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Fahrten im Triftgebiet

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Von Ernst Farner ( Sektion Bern ).

Die Bergtouren, von welchen die folgenden Seiten erzählen werden, besitzen weder den Vorzug, als erste Besteigungen besonderes Interesse zu erwecken, noch denjenigen, wegen der Überwindung außergewöhnlicher Schwierigkeiten zu fesseln, sondern ihr Hauptreiz liegt nach meiner Meinung darin, daß sie sozusagen ex tempore von drei Führerlosen gemacht wurden, welche sich nach keinem bestimmten Plan, sondern nur nach ihrem Vergnügen, ihren augenblicklichen Einfallen richteten. Solche Touren bieten, auch wenn sie nur leichteren Bergen gelten, begreiflicherweise stets viel mehr Abwechslung, Freuden und Leiden aller Art, als wenn man, selbst auf viel schwierigere Gipfel, einem Führer am Gängelbande nachläuft.

Es ist unter den Studenten eine allgemein bekannte Erscheinung, daß man vor jedem Examen um so weniger Lust zum Arbeiten verspürt, je näher es rückt, je mehr man wissen sollte, und je weniger man weiß. Das erfuhren auch mein Studien- und Leidensgenosse Dr. Gaßmann und ich im vergangenen Sommer, und wir waren deshalb nur zu gerne bereit, einer Einladung von Freund Charles Montandon Folge zu leisten, mit ihm dem Triftgebiet einen Besuch abzustatten. Schließlich mußten wir ja als Mediziner auch bedenken, daß eine Bergtour nicht nur den Körper kräftigt, sondern wegen des innigen Zusammenhangs zwischen Körper und Geist auch dem letzteren wohlthut, und also direkt als nützliche Vorbereitung fürs Examen aufgefaßt werden muß. Diese Logik mag zwar vielen nicht sportfreundlichen Philistern zu hinken scheinen, der Erfolg hat die Theorie aber schon oft bestätigt.

Wir dampften also zu dritt am prächtigen Abend des 27. August Interlaken zu, wohlausgerüstet mit Pickel und Seil, Pfanne und Weingeistmaschine, Suppe, Wurst, Süßigkeiten etc., wie es erfahrenen Bergsteigern ziemt. Montandon hatte auch die Schnapsflasche nicht vergessen, welche wir Mediziner aus pharmakologischen Gründen durch Kaffee und Thee ersetzten. In Interlaken blieben wir über Nacht. Es war haute saison, und erst nach wiederholtem Anklopfen an verschiedenen Gasthöfen waren wir so glücklich, im fünften Stock des Hôtel des Alpes ein Nachtlager zu erobern. So hatte ich Interlaken früher noch nie gesehen: die Straßen überfüllt mit eleganten Herren und Damen, jungen und alten, hübschen und häßlichen ( wir würdigten namentlich die jungen und hübschen unserer AufmerksamkeitRaketen knallten in der Luft und prasselten als farbiger Regen zur Erde nieder, künstliche Sonnen sprühten Funken und Strahlen in allen Gärten, Kanonen mischten ihren Donner in das Knattern des Feuerwerks: kurz, es war großartig, und der Rummel war noch lange nicht verhallt, als wir schon im Bette lagen.

Doppelt kühl und unfreundlich erschien nach diesem glänzenden Abend der grauende Morgen, der uns bereits auf der Wanderung nach Bönigen fand. Gegen Westen stand eine Regen drohende Wolkenbank am Horizont, und ein kalter Wind pfiff über den Brienzersee. Ein heißer Kaffee und die Strahlen der aufgehenden Sonne erst weckten unsere Lebensgeister, und machten unsere Glieder gelenkig, so daß wir mit fröhlicher Zuversicht auf die Berge nördlich vom Sustenpaß blickten, welche allmählich auftauchten, und die wir ja zu bezwingen auszogen.

Doch schrecklich schwül wurde es im Laufe des Vormittags, und unsere gewiß bescheidene Anfangsleistung, die Traversierung des Kirchet, kostete manchen Schweißtropfen. In Innertkirchen ergänzten wir unsere Vorräte, wobei namentlich Freund Montandon nicht müde wurde, sowohl sich, als auch uns mit allem zu beladen, was in dem wohl assortierten Eßwarengeschäft zu sehen war. Mit Mühe nur hielten wir ihn davon ab, mit einem stattlichen Schinken als Delikatesse sein Werk zu krönen. Endlich entriß auch er sich den Lockungen des glücklichen Laden-besitzers, und machte sich mit uns eifrig daran, im Hotel zum letztenmal für einige Tage ein zivilisiertes Mahl zu genießen. Wir gedachten dasselbe auf der Laube einzunehmen; plötzlich aber brodelten hinter dem Kirchet dichte Nebel wie aus einem Hexenkessel hervor, und es vergingen kaum 10 Minuten, so hatten sie das ganze Firmament überzogen. Nebelfetzen strichen an den Bergen auf und nieder, und ein gehöriger Regenguß trieb uns ins Gastzimmer zurück. Wir hofften, der Regen werde bald aufhören, und warteten. Als es aber nach anderthalb Stunden immer noch regnete, waren wir des Wartens müde; denn wir beiden Mediziner waren nicht ausgezogen, um unser Geld im Wirtshaus zu verprassen und unsere Zeit ebendaselbst mit hübschen Kellnerinnen zu verschäkern, wozu wiederum der Epikuräer Montandon nicht üble Lust verspürte, sondern um in den Bergen Körper und Geist fürs Examen zu stärken. Im letzten Augenblick fiel es ihm noch ein, auch Milch wäre gut in der Clubhütte, und wenn wir nicht gehofft hätten, auf der Triftalp welche zu kriegen, wer weiß, wie viele Liter er uns noch auf den Buckel gepackt hätte.

