Hölloch im Muotatal
Von Hugo Nünlist
Mit 5 Bildern ( 67—71 ) und 2 Skizzen ( Luzern ) Am 7. Januar 1950 begeben wir uns in Bruchharsch von Hintertal zum Hölloch ( Eingangshöhe = 740 m ). Der Winter schützt uns vor Gefahren; denn bei Schneeschmelze oder Regenwetter können sich die obern und untern Stollen unheimlich rasch mit Wasser füllen, wobei der Wildbach wie entfesselt dem Ausgang zuströmt. Man hat zwar hinter der Bösen Wand ( 1000 m 1 ) eine Sperre von Eichenbalken errichtet, um die Flut zu zähmen. Doch sind einige Trämel wie Streichhölzer geknickt und über Senken und Böschungen, deren einer sogar zur Kapelle ( 540 m ), fortgeschleppt worden.
Um 6 Uhr abends, im trüben Dämmerlicht, tauchen wir zwanzig Stunden lang unter und durcheilen bequem, soweit Zementboden und Treppen vorhanden sind, all die bekannten Orte 2: Dolomitenhalle, Rittersaal, Kamin, Gletschergarten, Kapelle und Sandhalde, wo endlich Kies und währschaftes Geröll unter den Füssen knirschen; meine Schuhe lieben gewachsenen Grund. Unter der Bösen Wand ( 920 m ) zündet man in die Finsternis hinauf. Ein plattiger Schichtbruch von dreissig Metern Höhe, der den Entdeckern schwer zu schaffen gab, lässt sich auf hundert Sprossen leicht überwinden. Oben liegen ansehnliche Blöcke von Grünsandstein. Der Wind streicht oft heftig bergeinwärts. Die Luftwärme beträgt heute fünf Grad.
Es folgen Karrenfelder zum Keller ( 1100 m ) und zur Alligatorenschlucht. Bei der Wegscheide vernimmt man deutlich Wasserrauschen aus der Seen-gruft. Ein abhaldiges Feldband, von feiner Schlammhaut bekleidet, geleitet längs des Teiches einwärts. Das Wasser ist derart ruhig und klar, dass man unvermutet den Ufersaum verpasst und hineinplatscht. Ich bin zwei Monate zuvor bis zur Brust versunken. In der « Hölle » schreibt man solche Zwischenfälle gern dem Ränkespiel des Leibhaftigen zu.
Hinter der Quelle ( 1600 m ) bildet der Gang ein Knie zu einem Weiher, der bei Hochstand auf zwei Drahtseilen überkrochen wird. Von hier an steigt der Stollen stärker. Der Boden ist immer noch ausgelaugt, wie von ver- 1 Die Zahlen beziehen sich auf die Entfernung vom Eingang, auch in den Profilen.
2 Reichhaltige Angaben enthalten: Jahrbuch SAG, 1902. « Das Hölloch im Muotatal », von Josef Otter, Sektion Uto. Ferner: « Beitrag zur Kenntnis der Höhlen in der Schweiz », Dissertation von Paul Egli, Sektion Uto, Zürich 1904.
steinerten Wellen überschäumt, und weist in der Mitte eine gewundene Rille auf. In einer Nische ( 1800 m ) sichten wir einige Tropfsteine, kümmerliche Zapfengebilde, die sich anderswo nicht entwickeln können, weil die bisherigen Gänge Wassereinbrüchen ausgesetzt, also lebendig sind.
Im Riesensaal ( 2000 m, Höhe 810 m, Luftwärme 6 Grad ) hängt seit dem Spätherbst an der Decke in einer Blechdose das Höhlenbuch, gestiftet von unserem Gefährten Hans Schluchter. In dieser schrägen, aber weiten Halle ist es seit Jahrhunderten rabenfinster. Kein Sonnenstrahl dringt in die unterirdischen Räume. Nur selten flimmert mattes Kerzenlicht und wirft einen geisterhaften Schein auf den verwitterten Schrattenkalk, oder ein Lampenschimmer zuckelt über die gelblich verblichenen Felsen. Welche Gefühle mussten jene Forscher beseelt haben, die vor fünfzig Jahren die einsame Kreuzung ohne vorbereitete Hilfsmittel erreichten und schrieben, 24 Stunden « Hölle » seien eine Leistung, die sich würdig neben schlimmste Bergfahrten stellen dürfe.
