß reinster Freude er selbst fand in dem Schauen jenes Kreislaufes von Werden und Vergehen, den wir Leben der Natur nennen. Man gewinnt den Eindruck, als ob seine Worte nur die Äußerung des Dankes wären gegenüber der Natur, die ihn ihre Herrlichkeit sehen ließ, wie es wenigen Sterblichen vergönnt ist.

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