Joshua Tree - Zauber einer Wüste
Thomas von Burg, Grenchen
Unüberwindlich, einer Mauer gleich, wächst die Wand aus dem Wüstenboden und türmt sich in einem Zug bis zum Gipfel des Massivs empor. In ihrem oberen Drittel wird sie geprägt von einer atemraubenden Linie, die im rechten Winkel über die Kante in den blauen Himmel zielt. Ich stehe am andern Ende dieser Linie, am Einstieg, bereit zum Klettern. Seit vorgestern, meinem dritten Versuch, klettere ich regelmässig über die Schlüsselstelle hinweg, nur um kurz unter dem Ausstieg zu stürzen. Mit zunehmender Anzahl erfolgloser Versuche steigert sich das Frustrationsgefühl, wird die psychologische Barriere unüberwindlicher.
Trotz allem, noch ein letzter Versuch...
Nach zwei, drei Zügen ist die Nervosität verschwunden. Es gibt nur noch das Hier und Jetzt, meine spielerische Auseinandersetzung mit dem goldbraunen, warmen Fels.
Die letzte Rast vor der Schlüsselstelle; Arme ausschütteln, schwitzende Finger mit Magnesia trocknen, tief und ruhig durchatmen. Dann geht es los: Seitengriff links, Untergriff rechts, den rechten Fuss zuerst am kleinen Kristall anstützen und nach Griffwechsel hoch aufs Bändchen stellen. Jetzt die langsame Verschiebung des Körpers nach rechts, das Gleichgewicht wird labiler... aber im selben Moment, als der Körper zu kippen beginnt, erwischt die Rechte die Griffleiste. Die Wand wird jetzt überhängender, die Griffe etwas grösser. Beim dritten Haken nochmals die Arme schütteln, die Hände abwechslungsweise in den Magnesiabeutel tauchen. Anziehen, links hoch auf Trittchen, mit der linken Hand den Zweifinger-Seitgriff. Der Körper findet die Balance in der Horizontalen, das rechte Bein als Gegengewicht benützend. Die Rechte erwischt den Griff, einmal nachge-fasst, und ich hänge frei am Zapfen. Wieder versuche ich die schon oft ausprobierte Variante, welche bisher immer zum Sturz geführt hat, und wieder rutscht mir der Schuh vom schwarzen Nocken. Knapp kann ich mich am Zapfen auffangen. Die Unterarme beginnen zu brennen, wie eine heisse Welle überflutet mich das Gefühl des Versagens. Der Gedanke ans Aufgeben, Loslassen blitzt durch den Kopf. Das Auge schielt zu der kleinen Finger-leiste hinüber. Viel zu schmal für die schmerzenden, bald kraftlosen Unterarme, wagt die Vernunft noch einzuwerfen. Aber eine Kraft aus meinem Körper, die ich willentlich nicht Bilder 1-4: Bewegungsablauf in ( 5.12b oder 9 ) beeinflussen kann, hat die Führung übernommen. Die Finger der rechten Hand krallen sich in die Leiste, die Linke packt den Zangengriff. Nun ist der Zapfen frei für die Füsse. Schwierig noch das Aufstehen, dann neigt sich die Wand zurück, der Weg zum Gipfelplateau ist frei. Atemlos liege ich auf dem Rücken; ich bin glücklich. Die Freude am Überschreiten der eigenen Grenzen ist unbeschreiblich. Langsam ruhiger werdend, setze ich mich auf und lasse meinen Blick über die einzigartige Landschaft wandern.
Am Horizont begrenzen flache Hügelzüge die grosse Hochebene, in welcher zahllose Felsmassive wie gigantische Rossäpfel verstreut herumliegen. Getaucht in das warme Licht der kalifornischen Morgensonne, leuchten sie in gelb-rot-braunen Farbschattierungen. Dazwischen ein Meer von Joshua Trees, von welchen das Gebiet seinen Namen hat und die eigentlich gar keine Bäume, sondern Liliengewächse sind. Nebst dem allgegenwärtigen Joshua Tree findet man auch Wacholderbäume, einzelne Kiefern, Yuccas, Ocotillos sowie verschiedene Kakteen, die jetzt im Frühling blühen.