Der Plan von Paul Egli umfasst den Hauptweg zum Riesensaal und die drei Äste: Riesentunnel, Äolsgang und Faulen Dom. Sehr empfehlenswert ist die Begehung des Riesenganges. Nach jähem Abbruch wandert man auf sacht geneigter, geröllfreier Strasse abwärts. Otter äusserte sich darüber: « Wer diesen Gang nicht mit eigenen Augen gesehen hat, begreift nicht, welch überwältigenden Eindruck er hinterlässt; wie winzig klein kommen wir Zwerge uns darin vor! » Die letzte Strecke ist allerdings plattig, von Schlick überzogen, wurmübersät, schlipfrig und stotzig, doch kann der Teich am Ende des Stollens ( 2555 m ) ohne Seil besucht werden.
Um 11 Uhr nachts verlassen wir den Riesensaal, um den Äolsgang zu untersuchen, da ich hier und im Domgang Überraschungen erwarte. In diesem Gebiet müssen weitere Schläuche vorkommen, die irgendwie aufwärts-streichen und Wasserstränge herleiten. Wir vermuten steile Schächte, so dass Haken und Seile unentbehrlich scheinen. Der Gang endigt bei 2300 m ( P. 0 der neuen Pläne ), ist niedrig, aber breit und von Borkenlehm bedeckt, der zu Mehlstaub zerbricht. In einer Ecke steht in roter Schrift zu lesen: « Egli, Otter, Lüssi, 1902. » Wir liegen folglich vor dem Äolsmund ( aelos = Wind ). Dort braust ein unwirscher Luftstrom durch die Öffnung.
Es ist üblich und auch begreiflich, bestimmten Stellen Namen zu verleihen. Das regt die Einbildungskraft an und erleichtert das Sichzurecht-finden. Die angeführten Namen stammen meist aus der Entdeckerzeit und halten gewisse Eigenarten fest oder das Wesentliche. An diesen Orten ruft man einander freudig die Bezeichnung zu und ist sich eher bewusst, in dem seltsamen, verschlungenen Felsenschloss einen weitern Abschnitt erreicht zu haben. Zu beanstanden ist aber, aus Übermut oder mangelhafter Überlegung unsachliche Ausdrücke zu verwenden. Als Beispiele abstossender, verfehlter Benennung erwähnen wir: Das Neue Europa; Zimmermanns Angst; Schlacht-platz. Offensichtlich unangebrachte oder anstössige Ausdrücke sollten strikte unterlassen werden. Ist es eine Entschuldigung, dass der gleiche Fehler dutzendfach bei Gipfelbenennungen wiederholt wurde?
Bruno Baur kriecht in die linsenförmige Spalte des Mundes, wühlt sich zwischen Schwemmsand und Felsen vorwärts und fordert uns begeistert auf nachzufolgen. Hinter Hans Schluchter bleibe ich in der Mitte stecken, da das Gestein auf Rücken und Lungen drückt und mich gefangen hält. Schliesslich strebe ich nach rechts, wo sich die Lücke um einen Fingernagel geräumiger zeigt. Unter Schieben, Knorzen und Pusten gelingt es, sich im unbekannten Götterweg aufzurichten. Obwohl am liebsten hastig vorrückend, müssen wir uns mit langwierigen Aufzeichnungen gedulden: Querschnitte, Winkel und Höhen sind zu bestimmen, Strecken zu messen und Aufnahmen zu machen. Wir erhalten erneut einen Begriff von der Aufopferung der Entdecker zur Anfertigung des ursprünglichen Kartenbildes.
