Erinnerungsbilder aus Lötschen
Von E. Mumenthaler.
Die Fahrten im Lötschental zählen zu meinen schönsten Bergerinnerungen. Manche Zinne seiner trotzigen Berge wurde mir geschenkt. Nur wenige Menschen suchten damals, als es noch abseits vom Weltverkehr stand, seine Gipfel und Grate auf; man konnte noch allein sein. Unbeschriebenes Neuland waren sie aber schon lange nicht mehr. Die Schilderung von Besteigungen fände an dieser Stelle wenig sportliches Interesse, sie liegt überdies nicht in der Absicht des Verfassers. Ich möchte anspruchslos vom flüchtigen Glück einsamer Stunden im Lötschental berichten.
Die Firnkappe des Hockenhorns erstrahlt schon im Purpurschimmer des erwachten Tages, als ich durch tauige Matten und Erlengebüsch talein nach Gasteren wandere.Vielarmig trollt sich die Kander friedlich der Klus zu, bespritzt Felsblöcke mit weissem Gischt und nagt an faulendem Baumwerk. Auf einer primitiven Holzbrücke übersetzt der Pfad das Talwasser und führt zum ordentlichen Fussweg hinüber, der sich den untersten Abstürzen des Doldenhorns anschmiegt und durch Gebüsch, Felstrümmer und Hochwald mühelos zu den Hütten von Seiden ansteigt. Noch ruhen Morgenschatten im Grunde. Kein ungewohnter Laut schreckt die friedliche Stille. Mit innigem Behagen geniesse ich die Wonne des Wanderns, während die Strahlen der Sonne immer tiefer in das Felsental herabdringen, oben auf den eisigen Höhen jedoch das Licht längst schon sieghaft von Gipfel zu Gipfel geschritten ist.
Drüben am linken Ufer des Flusses steigt aus dem Talboden ein stutziger Rasenhang zur Gfällalp und bis zur Balm hinauf, wo der zwischen Balmhorn und Hockenhorn eingebettete Lötschberggletscher seine schmutzige Zunge über kahle Felsen herunterstreckt. Dort hinauf führt die Wegspur über den Lötschenpass. Die Steigung beträgt 1200 m und liegt in voller Sonne. Das wird heiss werden! Dazu fängt das Gewicht am Rücken zu drücken an, und von Stirn und Nase tropft der Schweiss. Doch da fühle ich die geissein den Worte Carlyles wie einen Weckruf zur Arbeit in meinem Gewissen brennen, und mit neuer Triebkraft geht es aufwärts.
In steilen Kehren windet sich der Fussweg durch Weiden- und Alpen-erlengebüsch zur sagenumsponnenen Gfällalp, 1840 m, hinauf, wo mir auch gar nichts Ungeheuerliches begegnet als ein taufrisches, rosiges Mädchen mit blossen, runden Armen und offenem, schönem Hals. Etwas weiter oben stehen herrliche, alte Lärchen, unter deren Schatten sich gut träumen liesse zum Rauschen des Leitibaches, der in der Nähe über Felsen niederstürzt. Aus einer Bodennische fahren zwei Birkhühner hoch und verschwinden unten hinter einer Legföhre. Schliesslich bleibt auch das letzte Grotzeri-tännchen zurück, die Grasnarbe versandet allmählich im Moränenschutt, über welchen ich aufatmend die Balm, 2421 m, am linken Nordende des Lötschberggletschers erreiche, wo ich mich zu einer ausgiebigen Rast niedersetze.
Noch steigt der Gletscher bis zu seinem höchsten Punkte etwa 300 m an. Sein unterer Teil ist von Schnee völlig entblösst und teilweise mit Schutt überlagert. In den Spalten, die ihn kreuz und quer durchfurchen, lärmt zu reissenden Bächen angeschwollenes Schmelzwasser. Wenn ich den Kopf ganz zurückbiege, so erblicke ich hoch im Ätherblau die Zinne des Balmhorns, 3711 m, dessen ungeheure, jäh niederstürzende Ostwand einige Hängegletscherchen bekleiden, von welchen ab und zu Eisblöcke loskrachen.
Bald stehe ich unten auf dem Gletscher, dessen Spalten leicht zu überspringen sind, und beginne im tiefen Schnee die Bergflanke emporzusteigen. So viel als möglich halte ich mich an die plattigen, mit Geröll überdeckten Felsen. Schritt für Schritt stapfe ich empor, sinke bis über die Knie ein, verklemme die Füsse zwischen verborgenen Steinklippen, arbeite sie frei und sinke wieder ein. Mechanisch schaffen die Beine, der Geist stellt das Denken ein. Stumpfsinnig geht es tripp-trapp mit der lästigen Fracht des übrigen Menschen den unendlichen Hang hinan. Die Felsen glühen. Un-erträglich ist die Hitze. Unerträglicher noch der Durst. Stieren Blickes starre ich auf das finstere Mundloch der Feldflasche, die mir den letzten Labetrunk kurzweg versagt. Ein blödes Lächeln irrt um meine Lippen, es flackert vor den Augen, ächzend werfe ich mich auf den « Büsserschnee » und schmettere die hohle Flasche in den Sack hinein. Über eine Trümmerhalde von rötlichem, kristallinischem Schiefer erreiche ich endlich vor dem Felsdaumen des Kleinen Hockenhorns die Grathöhe und damit die Grenzscheide zwischen Bern und Wallis. In kurzer Entfernung findet der Bergkamm nordöstlich seinen vorläufigen Abschluss im Hauptgipfel des aus mächtigen Felsblöcken geschichteten Hockenhorns. Über den Grat guxt ein frostiger, harter Wind und jagt die Wolken dem Südwesten zu, wo sie sich hinter dem Ferdenrothorn zu einer finstem Wand zusammenballen. Bei dieser Luft wird es nicht möglich sein, den Photographenapparat aufstellen zu können. Also lasse ich den Rucksack hinter einem Felsblock warten und strebe dem Gipfel zu.