Um halb elf Uhr zogen wir also ohne Milch und Schinken zuerst das Gadmenthal, dann das Triftthal hinauf. Der Regen ließ bald nach, dafür aber brannte die heiße Sonne auf unsere schwerbepackten Rücken nieder. Die Luft war gewitterschwül, und wir erwarteten mit Sicherheit noch vor Abend eine neue „ Schütte ". Die „ Borzete " bis zur Triftalp unter meinem wohlgerundeten Rucksack im Schweiße nicht nur meines Angesichts, sondern meines ganzen Körpers werde ich nie vergessen, und als wir endlich etwas nach 1 Uhr bei den Sennhütten anlangten, lechzend nach Milch, und Montandon schon die große Blechflasche zum Füllen hervor-nahm, da fanden wir niemand. Kein Mensch erschien, auch keine Kuh, dafür aber der erwartete Regenguß. Unter einem überhängenden Felsblock suchten wir Schutz; etwa ein Dutzend Ziegen thaten dasselbe, und einige wurden gemolken, sie mochten wollen oder nicht.

Als der Regen aufhörte, stiegen wir weiter. Ein steiler Weg führt von hier gegen die Windegg hinauf. Wir hatten bereits die Höhe der Gletscherzunge erreicht, da setzte der Regen wieder ein. Wir hofften bald in der Windegghütte ans Trockene zu kommen, aber trotz beschleunigten Tempos und trotz der Steilheit des Felssteigs schien der Abhang kein Ende nehmen zu wollen, so daß Gaßinann meinte, ihn dünke, wir müßten bald im Himmel oben sein. Endlich, um 41/* Uhr, fanden wir in der ersehnten Hütte ein Obdach vor dem immer heftiger werdenden Regen, mit uns ein hübsches, schwarzes Zicklein, das uns, gelockt von Montandons kunstreichem Meckern, von der Triftalp an getreulich gefolgt war. Von Weitergehen bis zu der gut zwei Stunden weiter oben gelegenen Clubhütte am Thältistock, die wir uns eigentlich als Ziel des ersten Reisetages erkoren, war bei dem Unwetter keine Rede mehr. Deshalb richteten wir uns in dem neuen, sehr sauberen und heimeligen Windegghüttchen, das leider nur etwas zu klein ist, wohnlich ein. Holz war in Menge vorhanden; wir kochten Suppe, trockneten die Kleider am Ofenrohr, rauchten die obligate Pfeife, und legten uns schlafen, mit uns die Ziege. Doch Undank ist der Welt Lohn, sogar von Seiten der Ziegen. Als nämlich Montandon einmal für einen Moment sein Lager verließ, nahm sein Liebling die Gelegenheit wahr, gerade da ein nicht näher zu bezeichnendes Bedürfnis zu verrichten. Damit hatte die Geiß aber unsere Gunst verscherzt und ihr Geschick besiegelt, in die finstere Regennacht hinausgestoßen zu werden. Noch lange ertönte ihr klägliches Meckern draußen vor der Hütte; doch umsonst; es lullte uns nur in süßen Schlummer ein.

Als ich morgens 4 Uhr den Kopf zur Thüre hinausstreckte, hätte ich laut aufjauchzen mögen, wenn meine unmelodische Stimme mir das erlaubt hätte. Denn hell funkelten die Sterne am wolkenlosen Himmel, still und kalt war die vom Regen gereinigte Luft; kurz, es war alle Aussicht auf ein paar herrliche Tage vorhanden. Unter diesen Umständen waren Toilette und Frühstück schnell beendigt. Nach wenigen Minuten erreichten wir den Gletscher und begannen die Traversierung. Diese machte köstlichen Spaß an dem wundervollen Morgen, der im Verein mit der großartigen Umgebung auch den bärbeißigsten Stubenhocker in gute Laune hätte versetzen müssen. Der Gletscher war hier fast eben und frei von Schrunden, jedoch von unzähligen kleinen Wellen und Thälern durchfurcht; der gestrige Regen und die Kälte der Nacht hatten ihn mit Glatteis überzogen, und es war eine helle Freude, einander zuzuschauen, wie wir von Eiswall zu Eiswall hüpften, mit allen möglichen Drehungen des Körpers das Ausgleiten zu verhindern suchend, doch zum gegenseitigen Gaudium nicht immer mit Erfolg; bald glitschte der eine, bald der andere aus, und mußte dann alle Kunst zusammennehmen, um sich samt dem gewichtigen Rucksack wieder aufzurichten.

Ein rotes Fähnlein bezeichnete am jenseitigen Ufer die Stelle, von wo aus der Weg die steile Halde gegen die Tierberge hinauffuhrt, um sich nach einer guten halben Stunde fast horizontal nach rechts gegen die obere Moräne des Triftgletschers und gegen die alte Hütte am Thältistock zu wenden. Der Weg ist, wenn auch nicht überall im besten Zustand, doch immer deutlich markiert, so daß wir nicht recht begreifen konnten, daß schon viele Touristen sich beklagten, sie hätten die Hütte nur mit Mühe finden können. Um 7*/s Uhr langten wir schweißtriefend dort an. Aber ach! Unser harrte keine angenehme Überraschung. Das Haus, das uns für einige Tage beherbergen sollte, sah aus, als ob nicht ordnungsliebende Clubisten, sondern eine Gesellschaft Eskimos zuletzt darin gehaust hätten. Der Boden war voll Kot, das Stroh überall verzettelt, Löffel, Teller, Tassen etc. lagen herum, und auch was am richtigen Platz war, erwies sich als höchst mangelhaft gereinigt. Unsere erste Sorge war, das Gröbste auszumisten; das Détail überließen wir Gaßmann, da derselbe wegen eines Lungenübels nur die kleineren Touren mitmachen wollte.

Um 9 Uhr brachen Montandon und ich auf, um den Maasplankstock ( 3403 m ) zu „ machen ". Eigentlich hatte der Dammastock ( 3633 m ) auf dem heutigen Programm gestanden, wegen der Verzögerung durch den gestrigen Regen glaubten wir aber, denselben auf einen andern Tag verschieben zu müssen. Wir hatten es so eilig, daß wir uns nicht einmal Zeit nahmen, die Karte zu studieren, und betrachteten a priori einen hübsch runden, reinweißen Gipfel, welcher links im Hintergrunde hervorguckte, als den wahren Jakob. Diesem steuerten wir auf möglichst geradem Wege zu. Übrigens war es uns ziemlich „ wurst ", was wir besteigen würden; es trieb uns einfach in die Höhe, das schöne Wetter zu genießen.