Vor der ersten Biegung staunen wir über einen zwei Meter langen gerillten Tropfsteinbart, der einem seitlichen Riss entquillt und wie ein Werk Michelangelos anmutet. Bei P. 3 1 zweigt ein Kriechstollen vom Hauptgang ab: die Schlange. Hier gewahren wir überrascht einen Ariadnefaden, der von vier welschen Forschern herrühren muss, die im Sommer des vergangenen Jahres hier gearbeitet haben 2.
Der Schlangengang windet sich nach Südwesten empor und zwingt zu gebückter Haltung und zum Nachschleppen der Säcke. Der Boden ist vorerst sandig, auch zu beiden Seiten der Gesteinspfeiler. Hinter P. 6 ( 2420 m ) verflacht sich der Gang eine Weile und presst sich zusammen, so dass das Schleichen unangenehm wird. Dann rafft er sich zu Meterhöhe auf und klimmt wieder hinan. Der Sohlenrand ist jetzt schwarz verkrustet, die Mitte der Schale glitschig, stets von dünner Schlammschicht verklebt und misslich, so dass der Schweiss von der Stirne perlt. Zum Verschnaufen hocken wir einfach in den Morast. Mit kindlichem Entzücken betrachten wir ein Tropfstein-wäldchen ( P. 13, 2560 m ), wo man trotz aller Vorsicht einige schlanke weisse Nadeln mit dem Rücken abstreift. Sie zerbrechen wie Glas und kollern mit metallischem Geklirr.
Nach einer Knickung vernehmen wir ein Plätschern und rutschen auf allen Vieren zu einem Tor ( P. 16, 2620 m ): Wie betäubt blicke ich in einen zehn Meter breiten und fünf Meter hohen Quergang, der von Süden nach Norden abfällt. Der Grund ist mit Trockenlehm belegt, wo Trittspuren eingeprägt sind. Schräg über uns, in der Regenhalle, klatschen Tropfen herunter und versickern sofort. Eine tiefe Rinne von einem bis zwei Meter zur Höllenpforte hinab beweist hingegen, dass gelegentlich eine kräftige Wasserader fliesst. Haben wir gehofft, endlich einen Abschluss vorzufinden, müssen wir jetzt erkennen, dass ein neues Ganggewirr noch viele Stunden hingebender Anstrengung erfordern wird. Es ist nachts 2 Uhr, und die Nahrung liegt im Riesensaal.
1 Punkt 3 bedeutet: 3 x 20 m vom Äolsmund. Entfernung vom Eingang: 2300 m + 60 m = 2360 m.
2 Unabsichtlich sind wir in ihr Forschungsgebiet geraten. Obwohl sie sich vom 16. bis 20. Januar 1950 nochmals in dieser Gegend aufhielten, kann die Erschliessung auch jetzt noch nicht als abgeschlossen gelten. Das Tätigkeitsfeld ist zu weitläufig, besonders für uns, die wir jeweils nur während einer Nacht auskundschaften. Anmarsch und Rückreise rauben zudem viel Zeit. Die von den welschen Forschern zuerst begangenen Stollen tragen auf unserer Karte nur dort Namen, wo es zum Verständnis und zur Veranschaulichung notwendig ist.
Gleichwohl weiter! Die Spritzer in der Regenhalle stören uns wenig. Blockwerk führt über einen Wulst zu einem gewaltigen Hohlbecken von mehr als zehn Meter Höhe. Das Licht erhellt die Decke nur schwach. Alles in der Runde ist feucht und modrig. Finsterer Grünsandstein ist von Teig umhüllt. Auch hier trauft Wasser laut und verwirrend herunter. Nur ein kleiner Wassertrog vermag sich zu halten. Der Rest verschwindet in den Trümmern. Am Nordrand kleben weisse Kalkmilchpolster und sondern schwammige Zapfen oder Sinterdrusen ab. Eine Dungfliege nähert sich der Kerzenflamme und versengt sich einen Flügel. Rätselhafte Geburt, eigenartiger Tod 1. Wir verbergen unsere Gefühle nicht und nennen den düstern Ort Hexenkessel ( P. 18, 2660 m ).
