Im Alleingang über die Cinque Frati (Korsika)
VON FRITZ BAUMGARTNER, BERN
VON FRITZ BAUMGARTNER, BERN Mit 2 Bildern ( 93 und 94 ) In Korsika locken zwar keine schneebedeckten Viertausender, dafür aber um so einsamere, vom Massentourismus noch kaum berührte Gebirgslandschaften. Als ich mich beimEintreffen in Korsika entschloss, das alpinistisch interessanteste Gebiet, das Cinto-Massiv, aufzusuchen, besass ich darüber keine weiteren Angaben und sachdienlichen Kenntnisse als die, dass sich daselbst der höchste Berg der Insel, der Monte Cinto, und auch der schönste Berg, der Paglia Orba, befinden sollten. Mit Hilfe der Michelin-Autokarte war es mir möglich, den Anfahrweg möglichst tief ins unwegsame Landesinnere festzulegen. Aller minutiösen Organisation abhold, überliess ich jedoch die weiteren Unternehmungen dem rein zufälligen Verlauf unbeschwerter Ferientage.
An einem warmen Septembernachmittag fahre ich mit meinem Wagen auf der engen und kurvenreichen Strasse von Albertacce nach Calasima, dem höchstgelegenen Dorf der Insel. Das in einer trostlosen Steinwüste liegende Bergdorf kommt mir vor wie das Ende der Welt: Unzählige Leute dösen vor ihren Häusern in den Tag hinein, mir das unlösbare Rätsel aufgebend, wie diese ärmliche Bergbevölkerung ihren Lebensunterhalt zu verdienen imstande sei.
Mitten im Dorfe treffe ich zwar nicht das Ende der Welt, dafür aber das Ende der Strasse an. Man ist am Zudecken eines quer durch die Strasse führenden Leitungsgrabens. Ohne Eile, verbunden mit einem gemütlichen Schwatz, geht diese Arbeit vonstatten. Obschon der Graben praktisch fertig wiedereingefüllt scheint, wird mir bekanntgegeben, dass dessen « korsische » Fertigstellung erst etwa in einer Stunde erfolge.
Ich steige aus dem Auto, um zu Fuss die vor mir liegende Wegstrecke zu besichtigen. Diese gleicht nach dem Dorfausgang mehr einem Schotterbett als einer befahrbaren Strasse, sieht aber immerhin wie ein holpriger Fahrweg aus. Nachdem die Durchfahrt freigegeben worden ist, geht es fast im Schrittempo während zehn Minuten leicht abwärts bis in die Nähe eines glasklaren Bergbaches, wo ich mein Zeltlager aufschlage.
Den nächsten Tag widme ich dem geruhsamen Zeltleben. Aber die unbekannten Berge rufen: In unmittelbarer Nähe erheben stolze Gipfel ihre granitenen Häupter zum blauen Herbsthimmel Laut einer topographischen Karte, welche ich in einem Reiseführer gefunden habe, könnte es der Grat der Cinque Frati ( zu deutsch: « Fünf Klosterbrüder » ) sein. Diese mehr schematische Karte im Massstab 1:75 000 ist jedoch nicht gerade die tauglichste Orientierungshilfe.
Frühzeitig mache ich mich am nächsten Morgen auf, um mir durch dornige Macchia-Sträucher den mühsamen Anstieg über den südlichen Gratausläufer zu den Felsen zu bahnen, Nach ungefähr einer Stunde stehe ich unterhalb der steilen Felsen, die mir die schwierige Aufgabe stellen, einen brauchbaren Weg nach oben zu finden. Auf einer « luftigen » Kanzel stehend, bin ich vorerst noch durch eine tiefe Schlucht von den himmelragenden Gipfeln getrennt. Ich versuche, dem kalten Westwind entfliehend, ostwärts einen geeigneten Abstieg in das Tobel aufzuspüren. In der Tiefe angelangt, nimmt mich der fremde Berg mit seinen Flanken endgültig gefangen. Ich steige an der mir am geeignetsten scheinenden Stelle in die Wand ein. Schmale Risse führen mich aufwärts; der abweisende Berg erfordert meine volle Aufmerksamkeit. Auf einem kleinen Gesimse stehend, suche ich krampfhaft nach einer gangbaren Route. Ich taste mich noch einige Meter nach links, längs einer nur dem Fuss Platz bietenden Leiste. Es fehlen mir nur zwei bis drei Meter Höhe bis zu einer leichteren Kletterzone. Ich unternehme einen verzweifelten Versuch nach rechts, aber es ist hoff- nungslos, ohne zuverlässige Seilsicherung hier durchzukommen. Lange kann ich in dieser abschüssigen Wandstufe nicht mehr ausharren, denn die Nervenbelastung ist zu gross. Da sitze ich schön in der Patsche! Meine Weltabgeschiedenheit kommt mir hier erst so recht zum Bewusstsein, obschon ich noch verschwommenen Lärm vom fernen Dorf her hören kann. Mein jugendlicher Übermut hat mich in diese missliche Lage gebracht. Was wird mir andres übrig bleiben, als den noch schwierigeren Abstieg anzutreten und weiter rechts einen neuen Aufstieg zu suchen. Jedenfalls gebe ich mich noch nicht endgültig geschlagen.