Von der Hütte führte der Weg zuerst eine häßliche Moräne hinunter, dann eine Strecke weit über wenig geneigten Gletscher, auf dessen Glatteis mir meine Steigeisen treffliche Dienste leisteten, während Montandon gut aufpassen mußte ., um nicht umzupurzeln. Dann überwanden wir einen Schneehang, nnd standen auf dem oberen Gletscherplateau, dem „ Triftkessel ", der sich, sanft ansteigend, gegen die Triftlimmi hinzieht. Er ist, wenigstens im Anfang, arg verschrundet, doch leicht zu begehen. Wir hielten uns am linken Rande der Gletschermulde und folgten später einer alten Spur, welche einen steilen Schneehang hinauf gegen einen Sattel rechts von unserem Feinde, dem vermeintlichen Maasplankstock, leitete. Der Schnee war gut, nur die oberste Schicht von der Sonne erweicht. Um 11 Uhr 40 Min. standen wir auf dem Sattel. Da entrollte sich aber ein Panorama, das gar nicht mit unsern Erwartungen übereinstimmte, und das wir auch auf keine Weise mit der Karte in Einklang bringen konnten. Nur eines wurde uns klar: daß der Schneegipfel links von uns kaum der gesuchte Maasplankstock sein dürfte. Er sah aber so hübsch einladend aus, daß wir doch hinauf wollten; oben hofften wir die Lösung des Rätsels zu sehen. Gesagt, gethan. Ein abschüssiger Firn- hang war bald überwunden, und wir standen um 1 Uhr auf einem Grat, wie ihn ein rechtes Clubistenherz nur wünschen kann. Eine elegante Firnschneide zog sich nach links zum Gipfel hinauf; zu beiden Seiten fielen Schneewände jäh in die Tiefe, und der Fuß mußte zuerst die scharfe Schneide des Grates niederstampfen, bevor er sicher auftreten konnte. Diese Gratwanderung allein war entschieden den Abstecher wohl wert, abgesehen von der hübschen Aussicht, die sich vom Gipfel ( 1 Uhr 20 Min. ) entfaltete. Aber auch hier kamen wir mit der Topographie noch nicht ins Reine. Im Norden lag unter uns ein wilder Gletscherkessel, auf drei Seiten von schroffen Felswänden eingefaßt, westlich gegen den Triftfirn auslaufend. Gegen Süden breitete sich eine weite Firnmulde aus, von einem langen, zuerst östlich, dann südlich sich hinziehenden Grate umsäumt, aus welchem sechs oder sieben höhere Gipfel hervorragten. Auf dem nördlichsten derselben standen wir; den südlichsten, einen stattlichen Burschen mit einer prächtigen Schneekapuze, hielten wir für den Dammastock.

Diesem Grate folgten wir nun, ohne uns über die Nomenklatur der Berge die Köpfe zu zerbrechen; denn schön war es jedenfalls hier oben, und das war alles, was wir wünschten. Die Gratwanderung war leicht und genußreich; nur hieß es, weil wir zu zweit waren, aufpassen, um nicht in einen der vielen überschneiten Schrunde hineinzufallen. Auf der zweiten Graterhöhung machten wir keinen Halt; dagegen suchten wir in den Felsen des dritten Gipfels Schutz vor dem empfindlich kalten Nordwind. Um 4 Uhr war auch der folgende Gipfel genommen. Hier fanden wir zu unserer angenehmen Überraschung eine schwere Menge von Flaschen mit Zetteln, die uns bewiesen, daß wir ganz unwillkürlich doch noch auf den Dammasiock ( 3633 m ) geraten waren.

Jetzt wurde uns die Karte und die Topographie plötzlich sonnenklar. Wir waren einfach am Morgen in der Eile neben dem Gletscher „ im Sack ", welcher zum Maasplankstock führt, vorbeigestürmt, und hatten erst einen Grat zu weit südlich uns links hinauf gewandt. Der stattliche Bursche im Süden war der Galenstock; er hatte uns wegen der bekannten optischen Täuschung, welche in den Bergen die entfernten Punkte relativ zu hoch, die näher gelegenen zu niedrig erscheinen läßt, als höher imponiert, als der Dammastock.

Die Aussicht war überaus großartig, ebenso meines Freundes Appetit; leider fiel die Stillung des letzteren wegen unseres kärglichen Proviants bedeutend mangelhafter aus, als unsere Augenweide. Ich verzichte auf die Schilderung des Panoramas, da wohl viele der geneigten Leser dasselbe schon genossen haben, und ich den übrigen nur anraten kann, sich diesen Genuß baldigst auch zu verschaffen. Der Dammastock ist nicht umsonst so berühmt; ein eigenartiges Gepräge verleiht der Fernsicht die Kombination der Felskolosse der Urner-, Walliser- und Berneralpen mit der weiten Gletscherwüste des Triftgebiets und mit dem Niederblick einerseits ins Geschenenthal direkt nach Gesehenen hinunter, anderseits ins grüne Rhonethal nach Obergestelen, und endlich gegen Westen ins bernische Mittelland hinaus.

Der erste Gipfel, auf dem wir gestanden, war also der Weiße Nollen ( 3433 m ) gewesen, die beiden folgenden der Eggstock ( 3556 m ) und Schneestock ( 3603 m ). Gerne hätten wir unsere Gratwanderung noch weiter fortgesetzt; doch es war schon fast 5 Uhr, und bekanntlich ist mit den Gletschern in der Nacht nicht zu spaßen, selbst wenn man Ch. Montandon und eine Laterne bei sich hat. Wenn man am Morgen früh von der Trifthütte aufbricht, kann man nach unserer Meinung leicht alle Gipfel des Grates vom Weißen Nollen bis zum Galenstock besteigen.