Mit offenkundigem Missbehagen gelangen wir im Nordosten auf eine Fluh, die Zutritt gibt zu einer Gruft, wohinein Wasser gurgelt. Unmittelbar darüber lässt sich eine Mauer etwas heikel erklettern. Der eingeklemmte Klotz, woran man sich hängt, dürfte einmal versagen. Wer hier stürzt, fällt in den Todesschlund. Oben beginnt eine herrliche Wanderung, schwach ansteigend, auf Sandgrund und unter einem Gewölbe, das nur selten zum Bücken nötigt. Die Lehmfläche ist da und dort von einem alten, geringfügigen Mäander durchfurcht. Auch hier haften Spuren, so dass wir nicht verwundert sind, bei P. 20 ( 2700 m ) einen Lagerplatz der Erstbegeher anzutreffen. Mit Wehmut werden wir uns der Unmöglichkeit bewusst, in einer einzigen Nacht das Erlebnis aller Wunderstollen auszukosten.
Es ist 3 Uhr morgens. Noch ist kein Ende abzusehen. Zu allem Überdruss zweigen südlich einige Nebenarme ab 2, während der Himmelsgang stets auf tausend Meter Höhe bleibt. Die Alphänge zwischen « Mittelster Weid » und « Gschwend » befinden sich fast fünfhundert Meter über uns, so dass ein anderer Ausschlupf immer unwahrscheinlicher wird. Es ist ausserdem ein sterbender, dem Verfall überlassener Gang, der nur in grauer Eiszeit Wasser schleuste oder durch andere Kanäle ersetzt wurde. Solang sich kein zweites Eintrittsloch finden lässt, ist man auf den Hauptgang angewiesen und dadurch auch vom Wetter und vom Höllbach abhängig.
Vorläufig freuen wir uns, über solch gnädigen, weichen Tunnelsand und Lehm stapfen zu können. Vor P. 37 ( 3040 m ) hingegen verrammelt ein dicker Kalksinterwall die ganze Gangbreite wie ein Pfropfen. Nur ein Nadelöhr bleibt offen, das den Körper kaum durchlässt. Wir beobachten einen gelinden Luftzug ostwärts. Mit knapper Not vermag ich mich durchzuzwängen. Die ausgestreckten Arme zünden mit der Taschenlampe nach vorn in dunkle Kammern, wo man wieder aufstehen kann. Der Ruf: Es geht weiter! fegt mir eine Staubwolke ins Gesicht. Zähne und Hals kratzen noch lang nachher. Ruckweise ächzen wir uns durch die enge Kluft. Obwohl kein Schmerbäuch-lein schuld ist, wird mir die Windjacke aufgerissen und eine Hosenseite von oben bis unten zerschlissen, so dass lehmverschmierte, vormals blütenweisse 1 Wegen Raummangels müssen viele Beobachtungen und Erörterungen weggelassen werden.
2 Die Nebengänge sind von den welschen Forschern vom 16. bis 20. Januar 1950 erstmals begangen worden.
Beinkleider recht schelmisch herausgucken. Aber im « Himmel » achtet man nicht mehr auf irdische Dinge.