Die Aussicht vom Hockenhorn ist schön, und was sie mir besonders lieb macht, sie ist malerisch. Die Höhe von 3297 m schliesst wohl eine ausgedehnte Rundsicht aus. Aber sie hat den Vorzug, den Raum vom Vordergrund zum Hintergrund in wohltuendem Rhythmus zu entwickeln, was das Versenken in die Schönheit der Aussicht ausserordentlich begünstigt.
Inmitten einer mächtigen Einfassung von hohen Gebirgen ruht das Lötschental, versunken in ein Meer von Farben und Lichtern. Nichts Kleinliches hemmt den Blick. Auch hier nur breite Linienzüge im weichen Grün der Matten und Weiden, im dunkleren der Wälder. Wo am gegenüberliegenden Berghang schemengleiche Wolkenschatten gleiten, da quellen Farbenwellen über von stufenweisem Grün und Blau auf rötlich schillerndem Grund. Eine heisse Sinnenfreude juckt in meine Augen ob dieser jauchzend farbigen Wunder. Doch wie still ist meine Welt! Kein Laut, kein Schrei dringt herauf, nicht einmal Herdengeläute. Wohl raunt der Wind, und in starren Fesseln des Gesteins rieseln Wasser zur Tiefe. Doch diese Bewegung ist nicht Leben, sondern mutet mich an wie ein Hauch von Ewigkeit her, so dass ein unbekanntes Gefühl innerlichen Erschauerns mich schier bedrücken will. In düsterem Dunkel steht das Ferdenrothorn. Seine Steilwand wächst ins Ungeheure, in die finstern Wolkenballen, die den Gipfel wie Dämonen umkreisen. Auf den grünen Matten tief unten lächelt Sonnenschein.
« Auf den Platten » nennt sich der mit Geröll und Grasbändern durchsetzte steile Südwesthang des Berges, dessen Begehung einige Vorsicht heischt. Vom Pass aus führt eine Wegspur nach Süden, doch liegt sie mir zu weit ab. In angenehmer Kletterei steige ich zur Alpweide des Brunnenbodens, 2400 m, hinunter. Aus dem reichen Grün saftiger Gräser und Kräuter leuchten Saxifragen, Silenen, Ranunkeln, und dicht daneben schmilzt der letzte Schnee. Murmelnd stolpern die silbernen Bächlein zu Tale, wo sie der Ferdenbach in sein aufgeschürftes Bett sammelt. Wohlig warm und windstill ist es hier, weit und frei der Blick und die Luft voll Blumenduft. Mein ist diese Stunde. Ich lege mich ins Gras, um ihre Weihe mit Musse auszukosten. Nichts stört meinen Gottesdienst, in welchem die Seele ohne Prister aus den Niederungen emporgezogen wird in ein Reich lichtvoller Schönheit.
Unter mir liegen die Hütten der Kummenalp im Abendfrieden. Etwas ganz Kleines bewegt sich dort, es müssen Menschen sein. Seitwärts steht ernst und gemessen ein grosses Kreuz, das Hockenkreuz. Im letzten Streiflicht der Sonne, hell begrenzt, tritt es auf Sekunden aus seiner schattigen Umgebung heraus, um ebenso rasch wieder darin zu verschwinden. Welch eine Erscheinung auf einsamer hoher Alp, feierlich und schön, nicht etwa wie ein Gruss aus der Geisterwelt, sondern wie ein Werk eines empfindsamen Künstlers, eingeordnet in die erhabene Grosse und Stimmung der Lötscherberge. Aus blauen Dämmerschatten des Tales recken sie sich in die Abendsonne empor, und auf den rostbraunen Felsen mit den Schneeflecken darauf ruht ihr letztes Leuchten wie der Segen eines goldenen Tages.
Langsam steige ich zur Kummenalp nieder. Kinder und Frauen warten am Wege, das Jungvolk liegt dem Heuen ob. Ein noch aufrechtes, altes Mütterchen steht vor ihrer niedern Hütte, das schwarze Kapötchen auf dem weissen Scheitel. « Guten Abend gewünscht! » — « Danke Gott! » — « Kann ich einen Schluck Milch bekommen? » Wortlos verschwindet sie in der Küche und kehrt mit einem Hafen voll kalter Milch zurück, dieweil Kinder mich neugierig umstehen und auf Fragen doch kaum eine schüchterne Antwort herausbringen. Wohlig schlürfe ich zwei Tassen voll, während die Frau sich an den Türpfosten lehnt und über ihr Gesicht allerlei Fragen huschen. Noch eine Pfeife lang sitze ich bei dem Mütterchen, plaudernd über woher und wohin, von uns selbst und den Kindern, bis das Sterben der Farben und Lichter kommt und ich von der Höhe in die dunklen Schatten des Tales hinunterwandre.