Nach einer genußreichen Stunde begannen wir den Abstieg. Wir wählten dazu leider die Westflanke; der Schnee war hier sehr dünn und weich, und das darunter liegende Eis machte eine langweilige Hackerei nötig. Und wenn man der Charybdis entronnen ist, fällt man, wie schon Vergil wußte, der Scylla in den Rachen. Dieses weibliche Ungeheuer stellte sich diesmal als butterweiches Schneefeld vor. Aber wenn schon die alten Griechen dem Ungetüm zu entrinnen vermochten, freilich gerupft, so ist 's nicht zu verwundern, daß zwei moderne Clubisten glücklich durchkamen, freilich durchnäßt und mit ermatteten Knien. Wir erreichten etwas nach 6 Uhr wieder die Stelle, von welcher aus wir um Mittag den Weißen Nollen in Angriff genommen hatten. In Eile rutschten und sprangen wir den Abhang hinunter, und ebenso den Triftkessel hinab, wobei ich als der Vorangehende noch schnell in eine überschneite Gletscherspalte plumpste, was zwar dank dem Seil ohne Unglück ablief, immerhin aber zur Vorsicht mahnte. Es dämmerte schon stark, als wir die Moräne erreichten. Freund Gaßmann holte uns ab; zum Dank bemerkte Montandon, er hätte besser gethan, uns eine warme Suppe bereit zu halten, die wir nun selber kochen mußten.

Die Hütte sah jetzt, dank Gaßmanns Reinigungsarbeiten, bedeutend wohnlicher aus. Doch pfiff der Wind durch die Fugen von Thüre und Fenster1 ), und wir dachten mit Sehnsucht an das warme Windegghüttlein mit dem prasselnden Feuer im Ofen, dem traulichen Zicklein, den reinlichen Decken, dem trockenen, reichlichen Heu zurück. Indessen mit der Schneestampferei in den Beinen, dem guten Gewissen als Kopfkissen, und im Bewußtsein des rühmlichen Tagewerks ließ es sich schließlich auch hier schlafen, wie sehr auch Freund Gaßmann über die Flöhe klagte, und zornig wurde, als ich dieselben für Hallucinationen erklärte; ich spürte wirklich keinen einzigen Flohstich, und Montandon auch nicht.

Am folgenden Morgen lachte die Sonne schon ziemlich hoch am wolkenlosen Himmel, als wir uns zum Aufbruch rüsteten. Wir wollten, um Gaßmann das Mitkommen zu ermöglichen, heute nur eine bescheidene Tour ausführen, und wählten zu diesem Zweck unser hübsches Vis-à-vis, den Kilchlistock ( 3113 ra ), der so keck sein spitzes Naschen in die Lüfte streckt und nach meinem Geschmack unstreitig der schönste Gipfel des Triftgebiets ist. Doch wir hatten die Rechnung ohne die Séracs auf der Westseite des Triftfirns gemacht; als wir am Rande derselben standen, überzeugten wir uns, daß ein Durchkommen zwar möglich, aber sehr zeitraubend sein würde, ebenso die Umgehung der Séracs. Dazu winkte weiter oben im „ Sackthäli " an einigen Stellen grünes Eis, so daß die Hackerei sich leicht bis in die Nacht hinein hätte ausdehnen können. Im Frühsommer müssen die Verhältnisse wesentlich günstiger liegen, wie die Besteigung von Herrn Dr. E. Burckhardt beweist, welcher laut Fremdenbuch den Kilchlistock in Nebel und Schneegestöber in 6—7 Stunden ( hin und zurück ) bestiegen hat.

Mit einem, wenigstens meinerseits, aufrichtig gemeinten: „ Auf Wiedersehen, aufgeschoben ist nicht aufgehoben !" wandten wir um 9 Uhr dem trotzigen Kerl den Rücken, und im Kriegsrat ward beschlossen, den noch namenlosen Punkt 3446 2 ) östlich von der Clubhütte in Angriff zu nehmen. Unsere Route führte zuerst in leichtem Bogen nach rechts ansteigend einen Schneehang hinauf, dann nach links durch ein Chaos von Spalten, dann direkt eine steile Firnhalde empor, und nachdem wir den Bergschrund überwunden, standen wir um 11 Uhr am Fuße der Gipfelfelsen. Wir kletterten gemächlich hinan, fleißig nach Krystallen spähend, von denen wir ziemlich zahlreiche, aber nicht sehr schöne Exemplare fanden. Nach den Felsen folgte noch eine Schneekuppe, und um 1 Uhr standen wir auf der Spitze ( 3446 m ). Die Aussicht war ähnlich, wie auf dem Dammastock, doch weniger malerisch. Am meisten imponierte mir der Kehlengletscher, der düster und unheimlich in enger Felsschlucht cirka 700 m tief fast lotrecht zu unseren Füßen lag. Da die Felsen gut sind, schien uns der Abstieg nicht unmöglich. Der Genuß der Aussicht wurde übrigens beeinträchtigt durch eine kalte Bise. Wir suchten uns ein sonniges, vor derselben geschütztes Plätzchen aus, und legten uns seelenvergnügt auf warme Felsplatten zum Mittagsschläfchen nieder. Nur Montandon war mißvergnügt, weil ich seinen Appetit unterschätzt und zu wenig Brot mitgenommen hatte.

Wir erlaubten uns, den Gipfel „ Trifthorn " zu taufen, obschon wir nicht die ersten Besteiger waren. Die Tour ist im Fremdenbuch bereits 1891 von zwei Engländern, MM. Powell und Gare, beschrieben l)\ freilich wählten sie einen erheblich schwierigeren Weg, als wir. Auch fanden wir am Fuß der Gipfelfelsen Fußspuren, welche wahrscheinlich von den Herren Wyß, Hügli, Baumgartner und Plüß herrührten, die cirka eine Woche vorher den Maasplankstock vom Gletscher „ im Sack " aus bestiegen, dann den zerklüfteten Grat bis zu unserem Gipfel überklettert hatten und ungefähr auf dem von uns gewählten Wege abgestiegen waren: gewiß eine sehr respektable Leistung.

