Gedanken eines alten Bergsteigers
Mit 1 Bild ( 77Von Fritz Oehler
( Aarau ) Mein junger Freund!
Ein alter Bergkamerad hat mir ein paar Wochen vor seinem Tode gesagt: Schau, so vieles wird einem genommen, wenn man alt wird; aber die Erinnerungen, die kann niemand nehmen, die bleiben, behüte sie alle! Weisst Du noch — und dann fing ein Erzählen an.
So früh wird es Nacht bei uns, bevor Schnee liegt. Das spärliche Licht des Winterabends wird nicht erhellt von der weissen Decke. Aus Schmutz und Nebel flüchtest Du zur Lampe. Da Du noch jung bist, gebe ich Dir den Rat: nimm ein Buch oder ein zweites, ein drittes, bis Du den Weg zum Buchschreiber findest. Du musst ihn selbst suchen. Wenn Du « Mondwald » findest, so denke an mich und dann kannst Du nicht gleich sagen: Träume. Schau ,'s ist mit den Schreibern oft ganz gleich wie in den Bergen. Es lockt nicht der alt bekannte Weg. Aber wenn Du eine Spur zu neuem Erleben findest, so lass Dich packen und lass nicht locker, bis alles in Dir zittert oder jauchzt und Du ganz aus der unschönen Welt um Dich herum für kurze Zeit herausgerissen wirst.
Du kennst nur wenig vom Bergeil, und darum möchte ich Dir ein paar Erinnerungen vom letzten September oder früher preisgeben.
In der Wirtsstube mit dem alten Arventäfer in Vico liegt noch immer die gleiche Luft. Durch das ovale Fenster in der Ecke schaust Du, wer noch im nächtlichen Regen die Dorfstrasse herabkommt. Erinnerst Du Dich an die drei Bersaglieri während des Krieges, die, durchweicht vom Regen, mit geknickter Feder schwarz von unsern Zöllnern aus der Albigna herabgebracht wurden. Man hat sie nicht am Rathaus auf die vorragende Granitplatte kommandiert und im alten Halseisen zur Schau gestellt, sondern sie mussten zu Fuss ins Engadin hinauf. Im zweistöckigen Specksteinofen mit den Bergeller Wappen, der die ganze Stubenecke ausfüllt, raunt 's von altem, blutigem und trinkfestem Geschehen. Das Stöckli, ans Wirtshaus angeklebt, mit der Stube, dem Salon, den beiden Schlafkabinen ladet noch immer zu langem, ruhigem Schlaf ein. Da hörst Du nichts von sausenden und ratternden Autos.
Am andern Morgen fegt Regen durchs Engadin. Auf der Maloja ein kleiner Halt. Schau, dort, vor bald 40 Jahren, in dem Wirtshaus haben unser drei Studenten ein einfaches Mittagessen eingenommen, bevor wir nach dem Forno aufgebrochen sind. Eine grosse, holländische Reisegesellschaft hat nebenan mundende Silserseeforellen gegessen. Über jeden Teller reichte Kopf und Schwanz des Fisches hinaus. Seither weiss ich, dass es im Engadin dreissig Zentimeter lange Forellen gibt. Trotz der Wellen liegt eine grosse Ruhe über dem tiefblauen Wasser, kein Auto, kein Mensch. Eine kurze Strecke, und der Silvaplaner See leuchtet bald gelbgrün wie Bernstein, bald silbrigschillernd wie platinblonde Haare beim Dinner. Der Schafberg, Schicksalsberg Segantinis, ragt aus den Wolken. Wir wollen uns in St. Moritz-Bad über sein zusammengetragenes Schaffen freuen.