In der Dämmerung erreichte ich Kippel. Durch die Stille tönt das Bimmeln der Rosenkranzglocke. In den finstern Gassen hocken die Männer beieinander. Den Kopf entblösst, murmeln sie halblaut ihr Gebet. Aus erleuchteten Stuben springen Lichter auf das holperige Pflaster. Mein Weg windet sich um Häuser-ecken und führt unter einem steinernen Rundbogen in zwei, drei Stufen zum Friedhof hinauf, an der Kirche vorbei. Die Türe ist halb offen, im dunklen Raum glüht das ewige Licht. Über den Gräbern liegt das Schweigen der Erlösung. Gedämpft dringt das Rauschen der Lonza herauf. Über dem Schattenriss der Bergwand flackern die Sterne, flimmert die Milchstrasse. Aus einem Fenster der Kaplanei bricht heller Schein. Ob man meiner noch wartet? Auf mein Klopfen antwortet Hundegebell, dann knarren Türen. Eine Frau mit herben Gesichtszügen erscheint mit einer Laterne in der Türöffnung. Kein Schimmer eines Lächelns erhellt ihren unbeweglichen Ausdruck, als ich mich zu erkennen gebe. Wortkarg geht sie voran in die niedere, schwach erleuchtete Stube, wo der Spitz knurrt. Aus einem Lehnsessel erhebt sich eine bis fast an die Diele reichende, breitschultrige Gestalt in langer Soutane: Kaplan Hieronymus Brantschen9. Dezember 1913 ). Er begrüsst mich mit einem bemerkenswerten Handdruck und erleichtert mich von meiner Bürde. « Welch ein schwerer Rucksack und so ein kleiner Mann! » ruft er aus, wobei ihm der Schalk aus den Augen juckt und seine breite Hand mich auf den nächsten Stuhl drückt. Müde, wie ich bin, lehne ich mich behaglich zurück, um im lauschigen Halbdunkel noch einige Minuten mit meinem Gastherrn zu plaudern und von seinem weissen, perlenden Walliser zu trinken, den er aus-schenkt.
Wie so ganz anders als in einem Gasthofe ist der Empfang hier im gemütlichen Hause über der Lonza! Nicht wie eine Nummer bin ich aufgenommen, sondern wie ein altbekannter Freund, der das beste Bett und das grösste Zimmer erhalten soll. Alle drei werden wir gemeinsam am gleichen Tisch essen, und mit dem Spitz werden wir sogar vier sein. Der Spitz ist übrigens ein gescheites, manierliches Tierchen, das mit ganzer Hundeseele an seinem guten Herrn hängt. So sehe ich mich in einen Familienkreis aufgenommen, in dem ich vermutlich der verhätschelte Adoptivsohn sein werde. Denn auch mit der Haushälterin, der Kaplan-Marie, die mich von unten am Tisch, über eine Handarbeit gebeugt, hin und wieder verstohlen betrachtet, werde ich mich gewiss gut stellen, mindestens so gut wie mit Spitz, der mir bereits Pfötchen gibt. Aus dem Her und Hin unseres ungezwungenen Plauderns keimt bald jene Wärme gegenseitiger Gewogenheit, die mir für die kommenden Tage von guter Vorbedeutung erscheinen will. Überdies ist Kaplan Brantschen in seinen jungen Jahren Bergsteiger, ja eine Zeitlang sogar Bergführer gewesen. Mit welcher nachklingenden Freude erzählt er von seinen Erlebnissen! Die Gilde der Gipfelsucher liegt ihm deshalb besonders am Herzen. Und wie viele ihrer haben seit Jahren in der Kaplanei die ideale Herberge gefunden und in Brantschen einen gemütvollen Freund und Berater, dessen ruhige Heiterkeit und Güte wie eine milde Sonne die Herzen gewann.
Die Sonne lacht zu den Fenstern herein, wie ich am andern Morgen erwache. Um und um wandern die Augen in der Allerweltsstube, in welcher eine Familie mit sieben Kindern bequem Platz fände.Viel steht nicht darin: vorn in der einen Ecke noch ein zweites ebenso grosses Bett mit Waschtisch, in der andern ein Schrank, ein rot überzogenes, zerschlissenes Ruhebett, an der einen Hinterecke der grosse, heimelige Kachelofen mit Schnörkeln daran und in der Mitte des Raumes ein runder Tisch mit grauem Überwurf und Stühlen darum. An den niederen Wänden des braunen Getäfers hängen buntfarbige Heiligenbilder und ein Kruzifix.
Der schönste Zimmerschmuck aber hängt draussen vor den Fenstern, wo die Lonza schäumt, wo die Sonne die Tannen herunterflitzt und wo aus steiler Höhe vor der Wölbung des tiefblauen Himmels das Bietschhorn winkt. Ich reisse die Fenster auf, damit die Sonne und die harzige, kräftige Luft die Stube füllen können. Wie schön das alles ist, die schlichte Herbheit meiner Kemenate und der Blick hinaus in die Flut der Farben und Lichter, über die niederen braunen Hütten hinweg zur eisbegrenzten Ferne!
Im Frohgefühl des sonnigen Tages und des vielen Schönen um mich herum schlendere ich, die Kamera unterm Arm, ins Dorf, das wie ein grosser, dunkler Fleck mitten in die grüne Landschaft hineingesetzt ist. Vorderhand gelüstet es mich, herumzustöbern in den engen, krummen Gassen mit dem allerlei malerischen Kunterbunts darin, in den verlorenen Winkeln und kreuz und quer abbiegenden Nebengässchen, die zum Schnüffeln nach Motiven locken.