Der Abstieg ( 2'/a Uhr bis 4*/a Uhr ) bot nichts Besonderes. Nur der Bergschrund, den wir an einem andern Ort, als am Morgen, passierten, machte einige Schwierigkeiten. Gaßmann und ich nahmen ihn als Turner in gewaltigem Sprung, Montandon rutschte als alter Gletscherfahrer sitzend über eine gebrechliche Schneebrücke hinab. Als wir die Schrunde hinter uns hatten, schlug ich, da ich zufällig voranging, einen leichten Trab den aufgeweichten Firn hinunter an. Darauf ertönte dumpfes Brummen von der Nachhut Montandon her. Ich glaubte, er murre nach alter Ge wohnheit über die Richtung, die ich einschlug, und der Ärger darüber ( denn ich fühlte mich im Recht ) beschleunigte und verlängerte meine Schritte um so mehr, je lauter das Brummen hinten ertönte. Schließlich langten wir in hellem Galopp nach wenigen Minuten bei der Moräne unten an. Da bekam ich ein schönes Kapitel zu hören über den Unverstand, so hinunter zu rennen. Ich hatte nämlich nicht bedacht, daß ich allein Steigeisen trug, und meine Kameraden bei dem schnellen Tempo alle Kunst aufbieten mußten, um nicht auszugleiten, und nicht vom Seil umgerissen zu werden. Sie schwitzten beide gehörig. Gaßmann hatteSiehe auch Band XXVII des Jahrbuchs S.A.C., pag. 350.

seinen Zorn verschluckt, und Montandon hatte nicht bedacht, daß seine Maske keineswegs schallverstärkend wirkte, daß er also etwas deutlicher hätte brummen müssen, um sich verständlich zu machen, wenn er etwas Ungewöhnliches wünschte; denn es ist sonst nicht seine Gewohnheit, beim Abstieg zu reklamieren, daß es zu schnell gehe. Ich benutzte die Gelegenheit, meinen Freunden die Steigeisen System Wanner x ) bestens zu empfehlen, und nach einer halben Stunde saßen wir wieder in herzlicher Eintracht hinter der Erbssuppe.

Es mochte nachts 2 Uhr sein, als ich, durch ein plätscherndes Geräusch geweckt, mit einem Fluche auffuhr. Gaßmann fragte mich schlaftrunken und höhnisch, ob mich jetzt auch ein Floh gebissen. Ich hätte mich gerne von hundert Flöhen beißen lassen, wenn das, was ich wahrnahm, als ich den Kopf zur Thüre hinausstreckte, nicht wahr gewesen wäre. Es regnete, schneite und hagelte nämlich durcheinander, was nur vom Himmel herunter mochte. Dazu blitzte und donnerte es beständig drüben im Westen; kurz, mit dem schönen Wetter war es offenbar vorbei. Da nichts daran zu ändern war, legten wir uns aufs andere Ohr, und schliefen bis in den hellen Tag hinein. Der Regen dauerte immer noch fort. Doch der Mediziner ist vor dem Examen nie um Unterhaltung verlegen; Gaßmann nahm seinen Auszug aus der gerichtlichen Medizin hervor, ich meine Augenheilkunde, und wir hätten sicher viel gelernt, wenn nicht Freund Montandon, behaglich und warm in ein halbes Dutzend Decken eingehüllt, uns mit schlechten Witzen beständig gestört hätte.

Mittags drang endlich die Sonne durch, und wir machten uns schon zum Erklettern des Thältistocks bereit: da brach mit Blitz und Sturm wieder ein Hagelwetter herein, vor dem wir schleunigst unter Dach flüchteten. Um 2x/2 Uhr hellte sich der Himmel wieder auf. Pickel und Seil wurden schnell zur Hand genommen, und Montandon und ich brachen gegen den Thältistock auf. Kaum hatten wir einige Schritte gethan, so entflammte ein warmer Sonnenstrahl Montandons Unternehmungslust zu dem Ausspruch: es wäre eigentlich noch schöner, am Abend auf dem Diechterhorn zu stehen. Mein thatendurstiges Herz jauchzte Beifall; ich rannte in die Hütte zurück, ermahnte Gaßmann, keine Angst zu haben, falls wir erst spät heimkehrten, steckte die Laterne zu mir, und vergaß in der Geschwindigkeit die Streichhölzer.

Im Schnellschritt eilten wir den Gletscher hinauf; wir erreichten das obere Plateau in der Hälfte der vorgestern gebrauchten Zeit. Der Schnee war vorzüglich, vom Regen zwar etwas schlüpfrig, doch so kompakt, daß wir nur wenig einsanken. Wir zogen uns schräg rechts den cirka 30 ° geneigten Hang hinauf, und waren guter Dinge und voll Zuversicht.

Da tauchten plötzlich schwarze Wolken aus dem Gadmenthal auf und hüllten uns im Nu dermaßen ein, daß wir keine zehn Schritte weit sehen konnten. Dazu begann es zu regnen. Was thun? Vorrücken in dem dichten Nebel war wegen der vielen Spalten nicht rätlich; Montandon war halb fürs Umkehren, ich fürs Zuwarten. So blieben wir vorläufig im nassen Schnee stehen, der Dinge harrend, die da kommen sollten. Nach etwa 20 Minuten verzogen sich die Nebel wieder so schnell, als sie gekommen waren, und in beschleunigtem Tempo klommen wir bergan. Wir durften das schon riskieren, obgleich jeden Augenblick ein neues Gewitter losbrechen konnte; denn wir waren beide keine Neulinge in den Bergen, und hatten schon mehr als ein Bivouak über der Schneegrenze durchgemacht. Ich war vorzüglich disponiert, und hätte am liebsten Laufschritt angeschlagen. Montandon dagegen war nicht recht im Strumpf, oder vielmehr in den Strümpfen; denn er hatte deren zwei Paare angezogen, ebenso zwei Hemden, und beklagte sich, sie gäben ihm zu warm. Weil aber weder der Ort, noch die Zeit zum Entkleiden da war, mußte er eben schwitzen.

