Frühe Stunde
Von Walter Bäumlein.
Durch der Dämmrung tauig herbe Kühle,
die ich rein im Bergwald rieseln fühle,
eilt der Morgen, ein bekränzter Zecher.
Freudetrunken
von dem Tanz der nächtlich goldnen Funken
schwingt er hoch den übervollen Becher.
Sieh! vom Lichtborn des Kristalles
springen Strahlengarben
klarer, starker, zauberischer Farben
durch die schmale Bahn des Tanns... und alles
schwillt vom süssen Hauch der Frühe,
als ob jäh der Wald im Glück erblühe...
Und er geht am offnen Hange,
voll von stolzem, herrischem Gelächter,
wie von freiem Heldensange,
dass die Schar der grauen Felsenwächter,
starr ummauert,
leis in ihren Panzern schauert...
Lust und hellen Tag gebeut er,
und aus blumigen Gebinden,
die um seine glühnde Stirn sich winden,
Rosen... Rosen... Rosen streut er,
Die Alpen — 1939 — Les Alpes.23
wirft er in die weite Runde,
dass die blanken,
wetterharten Riesenschilde
süss umflochten sind von Blumenranken,
wie zur heitern Friedenskunde,
und in holder Fülle prangen,
als von lichtem Spiegelbilde
unschuldvoller, mädchenhafter Rosenwangen.
Bist der Gnadenvolle, bist der Morgen!
Will an deinen Händen
mich aus dem verborgen
kühlen Schatten tagwärts wenden!
In die hohe, in die offne Weite,
der ich meine Arme innig breite! —
In der lichten Mattensterne bunten
Teppich treten unsre Füsse,
die dein Ruf und deine Grüsse
lockten aus den stillen Gründen unten.
Sterne unzählbar verschwendet,
dass der Blick an ihrer Flut nicht endet...
Nun, so heb den Becher, lass uns trinken!
Alle Strahlen blinken.
Ewige Wärme, heilige Kühle,
die ich rein im Blute rieseln fühle,
zauberhaft in eins verwoben,
reissen uns nach oben,
aller Müh und aller Last entladen,
uns im blauen Strom des Alls zu baden!