Erleichtert atme ich auf, als ich nach einigen Metern angespannten Abwärtskletterns einen Durchstieg nach rechts in eine überwindbare Rinne entdecke. Diese erweckt am ehesten den Anschein, müheloser in die Höhe zu leiten; meine Freude ist jedoch nur von kurzer Dauer: Das Tor zur Himmelspforte wird durch eine zum Teil überhängende Steilstufe erneut versperrt. Abermals habe ich auf exponierten Absätzen in der links von mir liegenden Wand nach einem dienlichen Durchschlupf nach oben zu fahnden. Ein bauchiger, glatter Block stellt sich mir entgegen. Und diese Stelle sollte sich als « Schlüssel » erweisen. Vorerst sehe ich mich aber gezwungen, etwas zu verschnaufen, um mir gleichzeitig die nächsten Schachzüge zum Überlisten dieser Schwalbennest-Stätte zu planen. Viele Möglichkeiten gibt es nicht, und die bergsteigerische Regel der drei Haltepunkte ist für diesmal nicht anwendbar, wenn ich überhaupt weiterkommen will. An kleinsten Unebenheiten das Gleichgewicht suchend, balanciere ich wie ein Tänzer auf hohem Seil. Völlig unerwartet finde ich zwei Mauerhaken vor. Hoffentlich weisen mir diese nun endgültig den Weg zum Gipfel - und nicht in eine verhängnisvolle Sackgasse!
Nach dieser gewaltigen körperlichen und seelischen Inanspruchnahme kommt mir die nun folgende Strecke wie ein Kinderspiel vor. Mit frischem Tatendrang und erwartungsvoll erreiche ich den Kulminationspunkt. Die Fortsetzung der Kletterpartie ist mir bereits vorgezeichnet: Abstieg in die vor mir liegende Gratscharte und neuerlicher Aufstieg auf einen zweiten markanten Turm. Angesichts meiner völligen Unkenntnis der Route nehme ich sofort den unvermeidlichen Abstieg in Angriff. Dieser gestaltet sich bei dem festen Gestein nicht sonderlich schwierig. Auch das Erklimmen des zweiten « Bruders » bietet keine zusätzlichen Klippen, doch bin ich bestrebt, äusserst vorsichtig zu klettern, da ich bei einem allfälligen Unfall wohl kaum mit Hilfe rechnen könnte.
Eine unwiderstehliche Kletterwut erfasst mich, so dass ich auf der zweiten Gratkuppe nur kurze Zeit bleibe. Wie ist es doch herrlich, ohne jegliche Verpflichtungen dem eintönigen Alltag entfliehen und auf einsame Bergeshöhen klettern zu dürfen! Wie klein und nichtig wäre doch die Welt, wenn es keine stillen Berge mehr gäbe, welche unser harrenEine längere Abseilstelle, welche ich dank meinem mitgeführten Seil mühelos hinter mich bringe, führt mich in einen furchterregenden Grateinschnitt - so kommt er mir wenigstens vor, denn beim Klettern im Alleingang wirken alle Schwierigkeiten überdimensioniert. Mancher seriöse Bergsteiger wird den Alleingänger in den Bergen, besonders in einem fremden Gebirge, nicht zurechnungsfähig und pflichtvergessen nennen; doch wird er mit mir wenigstens in der Meinung einiggehen, dass von den vielen Möglichkeiten, dem leider oft allzu geordneten Leben des Alltags zu entfliehen, die Abenteuerlust zu stillen, ein Alleingang im Gebirge wenn auch nicht die ungefährlichste, so doch auch nicht die schlechteste ist, eine bessere jedenfalls, als Ehre oder Moral « aufs Spiel » zu setzen.
Groteske Steingebilde, welche eine höchst bemerkenswerte Erosionsform des korsischen Granites darstellen, erwecken mein Interesse kurz vor dem Betreten der mittleren Spitze.
Ich finde dort einen Steinmann mit einem Gipfelbuch vor. Fieberhaft schlage ich es auf, um mich mit Eifer darin zu vertiefen. Erst jetzt ergibt sich die Bestätigung, dass ich mich auf dem mittleren Turm der Cinque Frati aufhalte. Das Buch wurde von der Schweizerischen Bergsteigerschule 14 Die Alpen- 1966 - Les Alpes209 Klosters gestiftet, welche diese Grattraversierung schon mehrmals ausgeführt hat. Sonst werden diese selten besuchten « Brüder » meistens von Deutschen, bisweilen auch von Franzosen bestiegen. Leider kann ich trotz intensiven Suchens keinen Bleistift auftreiben, so dass ich auf eine Eintragung verzichten muss. Nun, wo alle alpinistischen Probleme hinter mir zu liegen scheinen, kann ich mich der wohlverdienten Gipfelrast auf 2000 Metern Höhe widmen. Der kalte Westwind, welcher böen-artig über den Grat bläst, erinnert mich daran, dass auch auf dieser Mittelmeerinsel der Herbst eingekehrt ist. Die am frühen Nachmittag schlagartig zu erwartende dichte Wolkenschicht lässt mir aber keine Ruhe. Die Zeit drängt zum Aufbruch, wenn ich auch die zweite Hälfte der Überquerung glanzvoll beschliessen will.
Die « fünf Brüder » gebärden sich, wenigstens im Schlussakt, bedeutend freundlicher. Auf jeden Fall habe ich beim Überklettern der letzten Gratpunkte keine Extra-Aufgaben mehr zu lösen.
Fünf Stunden nach meinem Aufbruch vom Zeltlager beende ich die Traversierung der Cinque Frati von Süden nach Norden. Ich bin eigentlich eher traurig als froh, den senkrechten Felsfluchten entstiegen zu sein, denn trotz der spannenden Ungewissheit war es eine wahre Freude, in diesem festen Granit zu klettern. Nur ein unangenehmer Abstieg durch die tobelartig wilddurchfurchte, kaum eine übersichtliche Orientierung bietende südwestliche Karflanke steht mir noch bevor.
Mit Stolz kann ich am Abend vom Zeltplatz aus zu den granitenen Bergeshöhen aufschauen, und noch während der nächsten Tage weilen meine Gedanken oft bei den fünf « steinernen » Brüdern, welche mir während einiger Stunden ihre stille Gastfreundschaft gewährt haben.