Aber auch die Fauna ist recht reichhaltig: Adler, Eulen, Jackrabbits ( Kaninchen ), Squir-rels ( hamsterähnliche Nagetiere ), Bobcats ( eine Art Luchs ), Pumas, Füchse, Koyoten, Schildkröten, Taranteln und Klapperschlangen bevölkern die Wüste; die letzten beiden kommen nur sehr selten vor, zur Beruhigung des geneigten europäischen Lesers.
Das ganze Gebiet umfasst etwa 2500 km2 bei einer Ost-West-Ausdehnung von 100 km und einer durchschnittlichen Breite von 25 km. Die mittlere Höhe über dem Meeresspiegel beträgt 1300 m, einzelne Gipfel erreichen 1700 m. Als ( National Monument ) ist das Gebiet von jeder wirtschaftlichen Nutzung ausgeschlossen. Joshua Tree gilt allgemein als Wüstenlandschaft, doch das Wort erweckt völlig falsche Vorstellungen. Einzig die Stille, diese alles durchdringende Ruhe ist die einer Wüste.
Doch zurück, zum Klettern. In den sechziger Jahren von Kletterern entdeckt, wurde Joshua Tree zu einem Trainingsgebiet zweier Kletterclubs aus Los Angeles. Bis in die frühen siebziger Jahre fristete Joshua Tree eher ein Dornröschendasein. Dann aber kam die grosse Wende: Die Tatsache, dass hier den ganzen Winter über geklettert werden kann, dass praktisch keine Anstiegswege zu bewältigen sind, hat ein paar Hartgesottene angelockt, die im winterlich verschneiten Yosemite nichts anzufangen wussten. Der Standard der Klettereien stieg nun ebenso schnell wie die Anzahl Neurouten. Dennoch vollzog sich diese Entwicklung abseits vom Hauptstrom des amerikanischen Kletterns, getragen von nur einer Handvoll einheimischer Kletterer.
Heute existieren tausend oder mehr Routen, die in allen Schwierigkeitsbereichen vielfältigste Auswahl bieten. Von Reibungsplatten über Wand-, Dach- bis hin zur Risskletterei ist alles zu haben, was das Kletterherz begehrt.
Die meisten Routen sind in ein'em hervorragenden, mit Skizzen und Photos versehenen Führer verzeichnet, der bei den Parkrangers oder in Sportgeschäften erhältlich ist.
Die Schwierigkeitsbewertung erfolgt nach einer Skala, die von F1 bis F15 reicht und etwas vom üblichen amerikanischen Dezimalsystem abweicht. So entspricht zum Beispiel ein F12 einem soliden 5.11 er, einige F13-Routen gelten als leichtere 5.12er.
Die meisten Routen sind nicht ausgerüstet, der Kletterer hat die Sicherungen selbst anzubringen. Nur wo diese Möglichkeit nicht besteht, stecken Bohrhaken. Ein Satz Friends und ein Satz Stopper sind ausreichend für den Grossteil der Routen. Einzig in den oberen Schwierigkeitsgraden sind manchmal kleine Messing- oder Stahlkeile ( RP's ) von Nutzen.
Zum Seh lu ss noch einige praktische Hinweise. Joshua Tree National Monument liegt 230 Autobahnkilometer östlich von Los Angeles. Es gibt eine ganze Anzahl Campingplätze im Monument, von denen Hidden Valley wahrscheinlich der beste für den Kletterer ist. An zweiter Stelle steht Indian Cove, ebenfalls mit vielen Klettermöglichkeiten. Alle Campgrounds sind gratis, aber ohne Wasser. Das muss man von der zwanzig Kilometer entfernten Ortschaft Joshua Tree selbst mitbringen, grosse Wasserbehälter sind von Vorteil. Klettern kann man das ganze Jahr über, die klimatisch besten Bedingungen findet man aber im Spätherbst ( Oktober, November ) und im Frühjahr ( März, April, Mai ).
Wanderer und Kletterer aller Schwierigkeitsgrade werden unvergessliche Eindrücke mit nach Hause bringen, vor allem diejenigen, die ein offenes Auge für die eigenartige Schönheit der Wüste haben. Die Faszination, die das Klettern in dieser grossartigen, ruhigen und einsamen Umgebung ausübt, wird auch mich wieder zurückkehren lassen.