Die Gänge, Hallen, der grosse Saal des Museums, alles wird zum festlichen Genuss. Fast im Dunkel hängt das grosse Stallbild: Die Mutter mit ihrem Kind, die Kuh mit ihrem Kalb. Ein Licht strahlt aus in die ganze Umgebung, wie wenn Weihnachten wäre. Frühbilder aus Mailand: skizzenhaft hingeworfenes Leben von Schaf und Mensch. Noch leuchtet südliche Wärme und Sonne von den Schafrücken, vom Gesicht und den Händen der Frauen; das Wasser rieselt warm vom Trog über das Steinpflaster. Der Maler zog als Fremder ins Bergell, ins Engadin, nach Savognin. Wie kam dieser schwarze, schwerblütige Mann aus der Poebene dazu, das Licht des Engadins zu sehen, in seinen Bildern zu verewigen. Rätsel und Staunen. Durch Wolken gedämpft fällt Helle in den Übergrossen Saal, in dem die Meisterwerke stehen und hängen. Es ist Platz für alles da: Engadiner Sonne und Schatten, Berge und Wasser, Tiere und Menschen, Weite und die herbstliche Kälte.
Wenn's im Herbst zu kühl wird im Engadin, zieh ins Bergell hinab. Risotto, Bauernspeck, Bündnerfleisch, Mortadella liessen uns beim Nachtessen die kalte Heimfahrt vergessen. Ein paar Worte an Freunde hingekritzelt, als die Türe aufging und der eine Bergkamerad vom Forno eintrat — der dritte liegt in Chiavenna begraben. « Du — Du, wie lang ist 's her! Zuerst musst Du erzählen, ich bin Eindringling im Bergell. » —«Ferien bei meiner Mutter. Sie ist über achtzig. Immer im September flieh ich aus der grossen Stadt zur Mutter. » — « Und dann lässt Du Dich verwöhnen wie früher? » — « Die Mutter will 's ja nicht anders. » — « Die Politik, euer Wasser ?» — « Ich war heute in Villa, das Kraftwerk ist bald vollendet. Dort hilft der italienische Staat den Privaten; wir in der Bregaglia haben alle stolze Namen, aber kein Geld zur Nutzbarmachung des Wassers. » Eine Flasche alten Veltliners lockert beidseits alte Schlacken. « Du, ist Dein Fell am Rücken eigentlich wieder ganz geworden ?» Am zweiten Tag damals, im Forno vom Gipfel zurück, wurde um 11 Uhr tüchtig gegessen, dann auf die Pritschen und schlafen! Die Sonne brennt heiss über Mittag in den Gletscherkessel. Nach 3 Uhr schrecke ich auf. Wo ist der Bergeller? .'s gibt grosse Schründe um die Hütte herum, der Schnee ist durchweicht. Draussen auf einer Granitplatte langgestreckt, splitternackt auf dem Bauch liegt er und — schläft. Forno war damals eine weite, stolze Einsiedelei, und der Schläfer hatte am Morgen seine erste Hochtour gemacht. Ich hole den dritten in der Hütte mit der Büch'schen Gletschersalbe, die jeder bei sich hat. Sie reichen nicht, um die Rückenseite eines grossen, drei Stunden lang gerösteten Mannes zu behandeln. Der Speck! Mit der Speckschwarte gelang es uns wenigstens, das Übel zu lindern. Wir beide hörten die urchigen Bergeller Flüche nicht während der langen Nachtstunden, aber wir waren Zeugen, wie er am andern Morgen seinen Rucksack auf der Bauchseite über den Casnile nach der Albignahütte schleppte. Den Verbrennungsdurst hat er mit Veltliner gestillt.
Übrigens Forno. Vergiss ob den Gipfeln nicht das Schauen. Wenn Du vom Largo oder Bacun kommst, so geh nach dem kleinen Gletscherchen über Karren und Geröll talauswärts, fast auf gleicher Höhe. Du findest immer mehr Blumen, und auf einmal stehst Du auf einem Mättlein voll strahlender Farben, schaust südwärts in den Fornokranz und nordwärts nach Maloja, wo das Leben vorbeihastet. Christian Klucker hat gesagt, das sei der schönste Ort im ganzen Forno; er musste es ja wissen! Nicht ganz einfach ist der Abstieg zu finden nach der Zunge des Fornogletschers. Bevor die glattgeschliffenen Granitbuckel fast senkrecht ausmünden, geh taleinwärts. Ein feuchtes Rasenband führt Dich in eine von mächtiger Granitplatte überdeckte Kluft. Das Wasser hat sie ausgehölt. Hinabkriechend, zuletzt steil mit den Füssen voraus, kommst Du in eine Grotte, von der in weitem Zickzack auf Rissen und Ritzen der steinernen Wand der Pfad auf die Schuttkegel abwärts führt. Ist seit längerer Zeit kein Wanderer diese Zickzackleiter hinabgestiegen, so musst Du da und dort für Deine Tritte Platz machen. Platten und runde Brocken haften oft nur mit einer Rauhigkeit der Oberfläche am Ritzenrand. Doch hängen sie über Dir, so zieh den Atem ein, und zieh still ins Tal hinab.