Wie feiertäglich still es ist! Eine wohlige Ruhe um und um, so recht bereitet zur Besinnlichkeit und mit der Freude am Leben die Sonne ins Herz scheinen zu lassen, dass es mir mächtig warm unterm Brustfleck wird. Zwar ein Geräusch ist vernehmbar, doch stört es nicht, im Gegenteil, es müsste stören, wenn es verklänge. Es ist der Sang der Lonza, der in melodischen Triolen, bald heiter und bald grollend, aus der Tiefe des Staldens heraufklingt. Verstummt ist aller Lärm und das Geschrei der Stadt, der ich entronnen bin. Rasch verfalle ich dem Reiz dieses von der übrigen Menschheit so weit abgeschiedenen Dorfes, fühle mich heimisch. « Guten Tag gewünscht! » Drei Worte nur, die so leicht von den Lippen springen und doch wie Brücken von Herz zu Herz sind.
Gross ist es nicht und landläufig Interessantes bietet Kippel auch nicht. Neugierige, die nicht der Ruf der Berge hergelockt, muss es bitter enttäuschen. Hierher gehören starke Beine in derben Schuhen, und wem noch ein heiteres Gemüt und Freude am Natürlichen und einfach Schönen beschieden ist, auch wer das Bergwerkzeug zu meistern versteht, dem muss die Landschaft von Lötschen zum Erlebnis werden; insbesondere dem Mann der Palette und dem Lichtbildner wird sie Stunden ungetrübten Naturgenusses schenken.
Obschon das Wallis die geringsten Niederschlagsmengen unter den schweizerischen Regenmessstationen hat, also mit der Sonne eigentlich auf gutem Fuss steht, kriegt das Lötschental ab und zu doch auch finsteres Gewölk und Regenwetter zu Besuch. Dieses gebärdet sich oft recht unmanier-lich, tut, wie wenn es hier zu Hause wäre, und ist imstande, mitten im Sommer den Schnee bis ins Tal hinunter zu schmeissen.
Eine solche Schlechtwetterzeit in kurzen Ferienwochen ist für unternehmende Menschen eine recht schwere Geduldprobe. Namentlich in einem Bergdorfe, wo man in seiner Stube so ganz auf sich allein angewiesen ist, selbst das unterhaltendste Buch nur mit Widerwillen liest und alle Augenblicke die Nase an die Scheiben drückt, um festzustellen, dass es draussen immer noch Bindfaden regnet. Nähe und Ferne schluckt ein dünnflüssiger Nebel auf, der seine trostlos graue Decke über Weg und Steg, Häuser und Matten ausgebreitet hat. In hoffnungslose Traurigkeit ist das Dorf versunken, die Gassen sind ausgestorben. In Sturzbächen prasselt der Regen über alle Dachkanten und vermengt sich unten mit den vielen Pfützen und den Jaucherinnsalen aus den überall offen liegenden und nun sich verflüchtigenden Dünghaufen. Jetzt scheinen die schwarzbraunen Häuser noch einmal so finster und grämlich, und dem grössten blauen Regenschirm zum Trotz dringt die fröstelige Nässe um und um durch Mark und Bein.
Enthüllt sich aber der Walliser Himmel wieder in seiner höchsten Reinheit, ultramarinblau über dem Kranz der Berge und gegen den Zenit langsam übergehend in ein sonnendurchglühtes, sattes Blau, schüttet die Sonne ihr Gold über Höhen und Tiefen, dass die Tauperlen an den Gräsern, die Matten und Wälder in strahlender Schönheit aufleuchten, dann erwacht auch das Dörfchen, reckt sich und putzt sich und ist voll launiger Heimlichkeit und Fröhlichkeit. Die Sonne zündet in die grossen, dunklen Stuben. Und wo ihr Locken verstanden wird, öffnen sich die Fenster, auf dem holperigen Pflaster hört man Nagelschuhe und das Trippeln leichter Kinderfüsschen, Hühner gackern und Tauben fliegen aus ihrem Schlag. Und ist ein Haus noch so nachdenklich dunkel wettergebeizt und macht ein Gesicht wie Hochwürden am Sonntag, lacht ihm doch der Schalk in hellen Lichtern aus allen Fugen, pflanzt die Sonne in den hintersten Winkel ein Feuerchen, dass alle Tränen versiegen und jede Ecke ein buntfarbiges Rätsel wird.
Die Wohnhäuser in den schmalen, so launisch ineinander verwickelten Gässchen sind meistens aus Holz gebaut und machen mit ihren Lauben und Gesimsen, den interessanten Schnitzereien und frommen Sinnsprüchen mitunter einen recht hablichen Eindruck. Keines gleicht dem andern, jedes hat sein eigenes Gesicht. Jedes will für sich allein gelten und hat in der Tat auch etwas zu sagen, sei es durch den Sinnspruch, der von Werden und Vergehen, Tod und Ewigkeit spricht, sei es durch die launischen Einfälle, die der Zimmermeister beim Bau zum Ausdruck brachte, oder seies durch die Menschen, die darin wohnen. Das ist alles so schön, einfach und zweckmässig und passt so gut zu dem schlichten Völklein, das aus- und eingeht. Das Holz liefern Lärche und Tanne auf den nördlichen Berghängen des Tales. Der auf der Sonnseite gelegene Waldgürtel ist Bannwald, in dem mächtige Stämme am Boden vermodern.