Trotz unserer Eile war es 5x/2 Uhr, als wir den Bergschrund am Fuße des Felskamms erreichten, welcher das Diechterhorn krönt. Weil der Gipfel meist in Nebel verborgen gewesen, waren wir etwas zu weit nach links geraten; rechts wären die Felsen offenbar leichter gewesen. Immerhin boten sie auch hier keine ernstlichen Schwierigkeiten, und um 6 Uhr hatten wir den Gipfel genommen ( 3389 m ). Jetzt erst gönnte ich mir Zeit, mich nach der Aussicht umzuschauen, und was ich sah, übertraf alle meine Erwartungen. Steil fiel gegen Westen eine Felswand in ein enges, tiefes Thal hinunter, welches zu beiden Seiten fürchterlich zerrissene Felsgräte einfaßten, und weit drunten im Thal glänzte ein kleiner, dunkelblauer See in grünen Matten. Es war das Diechterthal mit den Gelmerhörnern und dem Gelmersee. Und drüben im Westen that sich eine Gebirgswelt auf, die mir in ihrer schaurigen Großartigkeit einen so tiefen Eindruck machte, wie ich ihn sonst kaum je auf den Bergen empfunden. Die Riesen der Berneralpen: die Urbachthaler-Berge, Wetterhorn, Schreckhorn, Lauteraarhorn, Finsteraarhorn u. s. w. u. s. w., standen in finsterer Erhabenheit da in der Düsterheit des Gewitterabends, nur hie und da von der sinkenden Sonne, die zuweilen blutrot aus einer schwarzen Wolkenritze hervorschaute, magisch beleuchtet. Eine solche Aussicht bei solcher Beleuchtung ist wohl nicht oft dem Bergsteiger vergönnt. Vielleicht hat der erste Mensch, welcher auf unserem Gipfel gestanden und ihn getauft hat, Ähnliches gesehen und empfunden, und, falls er poetisch veranlagt war, seinen Gefühlen sicher in einem Gedichte Luft gemacht. So könnte sich der etwas seltsame Name „ Diechterhorn " erklären; denn „ Dichter " wird im Oberland „ Diechter " ausgesprochen. Ich bin übrigens für bessere Belehrung sehr dankbar.

Montandon hatte sogar seinen Magen vergessen, ob wegen der Aussicht, oder wegen der Eile, oder weil wir keinen Proviant bei uns hatten, weiß ich nicht. Wir durften leider nicht lange säumen, wenn wir noch vor Nacht hinunter kommen wollten. Ich selbst drängte zum Aufbruch; denn die vergessenen Streichhölzer waren mir bei zufälliger Erwähnung der Laterne in den Sinn gekommen und brannten mir auf dem Gewissen. Montandon war jetzt in seinem Element, da es galt, der Gefahr, von der Nacht überrumpelt zu werden, mit Thatkraft und Geschicklichkeit zu entgehen. Er wollte absolut ganz gerade die Felsen hinuntersteigen und den unten klaffenden Bergschrund rutschend passieren. Mir war nicht wohl dabei, doch ging ich gehorsam, am Seil gehalten, voran. Da stieß ich unter den Felsen auf Eis, statt auf den erwarteten Schnee. Der Bergschrund gähnte bedenklich weit und schwarz, und einige zur Prüfung der Schneebrücken losgelöste Steine machten nur zum Teil den von Montandoli für uns projektierten Weg darüber, zum andern Teil schlugen sie dumpf durch die Brücken durch. Den letzteren zu folgen, fühlte ich keine Begeisterung, und trotz der lebhaften Protestationen Montandons kletterte ich wieder hinauf, und, wenn auch brummend, mußte er mit mir den gleichen Weg zurück, auf dem wir heraufgekommen waren.

Wir hatten mit der Kletterei nutzlos eine halbe Stunde verloren; es war jetzt in zehn Minuten 7 Uhr, um 8 Uhr wurde es dunkel, und wir standen noch auf dem Gipfel des Diechterhorns. Es galt also, sich zu sputen. Einmal unter den Felsen angelangt, genossen wir den Vorteil, unseren alten Spuren folgen zu können, ohne Angst vor den Schrunden, die wir ja kannten. Und wir profitierten von diesem Vorteil. In mächtigen Sätzen rannten wir bergab, nur bedauernd, daß nicht Edison mit seinem Kinetographen zugegen war, um uns so im Sprung zu fixieren; das Motiv wäre entschieden ein dankbares gewesen. Auf dem obern Gletscherplateau begann es zu dunkeln, und Montandon verlangte die Laterne. Ich reichte sie ihm mit der unschuldigsten Miene. „ Und die Zündhölzchen ?" fragte er. „ Ja, hast du denn auch keine ?" entgegnete ich möglichst unbefangen. „ Neinund mit einem derben Ausdruck wurde die Laterne ad acta gelegt. Darauf legte Montandon wieder einmal Zeugnis ab von seinem mir von früheren Gelegenheiten her schon bekannten Ortssinn und Pfadfindertalent. Sicher und schnell fand er den Weg durch das Labyrinth von Spalten, über die zahllosen Schneebrücken und Eiswälle, und um 81U Uhr standen wir wohlbehalten bei der Moräne. Gaßmann, durch unser Jauchzen auf unsere Ankunft vorbereitet, zog die Lehre von vorgestern zu nutzen: er holte uns nicht ab, sondern empfing uns mit Reissuppe und Kaffee.

In der Nacht regnete und stürmte es wieder, ebenso am Morgen. Unseres Bleibens in der Clubhütte war deshalb nicht länger, und wir ergaben uns schon in das Schicksal, auf dem gleichen Wege, den wir gekommen, wieder abziehen zu müssen. Zuvor reinigten wir mit großem Aufwand von Wasser und Fleiß die Hütte samt Mobiliar und Kochgeschirr dergestalt, daß unsere Nachfolger sich wahrlich nicht beklagen durften. Als wir damit fertig waren — es mochte etwa 8 Uhr sein — heiterte sich das Wetter auf, und wir beschlossen, wenigstens noch rühmlich abzuziehen, je nach dem Wetter über die Triftlimmi zur Grimsel, oder über die Gelmerlimmi oder den Thieralplistock zur Handegg.