Bei P. 48 ( 3260 m ) überschreiten wir einen auffälligen Sandhaufen. Zeitweise sind an der Decke Kristallflecken sichtbar. In einer Abzweigung ( P. 55, 3400 m ) singt ein Wässerlein eintönige Lieder. Um 5 Uhr morgens müssen wir auf P. 68 ( 3660 m, Höhe 1010 m ) aufgeben. Der Himmelsgang setzt sich nach Nordosten fort, ist niedrig und sandig. Um auszuruhen, liegen wir einfach auf den Lehmbelag. Es gelüstet uns nicht mehr, Erzengel zu spielen; als Geschöpfe von Fleisch und Blut beschäftigen wir uns immer fleissiger mit weltlichen Angelegenheiten. Durst und Müdigkeit plagen. Wer hätte geahnt, dass sich diese Gänge ins Endlose erstrecken? Wohl verfügen wir noch über Kerzen, aber nicht über Karbid. Verhältnismässig geschwind sind wir zurück im Hexenkessel und schlürfen gierig Bodenwasser aus schmutzigen Händen. In der Regenhalle sammelt Bruno wie ein Bettler einige Tropfen im zerknüllten Hut, während ich Wasser aus einer Grube sauge und der Giessbach auf den Rücken trommelt. Man darf hier nicht etwa zart-besaitet sein.
Die Zeit langt noch zum Besuch der Katakomben, die die Ausmasse eines Labyrinthes annehmen, dessen Sandhügel ebenfalls von Spuren durchwirkt sind. Ein breiter und hoher Gang, von Toren unterbrochen, taucht über einen grossen Schichtbruch ( 2800 m, Höhe 900 m ) in eine steinige, dolinen-artige Wanne, deren Gegenwand von einer unergründlichen Klamm in zwei Hälften getrennt ist. Wieder zurück im Regengang, gehen wir noch zur Höllenpforte ( 2700 m, Höhe 910 m ) und stellen einstweilen fest: Das Tobel ist wintersüber wasserleer, und Steinwürfe bestätigen eine östliche Fortsetzung, die Teufelsschlucht. Wie gelähmt starren wir in den geheimnisvollen Abgrund und empfinden es als unbegreiflich, dass das Innere eines Berges so mannigfaltig ist wie die Gipfelwelt und immer neue Fragen, die es zu beantworten gilt, aufbürdet. Wir sind ganz benommen von so viel Unerwartetem. Der Berg offenbart sich uns als wurmstichiger Apfel.
Nach elf Stunden Abwesenheit treffen wir wieder im Riesensaal ein. Nach ausgiebiger Rast und dem Besuch der Nordkammer schlittern wir um 3 Uhr nachmittags über die vereisten Treppen am Ausgang der Höhle. Die Tageshelle kommt wie eine blendende Lichtflut über uns.
Am 21. Januar 1950 dehnt sich die Fahrt auf 26 Stunden aus. Schluchter und Baur haben die Aufgabe, den Götterweg zu erschliessen. Studhalter, Fries und ich vermessen nochmals Schlangen- und Himmelsgang, da wir über zu wenig Winkelangaben verfügen. Endlich ist über einer Schwelle wieder Punkt 68 erreicht, wonach ein unaufhörliches Kriechen einsetzt und die Rucksäcke nachgezogen werden. Der Stollenboden ist nur durch eine Felsstufe gegliedert, trägt Steinsplitter oder weist einen Krustenüberwurf auf, dessen Tonplättchen zu tausend Scherben knistern. Vor P. 74 ( 3780 m, Höhe 1010 m ) trennt sich ein seifiger Sintergang nach Westen und aufwärts.
Der Himmelsgang schlängelt sich ostwärts fort. Zahlreiche Kurven verraten uns, in einem alten, toten Quellgebiet zu sein. Der Ariadnefaden läuft noch weiter, da die Forscher einen Schlafplatz als Stützpunkt hatten. Das Stollenende wird auch für sie nicht dankbar gewesen sein.