Doch wieder zu meinem Freund zurück:
« Was sagst Du zu Segantini? » « Du weisst ja, mein Vater hat im Bergeil als Arzt praktiziert und hat ihn gut gekannt. Wenn er nach Soglio hinauffuhr, hat er mich als kleinen Buben oft mitgenommen. Wenn der Doktor mit dem Maler einen Schoppen trank, bin ich mit andern Buben herumgestrolcht. Da stand am Hang ein grosses Gerüst, das über den steilen Berg hinausreichte, vom schrägen Dach beschützt. Den Vorhang, der das ganze Bild zudeckte, haben wir oft aufgehoben und die Farben und die Bondascer Berge angeschaut. Das Bild — Vergehn — wurde nach Wochen fertig, und man hat erzählt, dass ein Österreicher — der Maler hatte kein Geld — die aufgelaufene Schuld für Essen und Trinken bezahlte und das Bild mitgenommen habe. An Segantini selbst kann ich mich nicht erinnern. » — « Ja, und die Ausstellung in Sankt Moritz? » — « Gut, aber Segantini ist kein Bergeller und kein Bündner. Schau, Segantini hat zuerst Schafe, viele Schafe gemalt, dann Frauen und zuletzt unsere Berge. Bei uns war der Weg umgekehrt. Er führte uns zuerst in die Berge, dann zu den Frauen und zuletzt wird 's uns unter den Schafen ganz wohl sein. » « Habt Ihr übrigens recht gegessen? » Der Wirt stand dabei und als das Wort Mortadella fiel, juckte mein Freund auf: « Was für eine Mortadella? Es gibt nur eine Mortadella in der Bregaglia, und die macht meine Mutter. » Wann der Streit um die beste Mortadella geendet hat, weiss ich nicht, ich verzog mich ins Bett.
Rasch hellt 's nach Regen in unseren südlichen Tälern auf. Sonne am andern Morgen, also doch wieder einmal Soglio 1 Geh zu Fuss die grossen Kehren aus dem Kastanienwald hinauf, sonst begreifst Du nicht, warum die grossen Herren von Salis gerade dorthin ihre Paläste gestellt haben: Schönheit, Ruhe, Sonne, zweckmässig am Ausgang der Pässe nach der reichen Poebene. Gleich nach dem letzten Rank beginnt schon die Kirchhofmauer. Illustre Gäste müssen in der Kirche bei der Predigt auf der alten Salisbank Platz nehmen, vorn an der nördlichen Wand, vor sich den Taufstein. Das Volk im Schiff will das nicht anders. Am Sonntag, im Leben, die Herren von den Knechten getrennt, im Tode nebeneinander vereint. Nördlich, östlich und südlich des Kirchleins halten die Gräber Wacht, durch eine hohe Mauer am steilen Hang geschützt. Schräg werfen die Sonnenstrahlen die Schatten der Kreuze über Blumen und Gras. An der Kirchmauer, wie gestochen, ruhn die Bilder von ein paar Herbst-astern. Über grüne Wellen hinab sinkt der Blick in den Wald und ins Tal und schaut auf zu den Bergen und dem Himmel, woher uns Heil kommt.
Still geht 's die Hauptgasse hinauf. Die Hochsaison, mit erster und zweiter Serie Mittagessen ist schon lange vorbei. Nur wenige Gedecke liegen im alten Rittersaal bereit. Das lauteste Geräusch des ganzen Tages macht wohl das Horn des Geissbuben um 7 Uhr früh, wenn er seine vielen Geissen zusammenruft. Und nachts hörst Du das Rauschen des Dorfbrunnens. Die Röhren sind dicker als in Guarda; dafür ist der Trog in Guarda doppelt so gross. In Soglio aber — ein grösserer Brunnen hätte nicht Platz — an das Wasserbecken angeschlossen das Gemeindewaschhaus, nach vier Seiten offen, über dem Kopf ein Dach, glattgeriebene Granitplatten als Wäschebrett. Sonnenstrahlen huschen über Wassertropfen und nasse, fleissige Frauenhände.