Durch die gegebene Verwendung einheimischen Baustoffes zeigen die Siedelungen des Tales bodenständige Formen. Daran vermögen die in jüngerer Zeit am Eingang des Dorfes Kippel entstandenen, profanen Gasthaus-bauten wenig zu ändern. Man kann sich dem Reiz dieses Dorfes, den es auf besinnliche Menschen ausübt, noch jetzt ungestört hingeben, weil es sich so wenig wie Ried oder Blatten seit Urgrossvaters Zeiten merklich verändert hat.
Die Stille des Dorfes unterbrechen zwei Plätscherbrunnen, in jeder Hauptgasse einer. Brunnen, die in ihrer Umgebung von bester malerischer Wirkung sind. Sie liegt nach meinem Gefühl schon in der beschaulichen Stimmung des Ortes, in welche besonders der eine Brunnen gesetzt ist, und vorab im Reiz des Stoffes, aus welchem der Trog gebaut ist, einem mächtigen, ausgehöhlten Lärchenstamm, der in seiner schlichten Zweckmässigkeit mich wahrhaft schön dünkt. Zwar hat der Zahn der Zeit unverkennbare Lücken genagt, auch haben sich Risse gebildet. Trotzdem dürfte der Brunnen noch lange kommenden Geschlechtern sein ausgezeichnetes Wasser aus ehernem Munde spenden. Unter und neben dem Brunnentrog spriesst allerhand grünes Kraut hervor, purzelt ein Rieselbächlein den Stalden hinunter.
Der Weg ins hintere Lötschental ist wohl lang, doch kurzweilig und gespickt mit malerischen Überraschungen. Nicht ein Weg für Füsschen in Seidenstrümpfen und feinen Halbschuhen, sondern für Schuhe mit dem eisernen Besatz scharf greifender Zähne. Ein Pfad voll freigebiger Untugenden und steiniger Ungezogenheiten. Ein erfrischender, köstlicher Gang jedoch, wenn man mit schlurfendem Schritt, dieweil der Rucksack unterm Nacken sitzt, durch Morgen und Abend wandert. Bald tänzelt er, mutwillig wie ein Böcklein im Frühling, mit Seitensprüngen auf und nieder, bald ist er gesittet und behäbig wie ein Ratsherr. Eine geometrische Gerade ist er also keineswegs, sondern eine eigenwillige und trotzige Ungerade. Aber die Um- und Abwege sind eitel Freude, und beschaulich führt er dennoch zum Ziel. An niedern, vielfach mit Buschwindröschen geschmückten Mäuerchen, auf welchen die Eidechse in der Sonne duselt, führt der Pfad zu buckligen Äckerchen von Stubengrösse, auf welchen ab und zu Frauen mit gewölbtem Rücken den Karst führen, zu buttergelben Kornfeldchen, in denen der rote Mohn glüht, vorbei an hochbeinigen Stadeln und sinnigen Wegkreuzen, an rauf-lustigen Geissen und ernsten Menschen.
Wirklich reizvoll wird der Weg, wenn er die Häuser und Stadeln des Felsendorfes Blatten hinter sich gebracht hat. Eng und wirr aneinandergeschmiegt schauen sie wie aus hundert dunkeln Augen vom Hang herunter, und ihr erster Gruss ist schwermütig genug. Unmittelbar vor dem Dorfe klettert der Weg als eine Art Gasse auf einen Felsrücken hinauf, wo er dem Wanderer einen freien Überblick auf das in einer Bodenfalte schüchtern sich bergende Dorf bietet, über welches hinweg die Weite des Langgletschers mit der Lötschenlücke grüsst. Langsam senkt sich der Pfad hierauf in das Tälchen der Totengebeine hernieder, eilt ehrerbietig am kleinen Friedhof mit den vielen, vielen Kreuzen vorbei, steigt wieder in die Höhe zu den mitunter recht stattlichen Häusern, die sich bis hart an das Steilbord der brausenden Lonza vorwagen. Grell leuchtet an Sonnentagen das Licht aus den schmalen Gässchen, während in den schummerigen Winkeln schwarze Schatten wie hungrige Mäuler lauern.
Nun weitet sich auf Minuten der Talboden, der Pfad gleitet durch grüne Matten und eilt wieder behende über felsige Stufen zu dem kaum ein Dutzend Häuser und Stadeln zählenden Dörfchen Eisten hinauf. Noch steigt die Wegspur an und windet sich durch üppiges, buntblumiges Grün talein. Herrlich ist dieser Teil in seiner Einsamkeit und schlichten Schönheit! Weit zurück schon liegen die Würfel der sonngelaugten Hütten, eingebettet in das weite Grün des Talbodens, aus dem der Silberstreifen der Lonza ab und zu hervorblitzt. Im rosigen Schmelz der Ferne spreizen sich die Rothörner mit koketten Spitzchen. Ein angenehmes Lüftchen weht vom Gletscher her. Am tiefblauen Himmel ziehen traumhaft weisse Wolkenschiffe.
Unversehens stehe ich vor dem Heiligtum des Tales, der Kühmattkapelle, in deren Türe der Weg über drei, vier Tritte hinweg scheinbar mündet. Wohl jedes Kind des Tales überschreitet im Vorbeigehen die Schwelle, um ein kurzes Gebet zu verrichten. Die Türe ist auch heute offen, einige Frauen und Kinder knien in den Bänken. Durch die Rundscheiben dringen neugierige Sonnenstrahlen und setzen der Mutter Gottes vorne beim Altar ein paar freundliche Lichter auf das herbe Gesicht. Doch die Luft ist muffig. Besser scheint es mir, dem Allvater, den kein Haus zu fassen vermag, draussen in der freien, grossen Natur Anbetung zu zollen. Ob allein oder zu zweien und dreien, immer habe ich die wunderbare Stimmung im Zusammenklang der seelischen wie farbigen Landschaftswerte unvermindert stark empfunden, ganz besonders aber auf einsamen Wanderungen. In Begleitung nur meiner Kamera habe ich im Denken wie im Schauen und Fühlen selten auserlesene Genüsse entbehrt.