Jedenfalls dachten wir nicht daran, eine anstrengende Tour zu unternehmen, und bummelten deshalb möglichst gemütlich die Moräne hinunter, und den Gletscher hinauf. Das Wetter wurde immer schöner, und wir wendeten uns daher im „ Triftkessel " nach rechts, etwas weiter südlich, als vorgestern, der Gelmerlimmi zu. Erst um 11 Uhr 20 Min. erreichten wir dieselbe. Wir machten einen langen Halt, setzten unsern bedenklich schwindenden Vorräten wacker zu, Montandon zeichnete, und Gaßmann und ich stritten über die Namen der Berge, speciell darüber, welches denn eigentlich der Maasplankstock sei. Als Montandon mit Zeichnen fertig war, und wir uns die Köpfe heiß gestritten — ich behielt übrigens schließlich Recht — schlugen wir uns in die Felsen, welche links zum Thieralplistock hinaufführen. Es war eine stramme zweistündige Kletterei, bald über den zackigen Grat, bald an der abschüssigen Westflanke, nicht gerade schwierig, aber doch Vorsicht erheischend wegen der lockeren Beschaffenheit des Gesteins. An einer Stelle fanden wir sehr hübsche Rauchtopase. Einige mehrpfundige Granitstücke, welche hübsche Krystalldrusen trugen, wanderten in meinen Rucksack. Sie waren offenbar von Strahlern losgeschlagen, aber wegen ihres beträchtlichen Gewichtes zurückgelassen worden, und wurden deshalb auch von meinen Kameraden verschmäht. Ich aber schleppte sie glücklich bis nach Bern — es war nämlich das erste Mal, daß ich Rauchtopase fand — und sie schmücken jetzt meinen Schreibtisch. Zuletzt hatten wir noch ein steiles vereistes Couloir vermittelst Stufen zu traversieren, und um 3 Uhr lagerten wir uns auf der nördlichsten Schneekuppe des vielgipfeligen Thieralplistocks ( 3400 m ). Die Aussicht war ähnlich derjenigen vom Diechterhorn, noch etwas ausgedehnter, aber in der hellen Nachmittagssonne lange nicht so imposant, wie gestern abend. Leider war uns das Brot ausgegangen, zu Montandons großem Bedauern; wir stillten den Hunger mit Büchsenfleisch und Chokolade.

Um 33 m Uhr begann der Abstieg. Er führte uns etwa eine Stunde lang steile, aber unschwierige Felsen hinunter; dann mußten wir wieder das nämliche Couloir, wie oben, traversieren, eine mühselige Arbeit, da das Eis hart, und das Couloir hier fast noch steiler und bedeutend breiter war, als oben. Zudem brach ein Gewitter los, gerade als wir am Stufenschlagen waren. Wir gratulierten uns deshalb, als wir um halb 6 Uhr endlich auf dem Diechtergletscher standen, und sputeten uns, ins Diechter- thal hinunter zu kommen. Nach dreiviertel Stunden vertauschten wir den Gletscher mit Felsen zur rechten Hand. Dieselben waren mit Moränenschutt bedeckt, und äußerst mühsam zu begehen; nach abwärts wurden sie steiler, und wo unten ein Ausweg sich fände, konnten wir nicht sehen. Aufs Geratewohl polterten Gaßmann und ich nach links einen abscheulichen Krachen hinunter; ganze Lawinen von Steinen und Schutt lösten sich unter unseren Füßen und donnerten in die Tiefe. Item, um 7 Uhr standen wir beide wohlbehalten im Thalgrund, da wo der Diechterbach in ein Delta von kleinen Bächlein sich auflöst. Wir setzten uns nieder, und warteten auf Montandon, der oben nach rechts abgeschwenkt war. Wir warteten mehr als eine halbe Stunde, und begannen schon zu fürchten, er habe sich einen Fuß verstaucht, oder es sei ihm sonst etwas passiert; da endlich erschien er jodelnd weit hinten im Thalgrund. Er hatte einen tüchtigen Umweg machen und eine heikle Kletterei bestehen müssen.

Wir fühlten uns nun in Sicherheit, und trotteten gemächlich dem Bach entlang über blumige Wiesen, die unseren Füßen nach den Gletschern, Felsen und Moränen wie weiche Teppiche vorkamen. Da plötzlich standen wir still, wie der Ochs am Berge, doch nicht vor einem Berge, sondern vor einem wohl 100 bis 150 Meter tiefen Abgrund, über den der Bach sich tosend hinunterstürzte. Lauter glatte Platten glänzten unter uns, an ein Hinunterklettern war hier nicht zu denken. Rechts winkten ebenfalls glatte Platten, die linke Seite des Thales konnten wir nicht überblicken. Die Nacht rückte mit Riesenschritten heran. Montandon und ich hätten am liebsten bivouakiert; Gaßmann protestierte aber entschieden dagegen, weil er sich nicht erkälten wollte. Hinunter mußten wir also absolut irgendwo; rechts und gerade hinab ging 's nicht, die einzige Möglichkeit blieb also links, und dorthin lenkten wir deshalb unsere Schritte.

Über das, was folgte, will ich nicht viele Worte verlieren; die Nacht deckte es mit dem Mantel christlicher Liebe zu. Nur so viel will ich verraten, daß wir auf der linken Seite wirklich ein Karrenfeld fanden, in vollständiger Finsternis dasselbe hinunterstolperten — unsere zwei Laternen durften wir nicht anzünden, um nicht die Richtung zu verlieren — stets auf der Hut, nicht unversehens in einen Abgrund zu stürzen. Und als wir wieder ebenes Terrain unter den Füßen hatten, und uns geborgen wähnten, da wiederholte sich die gleiche Enttäuschung: wieder ein ebenso hoher Wasserfall, über glatte Platten hinabstürzend; wieder tasteten wir uns nach links durch, und wieder stolperten wir eine Trümmerhalde hinunter — dann endlich, um halb 1 Uhr, standen wir auf der unteren Thalsohle. Während dieser nächtlichen Kletterpartie war ein Gewitter dem andern gefolgt; wir achteten jedoch kaum mehr des Regens. Ich war zum-Glück sehr gut disponiert, fühlte gar keine Müdigkeit, und fiel nur zwei Mal um, freilich beide Male gehörig. Freund Gaßmann dagegen klagte, er habe den halben Weg auf dem Hintern gemacht und sei hundemüde. In einer Balm bezogen wir ein Bivouak; ich packte die besten Leckerbissen aus, welche die Tiefe meines Rucksacks noch barg: marinierten Thunfisch und Sardinen in 01, holte Wasser und setzte mich dabei, von der Laterne geblendet, in den Bach hinein; dann kochten wir Thee zu wiederholten Malen, zuerst mit, dann ohne Zucker, und ruhten etwa eine Stunde lang aus.