An Samstagen, wenn der Herr Pfarrer ins Dorf kommt, um am Sonntag morgen protestantisch in italienischer Sprache Predigt zu halten, wird 's lebendiger. Vor vielen Jahren, während mehrerer Wochentage sass ein Engländer, zweitgeborener aus altem, wenig begütertem Adelsgeschlecht, mit uns am Tisch. Ein gescheiter Historiker, der, aus dem spätherbstlichen Engadin geflüchtet, den Gluscht und Durst nach Veltliner mitgebracht hatte. Er trank nur Dreierli; begann mittags und liess sich abends nach 10 Uhr noch drei Dreier auf den Nachttisch stellen. Er brauchte dafür kein Medonin. Alles Zureden half nichts. Am Morgen früh, wenn wir auszogen, war er einfach nicht zu wecken. Gegen Abend wurde er völlig wach und lebendig, und als am Samstag abend der Pfarrer sich zu uns gesellte, ging 's recht lebhaft zu. Wie die « Marie » mir wieder ein Glas einschenkte, schwebte ein feines Flöckchen im Wein. « Marie, ist das Fass bald leer? » — « Warum, ist der Wein nicht gut? » — Sofort mischte sich der Engländer ins Gespräch: « Sagen Sie nichts über den Wein. Der Wein ist ausgezeichnet. » Verlegen äusserte sich die Marie: « Morgen wird das neue angestochen. » Eine Pfundnote auf den Tisch legend, sprach der Mister sein Gegenüber an: « Herr Pfarrer, Sie haben jeden Samstag-Sonntag aus dem Fass getrunken, ich erst fünf Tage; ich wette ein Pfund, dass Sie weniger davon genossen haben als ich. » Eine Geste des Zweifels und der Ablehnung des Pfarrherrn wies er zurück. « Es geht um ein Pfund. Gewinne ich, stecke ich die Note wieder ein, haben Sie mehr getrunken, ist sie Ihr Eigentum. » Anhand der Rechnung für das Weinfass, des samstag-sonntäglichen Konsums des Pfarrers und der Addition von recht vielen Dreierlein, musste ich als Unparteiischer dem Herrn Pfarrer mit 2 1/2 Litern mehr genossenen Weins die Pfundnote zusprechen. Als Geschenk für die Armen wurde sie angenommen.
Nur die zwei Salispaläste überragen die eng seit altem zusammengedrängten Dächer. Vor dem grösseren Patrizierhaus mit wuchtiger Südfront liegt der Obst- und Gemüsegarten, mit hoher Mauer umgürtet. Heute war das mächtige Eisengitter, das im Treppenhaus das Erdgeschoss vom ersten Stock trennt, und damit der Zugang in die oberen Gemächer verschlossen. Beim letzten Besuch störte nichts den Eindringling als ein gewisser Zerfall der barocknen Pracht. Als auch ein energisches Klopfen niemanden herbeirief, traten wir in einen leeren, hohen, sonnendurchfluteten Raum. Ans Fenster, und es lockte an das eiserne, mit Girlanden und kunstvoll gebeulten Blättern geschmiedete Geländer des Fenstersimses sich anzulehnen, um hinauszu-staunen über flimmernde Granitdächer, flutendes Leben. Der Modergeruch in den weiten Gängen war vergessen. Über die Mauern des Gartens, durch die schmale Gasse von der Hausmauer getrennt, drang bis zu uns herauf der Geruch von saftigen Birnen, durch südliche Sonne gewachsen und gereift. Es drängte uns nach weiteren Entdeckungen. Der Raum nebenan wird gewiss noch grösser, schöner sein. Als auch auf erneutes Klopfen uns wieder keine Antwort zuteil wurde, traten wir ein: heller, weiter, mit drei grossen Süd-fenstern und — oh Schrecken — eng aneinandergeschmiegt zwei neue hellblaue Schleiflackbetten, an der Fußseite die Farbe etwas gebleicht. Das nähere Bett schräg aufgeschlagen; den rundigen Spuren nach hatte etwas Weibliches darin gelegen. Das andere Bett war unberührt. Die gegenüberliegende Türe ging plötzlich auf: Eine imposante weibliche Figur im Morgenrock. Vorstellung, Entschuldigung und Rückzug in kürzester Zeit. Es war vormittags 11 Uhr.