Gab es doch mitunter selbst reizende Begegnungen, wenn ich etwa gegen Fafler- oder Gletscheralp pirschte. Da mochte es geschehen, dass ich einem Tschupp der blühenden, wohlgebauten Lötscherinnen, die blanke Milchtanse am Rücken, begegnete. Auf dem gescheitelten Haare tragen die schmucken Mädchen das schwarzsamtene Häubchen, das den jungen und alten, tiefsinnigen Gesichtern so gut ansteht. Schwarz sind Rock und Jacke, doch kommen sie ab und zu auch mit dem bunten Brusttuch, der weissen Schürze und in weissen Hemdärmeln daher. Ernst und gemessen ist ihre Miene. Ihr inwendiger Mensch aber sieht gar nicht so ablehnend aus, sondern kann heiter und vertraulich sein, wenn man einmal ihre Schüchternheit überwunden hat. Dann huscht wohl Rosenschimmer über den Schmelz der Wangen, die jungen « Meitschin » zeigen ihre blitzblanken Zähne, aus den Augen zuckt und aus den Mäulchen sprudelt das neckische Scherzwort. So hab ich sie gern: unnahbar herb wie ihre Berge und unter Freunden warm wie das Feuer am Herd.
Über langweilige, felsdurchsetzte Rasenbänder waren wir aufwärts gespurt. Vorzeitig hatte sich die Sonne verzogen und der Himmel ein aschgraues Aussehen angenommen. Den untern Rand der heranschleichenden Wolkenbänke zierten schwefelgelbe Fransen. Endlich kamen wir bei lähmender Hitze in Geröll und Felstrümmer, bogen um eine Felsnase und standen überrascht vor dem kleinen, in Hochgebirgseinsamkeiten eingebetteten Spalisee. Es ist ein am Fusse des Stühlihorns gelegener Gletscherrandsee, der in heissen Sommern auf wenige Wochen nur seine Eisdecke verliert.
Selten wohl mag sich ein menschlicher Fuss hier hinauf verirren, denn das Seelein liegt völlig abseits von jeder Auf- oder Abstiegslinie, und die unbedeutenden Gipfel darum haben keine alpine Währung. Zudem sollen, wenn man Josinpeters Lowisa glauben will — und sie wird es wohl wissen, sie ist ja alt genug —, in den weiten Trümmerhalden Berggeister und Bozen in ungehemmter Freiheit hausen und zu heiligen Zeiten und in mondhellen Nächten durch widerwärtiges Johlen und Pfeifen viel Unfug treiben, so dass der Ort gemieden werde. Heute bin ich geneigt, der Lowisa zu glauben, denn die Landschaft zeigt ein recht unheimliches, missmutiges Gesicht. Es ist finster geworden, ferne Donner grollen, und im Westen zuckt hin und wieder ein greller Blitz aus den hängenden Wolken. In die Eisdecke des Seeleins hat das Schmelzwasser in eigenartiger Runenschrift Furchen gegraben, und wo das grauschwarze Wasser offener zutage tritt, starrt es wie ein erloschenes Auge ausdruckslos zum dunkeln Himmel. Der sonst so farbenfreudige Nesthorngrat, der seine Vollendung in dem gigantischen Aufschwung zum Bietschhorngipfel findet, hat heute eine drohende, herausfordernde Miene angenommen und sieht wie ein unheilbrütendes Riesenurtier aus.
Ans Photographieren ist nicht zu denken. Doch scheint das Gewölk im untern Wallis wieder etwas aufhellen zu wollen. Neue Hoffnung. Vorsorglich suche ich den Standort aus, der Apparat wird bereitgestellt. Nach einstündigem, in gespannter Beobachtung des Motivs zugebrachtem Warten zeigen sich plötzlich auf wenige Sekunden einige Lichtflecken, die dank meiner Bereitschaft für die Aufnahme glücklich ausreichen. Hernach rasch zu Tale. Gewitterregen trommelt nieder...
Gestern war ich mit Güst am Seil. Vier Kameraden, je zwei zu zwei, haben wir den Berg des Tales, das Bietschhorn, bestiegen. Er war bei schlechter Laune und bescherte uns dichten Nebel und eisiges Schneetreiben. Wie wuchs da die Verantwortung! Güst kletterte zwar gut und sicher, er ging ja voran, meiner Hilfe bedurfte er nicht, es genügte, dass ich selbst zuverlässig war.
Scharf kantet sich der Grat. Wie selbstsicher er ging, mit ausgeprägtem Tastgefühl in Händen und Füssen und Schneid in den Fingerspitzen. Mit dehnender Kraft prüfte er den Griff, umspannte er den Block, wand und schlang sich mit selbstverständlicher Sicherheit elegant darüber hinauf, schritt stehenden Fusses über den nur ein, zwei Handspannen breiten Grat, den Blick vorwärts gerichtet. Das Ziel, der Gipfel, musste ihm glücken, edle Erobererfreude ihn beseelen.