Enttäuscht wenden wir uns den Nebenästen zu, die an dürre Zweige eines Baumstammes gemahnen. Sie versanden sogleich und erfordern widriges Schleichen, dass die Knie schmerzen. Es ist unglaublich, was unter solchen Umständen eine Entfernung von zwanzig Metern bedeutet. Fast sämtliche Schläuche endigen in lehmverstopften Verstürzen. Eine erfreuliche Ausnahme machen wohl einzig die Chattière und das Burgverliess 1, das zwei Tage zuvor von den Entdeckern mit roter Farbe angeschrieben worden ist. Die Kleckse liegen noch im Sand, frisch hingegossen. Hinter dem Schlupfloch richtet man sich verwundert in einem wuchtigen Gewölbe auf, das einen jähen Schlitz zu P. 64 aussendet.
Nach weitern Forschungen in den Katakomben begeben wir uns zurück zum Götterweg, um den Gefährten zu begegnen. Um beim Warten nicht zu frösteln, gehen wir ihnen auf prächtig blanker Felsbahn zur Spinne ( P. 9, 2480 m ) entgegen. Das Seil hängt noch an einem Haken zur Gruft hinunter, wo das regelmässige Ticken fallender Wassertropfen gut vernehmbar ist. Eine Meldung hinterlassend, kehren wir zum Riesensaal zurück, wo sie uns einholen und folgendes berichten:
Die Kluftlöcher sind niedrige, verworrene Zickzackröhren, die, durch Absätze unterbrochen, unten jeweils eine andere Richtung einschlagen. Der Schlupfgang bei der Spinne endigt nach 25 Metern in einer kleinen Höhlung. Nach der Abseilstelle der Spinne führt der Gang zum Nymphenteich ( hinter P. 11, 2520 m ), den auch die welschen Forscher gesehen haben. Die Verästelungen in der Nähe des Punktes 10 sind ihnen zweifellos nicht entgangen. Hinter dem Teich jedoch beginnt endlich Neuland. Schluchter und Baur betreten jenseits P. 12 ( 2540 m ) die breite, kopfhohe SAC-Halle, wo ein Bächlein nordwärts rieselt zu einem acht Meter grossen Sockel, unter dem sich der Brei des Sumpflochs befindet ( P. c, 2580 m ). In dieser Gegend strahlen insgesamt drei Zweige aus, die noch unerforscht sind.
Südöstlich der SAC-Halle gelangen die Freunde zur Tropfsteinhalle ( P. 14, 2580 m ). Den breitern, sandigen Seitengang links lassend, wählen sie den glattgeschliffenen, nassen Hauptgang, der mit einer Menge herrlich gefärbter Stalaktiten und Stalagmiten prunkt. Die Spargeln leuchten in allen Grössen und Formen und erklingen wie Stimmgabeln verschiedener Tonlage. Es braucht eine gewisse Selbstbeherrschung, sie nicht abzubrechen und als teure Andenken oder Funde heimzunehmen. Wer je sich in diese Gefilde verirrt, den möchten wir eindringlich bitten, die zauberhaften Säulen zu schonen. Sonst würde es diesen ergehen wie Bergblumen; denn gewissenloser Raub wirkt sich genau so zerstörend aus wie auf den Farbenteppichen der Alpen. Was vernichtet ist, lässt sich auf Jahrzehnte nicht mehr zurückrufen. Diese Schatzkammer wird dereinst über unsere Gesinnung Zeugnis ablegen.
1 Ausser Ort und Name Burgverliess sind uns nur die Galerie de la Persévérance ( P. 59 ) und die Chattière bekannt ( P. 55, 3400 m ). Dort murmelt Wasser in einem Schrund.
Nach einem kurzen flachen Stück flieht der Pilatusstollen ständig aufwärts. Man kann sich darin nicht mehr erheben, obwohl er ziemlich breit bleibt. Der letzte Teil zu Punkt 24 ( 2780 m, Höhe 960 m ) ist sogar ausserordentlich stotzig, glatt und daher ermüdend zu bewältigen. Der Rücken muss sogar zum Anstemmen herhalten.
Abends 5 Uhr verlassen wir gemeinsam die lange, eigenwillige Höhle.