Seither sehe ich das Anstreichen und Lackieren von Holzfasern und menschlichem Gewebe nicht mehr gerne.
Wenn wir bei einem Schleiflackmöbel wissen wollen, was unter der Farbe liegt, sehen wir die Füsse unten an, ob Tannenes, Buchenes oder eine edle Holzart als Gerüst verwendet wurde. Immer wieder schauen wir Männer doch jedem gutgewachsenen, weiblichen Wesen nach und freuen uns auf das Gesicht. Aber wenn das feine Spiel der Lippen, das Vibrieren der Oberlippe und der Nasenflügel, der Schalk in den Mundwinkeln nicht mehr spielt, wenn zwei quere, rote Streifen das Gesicht zerschneiden, dann können wir doch nicht die Fußsohlen anschauen, um unter den Malerarbeiten einen guten Kern entdecken zu wollen. Ist es wohl der Wunsch der Mädchen und Frauen, uns Männern damit zu sagen: Schaut nur auf unsern angestrichenen, roten Mund und dann wisst ihr alles.
Wenn Du genug von Mensch und Kultur hast, zieh ruhig von dannen. Ostwärts des Ortes, durch ein paar Kartoffel-, Bohnen- und Kabisbeete führt ein Weglein zu einer Bank. Hart davor bricht der Rasenteppich ab. Wir stehen am Rande eines einzigartigen Balkons des Südhanges des Bergells, der hängengeblieben ist. Die ganze früher flache Talsohle ist eingesunken, verschwunden. Ein tief eingeschnittener Graben sammelt das Wasser und führt 's ins welsche Land. Nur der allerhärteste Granit ist beidseits als Grat erhalten und hält über dem langsam sterbenden Tal Wacht in Formen von Nadeln und Türmen, mächtigen, risslosen Quadern und messerscharfen Riesenplatten. Was brüchig war, ruht in Scherben am Fuss der Wände in mühsam zu durchschreitenden Granitfriedhöfen, zum Teil von grünschwarzem Wald mitleidvoll zugedeckt; die grösste Masse aber liegt im See unterhalb Chiavenna begraben.
Der Herrgott hat Soglio Sonne und Wärme geschenkt. Nimm dem Bergeil das Licht, und es ist tot. Kein Reflex von ziehenden Wolken, kein kräuselndes oder schäumendes Wasser, keine Weite, an deren Ende alte Kirchen, umgeben von stolzen Häusergruppen, stehen, laden ein zum Wandern wie im Oberengadin auch bei schlechtem Wetter.
Vor ein paar Jahren, nach langem Marsch aus dem Avers, lagerten wir auf der obersten, grünen Alp ob Soglio und schauten lange in diese Welt von Zacken aus uralter Zeit. Zu spät erkannten wir, was die schwarze Wand uns bringen sollte, die zuerst die Bondasca, dann die Albigna und Forno verschlang. Keiner von uns beiden vergisst den Kampf im steilen Bergwald im verdunkelnden Gewitter. Lautlos, grau, keine runde Wolke schwebte überm Tal als Trost des waltenden Schicksals.
Musst Du von Soglio scheiden, so geh an einem warmgoldenen Herbstabend die Strasse hinab. Dann sitzen am ersten Rank auf dem Schutzmäuerchen die alten Frauen. Die übergrosse Hutte, mit raschelndem Kastanienlaub gefüllt, hängt an ihrem gebeugten Rücken. Am Boden hocken die Kinder, neben ihnen das weisse Säckchen mit den gesammelten Kastanien. Die Berge der Bondasca leuchten herab wie nie, ganz zuoberst die feinen Ritzen und Gräte silbrig bestäubt vom ersten Schnee.
Du, junger Freund, ich weiss nicht, ob ich noch einmal in diese Bergwelt ziehen kann. Geh Du, und such Dir Deine eigenen Wege.
Dein alter Freund