Durch das Seil, das uns verband, strömte das unbestimmbare Etwas, das Geist und Körper beseelt, als eine Macht unser Handeln diktiert und Zuver- sieht zum guten Gelingen auf unsichtbaren Wellen sendet. Doch dieses Seil, war es nicht eine recht problematische Hilfe, ein unzuverlässiges Sicherheitsmittel? Wie, wenn der Kamerad versagte, zurückfiele, stürzte? Wie, wenn seine gespannte Aufmerksamkeit einen Augenblick nachliesse, das Seil sich im Gestein verwickelte, das Seil, das sich mit ausgesuchter Bosheit immer wieder zu verklemmen, um Blöcke zu winden und Gefahren zu rufen suchte? Wie, wenn bei der Überschreitung der Eisrinne, die in Felsschrofen und näch-tige Abgründe abstürzt, eine kleine Unsicherheit uns ergriffe, die kalte Überlegung wiche?
Das BergseilWohl liegt seine erste Bedeutung in der Verhütung von Unfall. Es verknüpft zu gemeinsamer Last und Freud, Leben und Sicherheit für den Nächsten ruhen in eigenen, sorgenden Händen, es bindet Menschen — enger oft als verwandtschaftliche Bande —, als gehörten sie zusammen, und doch ist ein jeder ein Ding für sich. Der Seilkamerad ist eine durch Treu und Glauben geheiligte Person, ihr vertraut man mit offenem Blick und ohne Heimlichkeit, muss ihr vertrauen, denn wohl nirgends so wie in den Bergen öffnet sich das innerste Gemüt dem andern, dem Freund, denn seine Aufopferung geht auch mich an; was mich erhebt, ist auch sein Gefallen, und das Gemeinsame, das uns beschwert und beglückt, hinterlässt Spuren, die auch späte Tage nicht auswischen.
Wie mancherlei Seile und Bande binden die Menschen! Seile, die fesseln, Bande, die drücken. Die Tyrannen sind gestürzt, wer zerschneidet die Bande?
Das Bergseil, das bewährte Kameraden körperlich verband, knüpft unlösbar geistige Fäden. Und über die Brücke der Erinnerung schreiten die Seelen, als sähen sie sich. Entweicht ein Kamerad aus dem Leben, so ist es, wie wenn das Seil gerissen, eine Saite der Lebenslaute gesprungen wäre, und schwer senken sich Schatten des Leides auf das Gemüt. Wie schmerzt es mich, dass dein Seil seither so jäh abriss, du braver Güst!
Ein heisser Tag neigt sich zum Abend. Stahlhart heben sich die Feisund Eisgrate vom tiefblauen, wolkenlosen Sommerhimmel ab. Die unerbittlich glühende Sonne hat selbst mit den in Schluchten verborgenen Lawinen-schneeresten nahezu aufgeräumt, und auf den hohen Kämmen weicht der Schnee täglich mehr zurück. An den Sonnhalden ist das Gras schon längst geschnitten, und die Matten sind braun versengt. Myriaden von Heupferd-chen tummeln sich darin, es klingelt und sprätzelt beim Hindurchschreiten.
Auf den schattseitigen Heualpen, welche sich bis gegen Weritzen und darüber hinaus erstrecken, ist die Ernte im Gange. Ein Gewimmel fleissiger Hände gabelt und rechelt, um den Segen einzutun. Männer, wie wandelnde Heuschochen, sieht man mit schweren Bürden beladen auf die Staffeln zuschreiten, einige Leitersprossen emporsteigen und die Last durch das Loch im geöffneten Dache hinunterwerfen. In den Rinnen murmelt Wasser, um die dürstende Erde neu zu berieseln und neuem Grünen und Wachsen zu rufen.
Zögernd schleichen die Abendschatten in die Höhe. Es ist, als ob der Tag nicht müde werden, das Himmelslicht nicht auslöschen könne und die Erde von eigenem Lichte zehre. Allmählich wird es kühler. Ein frischer Luftzug streicht vom Berg herunter. Und mit dem Lufthauch sauge ich gierig die Schwaden Heugeruches ein, jenen kräftig-herben Duft, dem kein anderer Wohlgeruch in seiner Art nahekommt.
Langsam steige ich mit dem Maler alpauf. Wir wollen uns irgendwo ins Gras legen und die Weihe des Sonnenuntergangs erleben. Mein Begleiter ist der Bruder der einen Schwester, die wie keine andere den Geist des Lötschentales und seines Volkes erfasst und meisterhaft im Worte festgehalten hat.
Trotz den sammetblauen Dämmerschatten, die am jenseitigen Berghang bedächtig in die Höhe kriechen, kann man fast noch jede Tannenspitze in der Breite des Waldgürtels erkennen. Unverwandt senken wir unsere Augen in die Farbenwunder, die eine Zauberhand in überirdischer Köstlichkeit um die hochragende Gestalt des Bietschhornes zu weben beginnt. Seine sonst starren, frostigen Flanken haben alles Grauen verloren, und ein verklärendes Licht offenbart alle seine Geheimnisse. Purpurfeuer lodern um Haupt und Schultern, als müsse der Berg vor den Augen der Nacht als ein gigantisches Brandopfer in Rosengluten verbluten. Verstummt ist jede Stimme und das Geräusch des Tages. Auch wir sind ganz stille geworden, Atome im grossen Schweigen.