Am 28. Januar halten sich Josef Bühler und ich nochmals zwanzig Stunden im Hölloch auf. Es gilt diesmal der Teufelsschlucht, deren Rätsel uns keine Ruhe gönnen will. Wird die Zipfelmütze, achtzig Meter westlich des Äolsmundes, die Verbindung zur Höllenpforte ermöglichen? Dort scheint die hinterste Ecke nur in Lehm erstickt zu sein, der sich mit einer Schaufel ausgraben Hesse. Wir müssen aber aufgeben, als der Hammerschlag recht gesunde Felszacken verrät.
Um Mitternacht stehen wir wieder über der Höllenpforte ( P. 20 ', 2700 m ). Ein Seil lässt sich an einem geschützten Felsbrocken befestigen. Nachdem die Schärfe einer Kante gebrochen ist, steige ich in Trittschlingen auf ein Dach hinab. Als es von störendem Geschiebe befreit ist, wird ein Haken mit Ach und Krach in eine seichte Falte getrieben. Er lenkt das Seil ab und gestattet, auf einem Vorbau abwärtszuklettern. Inmitten der Finsternis und des unzulänglichen Lichts ist alles so misslich, dass man manches umständlich, ja einfältig anstellt. Unten gewahre ich Möglichkeiten, sogar ohne Seil hinaufzugelangen.
Über dem Abbruch haben wir vorhin einen niedrigen, aber weitausladenden Parallelgang wahrgenommen. Von der Pforte her erklimme ich gestufte Schächte, die Tümpel enthalten. Sie drängen sich sprunghaft just unter unsern Abbruch und münden oben vielleicht in den Nebengang. Damit hätten wir ein Beispiel der Ausweitung, indem ein höherer Stollenboden durch die Wühl-kraft des Wassers zerfressen wird und auf den untern absackt.
Bei der Höllenpforte beginnt die noch unberührte Teufelsschlucht, eine senkrechte, geschweifte und schmale Gasse, die in Absätzen über Klemmblöcke zur Tiefe strebt. Wasser lärmt irgendwo ungestüm. Über uns aalglatte oder zerhackte Wandfluchten mit Schloten; unter uns Felsenfenster, die auf das Stufengefälle gähnen. Wir lassen die Karbidlampe hinab, um die Pech-schwärze zu vertreiben und die Schwierigkeit des Aufstiegs zu beurteilen, rücken Meter für Meter tiefer und werfen einander die Rucksäcke nach. Unter einem verkeilten Felsklotz wird der Schlitz überhängend. Wir schleudern ein Seil und gleiten über die Einbuchtung hinunter.
Unwillkürlich erschrecke ich: die Kluft ist zu Ende. Wir befinden uns im unerforschten Quergang mit Tonnengewölbe, im Höllental ( P. 22 ', 2740 m ). Das hängende Seil wird uns als Wegmarke dienen. Der Gang schraubt sich wie gehobelt hinan. Seine Strudeltöpfe sind mit Wasser gefüllt und schenken uns willkommene Tritte. Nach sechzig Metern ein berückender Anblick der Pilatusseen. Diese Mulde ist ein wahres Kleinod ( P. 25 ', 2800 m Höhe 900 m ).
Von links oben her ein Sinterstollen. Am Ufer des Weihers brüsten sich gelbe Tropfsteine und muten wie Marschallstäbe an. An der Decke fuchtelt ein verrunzelter Tropfsteinkobold, als ob der Pilatusgeist den Eindringlingen zürnte. Die Ehre verbietet es, die Finger nach ihm auszustrecken. Mir ist, die Hand verdorre dem, der sich an ihm vergreift. An diesem verborgenen Ort also dröhnt das Wasser so stürmisch. Es huscht merkwürdigerweise nicht das Höllental hinunter, verschmäht jetzt den Felsriegel und bohrt sich seitlich in einen unnahbaren Engpass. Auf heimtückischem Hang begebe ich mich in den Hintergrund der Seengrotte. Ein Stollen zieht sich wuchtig hinauf. In seiner Kerbe sprudelt der Wasserschwall über die Schuhe. Leider bin ich mir noch nicht bewusst, unter der Regenhalle zu sein. Die Rinnsale der Regenhalle, des Hexenkessels und des Todesschlundes müssen sich hier vereinigt haben. Der Todesschlund muss das Tor des Höllentals sein. Doch der Berg ist zu launisch, als dass er ohne weiteres meine Vermutung bestätigte.