Es wäre ganz bequem gewesen, hier zu übernachten; doch konnten, der Karte nach, die Gelmerhütten nicht mehr weit weg sein, und wir machten uns auf, sie zu suchen. Das Glück war uns hold; nach wenigen Schritten fanden wir eine Brücke über das Wildwasser, wenn man einen einzigen, schmalen, vom Gischt benetzten Balken eine Brücke nennen darf. Ohne Unfall rutschten wir hinüber; nur dem unseligen Gaßmann entfiel bei der Passage der Auszug der gerichtlichen Medizin aus der Brusttasche zu unser beider großer Betrübnis; denn wir hatten manche Stunde daran gearbeitet und uns fürs Examen viel davon versprochen. Nun bot er den Fischen im Gelmersee Gelegenheit, sich über die Entdeckung von Giftmischern, Kindsmörderinnen u. dgl. zu orientieren, was ihnen im friedlichen Gelmerthal doch kaum von Nutzen sein dürfte. Jenseits der „ Brücke " fanden wir wirklich zwei Hütten, eine baufälliger als die andere. In der größern war sogar etwas Heu und Holz. Im Nu hatten wir uns wohnlich niedergelassen; bald prasselte ein lustiges Feuer und beleuchtete drei vom Kopfe bis zu den Füßen dreckige Gestalten, und im Kessel brodelten der Reihe nach Erbssuppe, Chokolade, Thee und Kaffee. Dann drängten wir uns der Wärme halber auf der Pritsche zusammen, so daß keiner mehr ein Glied rühren konnte, und schnarchten sofort um die Wette.

Als ich am Morgen durch einige Rippenstöße von meinem Nachbarn aus dem Schlafe gerüttelt wurde, war mir ungefähr gleich zu Mute, wie in einem riesigen Katzenjammer. Der Kopf und alle Glieder waren schwer wie Blei; der ganze Körper that mir weh; ich fühlte mich „ gebrätscht ", wie der Berner sagt. Langsam wälzten wir uns von der Pritsche hinab, langsam putzten wir einander den gröbsten Kot ab. Montandon raffte sich sogar zu einer Generalwäsche auf, während Gaßmann und ich auf einem Felsblock uns sonnten und zu den Wasserfällen hinaufschauten, uns wundernd, wie wir in dunkler Nacht so glücklich da heruntergekommen; denn wir hatten, soviel wir sehen konnten, wirklich den einzig gangbaren Weg gefunden. Dagegen hätte ein offenbar viel leichterer und kürzerer Weg vom Thieralplistock nach links über den Alpligletscher hinab geführt. Übrigens war es wunderschön im Gelmerthal mit den Gletschern im Hintergrund, den schroffen Felsen zu beiden Seiten, den Urbachthaler-bergen gegenüber, und dem friedlichen See mitten in grünen Weiden. Meine Stimmung war dazu angethan, namentlich das Grausige, wild Romantische der Situation zu erfassen.

Um 8 Uhr nahmen wir Abschied von diesem idyllischen Ort. Wir passierten das rechte Ufer des Gelmersees und stiegen den Katzenweg hinunter, welcher seinen Namen mit Recht trägt und angehenden Bergsteigern zur Übung im Klettern bestens empfohlen werden kann. Bei der Handegg war die alte Brücke abgebrochen und die neue leider noch nicht erstellt. Wir mußten deshalb etwa 20 Minuten weiter hinauf, bis dahin, wo die Grimselstraße die Aare überbrückt. Statt dieser 20 Minuten brauchten wir gute zwei Stunden, und daran waren die Heidelbeeren schuld, die hier in Hülle und Fülle und in einer Größe wuchsen, wie ich sie früher nie gesehen. Erst als wir uns den Magen damit überfüllt und Gesicht und Hände gebläut hatten, vermochten wir uns von dem Götterschmause loszureißen. Dann trotteten wir Guttannen zu: „ wie halbe Idioten ", wie Freund Montandon mehr wahr als schmeichelhaft bemerkte. Zu unserem Tröste setzte ein richtiger Landregen ein; es ist ja die Heimkehr von den Bergen nie angenehmer, als bei Regenwetter.

In Guttannen ließen wir uns das „ Henkersmahl ", mit Waadtländer befeuchtet, trefflich munden. Dazu kaufte ich mir eine geschnitzte Pfeife, was ich nie unterlassen kann, wenn ich ins Haslithal komme. Bis Innertkirchen nahmen wir ein Fuhrwerk, und schwitzten zum Schluß noch einmal über den Kirchet hinüber.

Vom Rest der Heimreise kann ich nicht viel erzählen; er ist mir selber etwas dunkel. Ich machte es mir nämlich zur Ehrensache, meine neue Pfeife noch unterwegs tüchtig anzurauchen, was bekanntlich weder gut schmeckt, noch gut thut. Auf dem Brienzersee wurde mir richtig sterbensübel. Dann fiel ich in festen Schlaf, aus dem mich meine Freunde nur mit Mühe jeweilen beim Umsteigen wecken konnten. In Thun wäre ich ausgestiegen, weil ich glaubte in Bern zu sein, wenn mich nicht der Conduktenr eines Bessern belehrt hätte. Und als ich endlich wieder im eigenen weichen Bette lag nach so mancher im Heu zugebrachten Nacht, fühlte ich mich im Paradies, schlief den Schlaf des Gerechten und träumte sehr angenehm davon, wie ich den Kilchlistock von Guttannen nach dem Triftgletscher traversiere. Ich werde diesen Traum bei der ersten Gelegenheit zu verwirklichen suchen.

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