Wiederum tritt die Wahrheit deutlich vor mein Bewusstsein, dass, sobald es sich um Vorgänge innersten Erlebens und Fühlens handelt, die Sprache unbeholfen und ungereimt wirkt wie ein lallendes Stammeln, das über die Gebundenheit der üblichen Ausdrucksformen nicht hinwegkommt. Doch wo die Sprache versagt, da vermögen Töne zu reden, die sie befreien. Töne, die auf den zarten Saiten des Gemütes mitschwingen und Lust- oder Leid-gefühlen Form und Laut zu geben vermögen. Ja, mir scheint, dass wir in unserm Charakter, in unserm Tun und Handeln zuletzt selber Einheit und Wohlklang werden müssten.
Früh am Morgen. Langsam röten sich die Bergspitzen. Noch herrscht eine angenehme Frische im Tale. Ich steige höhenwärts, um noch vor der grossen Hitze die Alpstufe zu erreichen, die von der Hockenalp über Lauchern zu den stein beschwerten Häuschen von Weritzen führt. Die Höhe ist mit etwas über 2000 m nicht nennenswert, Lage und Aussicht dagegen sind von grosser Schönheit. Die Einsamkeit wohnt hier, ein Grund mehr, sie aufzusuchen. Um die Mitte des Tages, wenn die Luft in heissen Stössen zittert und Ströme grellen Lichtes wie in einem Feuerkessel glühen, ist die Zeit für den Mann der Schwarzweisskunst vorüber; der Abend bietet dann noch einige günstige Möglichkeiten.
Massig steil windet sich das Zickzackweglein zum saftstrotzenden, von Rieselwässerchen durchzogenen Alpboden hinauf. Ist es auch noch früh, so steige ich dennoch bald in das weiche Morgenlicht empor, das mir wie mit offenen Armen entgegenkommt. Ein rotwangiges, strammes Mädchen mit der Milchtanse am Rücken schreitet wiegenden Ganges den schmalen Pfad herab und winkt mir einen Gruss zu. Die Sonne hat nun alle ihre Lichter aufgesteckt. Schnee und Gletscherchen am jenseitigen Längsgrat leuchten im Gegenspiel mit dem dunkeln Fels über dem Grunde, wo tiefgrüne Tannen stehen. Darüber ein dunkelblauer, strahlender Himmel. Meinen Weg überquert ab und zu ein Käfer in eiliger Geschäftigkeit, Schmetterlinge schaukeln in der warmen, von Blumen- und Lärchenduft gesättigten Luft. Wie wenig braucht es, um froh zu sein, nur Sonne, Berge und Gedanken, auch mitunter etwas Alleinsein! In dieser Stille, wo ich mich eins fühle mit dem Mäuschen, das unter dem Blatt hervorguckt und sich seines Lebens freut, wo ein kaum wahrnehmbarer Lufthauch über die Halme streicht, werde auch ich ganz stille, die Seele wird weit und lässt den Atem der Schöpfung herein.
Schliesslich liegt die Alpstaffel mit ihren bildhaften Schätzen wie ein Sonntagsgeschenk vor mir ausgebreitet. Ein Leuchten und Flimmern von unerhörtem Glanz ist in der Luft. Dem weiten, grünen Boden — mit dem Mühlebachgletscher und dem Hockenhorn hoch darüber — entspriesst das feine, kräftige Alpengras mit buntblumigem Volk darin. Hütten sonnen sich am Hang, Menschen schauen aus kleinen Fensterchen ins Tal hinab. In ernsten, edeln Formen stehen die Berge. Ich kann das unvergleichliche Bietschhorn im blauen Duft des Morgens und im silbernen Ornat seiner Gletscher nicht genug bewundern. Zug um Zug ist es ein königlicher Berg, auch dann, wenn er bei drohenden Wolken wie ein Dämon hinter Nebel-düstern lauert.
Sorgenfrei und menschenlos hebt nun ein glückhaftes Schwelgen und Schlendern an. Ich schreite in den Glast des Sommertages wie in flutendes Licht hinein. Kein zielloses Geniessertum in tatenloser Augenweide, sondern ein ernsthaftes Forschen, nur mit andern Mitteln. Gross ist das Erntefeld, es verspricht Bilder wie reife Garben, immerhin müssen sie zuerst gebunden werden. Die Alpenwelt wirkt auf das natürliche Auge im allgemeinen wohl schön, den Bildner interessiert aber immer nur die Auswahl, die ordnende Sichtung des als schön Erkannten, denn die Art der Auffassung und Darstellung bestimmt letzten Endes den Wert einer Schöpfung. Das Beobachten und analysierende Zerlegen der Linien, des Rhythmus in der alpinen Landschaft, ihrer Formen und Farben und der Gegensatz von Nähe und Ferne gehören unstreitig zum Anregendsten in der Naturbetrachtung. Eigenartig, in wie viel innigere Beziehungen man dabei zur Natur gelangt, wie sich das Auge anders einzustellen, wie man bewusster zu beobachten beginnt. Dann fängt sie an zu schenken, und sie schenkt mit vollen Händen.
Die Zeit vergeht wie im Flug. Es ist heiss geworden. Alle Schatten sind aufgehellt und haben Zeichnung bekommen. Auf den Felsblöcken um die Hütte am Hang funkeln Strahlenbüschel von Licht, und die Firnen gleissen unter dem satten, wie ein Bergsee reinen Himmelsraum. Die Lärchen stehen im Gegenlicht wie brennende, nach Harz riechende Kerzen. Ein sengender Atem streicht über die Alp. Es sprüht und glüht in heissem Erbeben die Weite der Natur, die der triumphierenden Kraft der Sonne willig ihre Poren öffnet; alle Farben sind aufgesprungen, und die Gipfel und Grate leuchten.