Vom Seil an streifen wir noch den sanft geneigten Gang abwärts. Kann man es fassen, auf solch sauberer Prachtsflur zu wandern? Im zweigeteilten Tunnel blinken weisse Tropfsteinvorhänge. Da und dort haben sich « Kakteen » am Boden verankert ( P. 22'-P. b ). Nach 120 Meter stirbt der Gang unvermutet ( P. g, 2860 m, Höhe 840 m ). Auf Schuttbänken dicke Pflasterschicht. Felsen hängen fast auf den Schlammteich nieder. Das Höllental muss zwar weiterführen, doch für Menschen ist eine Schranke gesetzt; es sei denn, jemand trinke das hübsche Becken aus.
Ein breiter Zweigstollen, vom Hauptgang durch eine Leiste abgesondert, reizt uns noch. Die Linsengestalt zwingt sofort zum Kriechen. Wie wir das lieben! Bei der ersten Schleife von rechts oben ein Sinterschlauch. Die zweite Biegung ist dreiteilig. Hernach eine Pfütze. Auf einem Buckel trockener Sodbrunnen, woraus ein schmaler Graben aufwärts zieht und sich in schwarzer Klause verliert, darin von weither hörbar Wasser donnert. Wir lauschen dem ewigen Tosen geschäftiger Quellen. Stammen sie vom Pilatussee? Die altersrunden Felsen sind von Lehm verkleistert, der am Schachtbord gezackt ist, wie wenn die Sonne schief in gelben Sulz gezündet hätte. Weiter östlich gabeln zwei Arme ab; der nördliche zeigt eine ausgewaschene, zernagte Sohle. Tropfsteine glitzern. Schliesslich landen wir in einem gewaltigen, kaum einen Meter hohen Rachen. Tropfsteinstrünke als seltsame Wucherungen auf Schotter. Die verwarzten Orgelpfeifen stehen wie ratlos umher.
Im Höllental kauere ich entmutigt auf die gescheuerte Fläche. Etwas sticht mich peinlich. Im Gesäss steckt eine abgeknickte Tropfsteinspitze. Ich möchte schimpfen wie ein Rohrspatz, doch ist der Leibhaftige anwesend, und mit dem darf man nicht unnötig anbändeln.
Auf dem schier endlosen Rückmarsch belästigt uns vom Riesensaal an ein giftigkalter Gegenwind. Das Licht flackert wie toll, scheint Funken zu sprühen und erlischt mehrmals. Draussen bin ich heiser und muss schweigen. Im Haus des Höhlenwärters Betschart finden wir wieder herzliche Aufnahme und gute Pflege.
Ein abschliessendes Urteil kann wiederum nicht gefällt werden. Es hapern auch die Vergleiche mit der Rieseneishöhle und Mammuthöhle im Dachstein, der Lurhöhle in der Steiermark. Sicher ist jedoch, dass die gebräuchliche Karte sich stark verändert hat; denn die Länge der Stollen ist nahezu um dreitausend Meter erweitert worden, was mehr als der Strecke Eintritt bis Riesensaal mitsamt dem Riesengang und Äolsgang entspricht.
Achtzig Stunden Arbeit in Nacht und öden Felsgemächern sind wie ein Traum vorbei. Wer über unterirdische Wunder, tief im Innern eines Berges, zu staunen vermag, dem wird die Zeit nicht zu lang und wohl kein Opfer zu schwer.