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Erinnerungen eines Skiveteranen

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Von Eduard Naef.

Es ist ein Vorrecht des Alters, rückwärts zu schauen und von der Vergangenheit zu sprechen. So sei es mir vergönnt, einiges aus den Kinderjahren des schweizerischen Skisportes zu erzählen. Nur persönliche Eindrücke und Erlebnisse, denn die aktengemässe Schilderung jener Zeit hat Joachim Mercier in seinem vortrefflichen Buch: « Aus der Urgeschichte des schweizerischen Skilaufes » lückenlos erledigt.

Leuchtend, strahlend leben in meinem Gedächtnis jene neunziger Jahre, da ich, in der jugendlichen Vollkraft stehend, bereit war, mich für grosse Gedanken und gute Führer einzusetzen, wagemutig und rückhaltlos mitzumachen mit Wort und Tat. Eine grosse Idee war der Plan der Verpflanzung der norwegischen Schneeschuhe in die Schweizerberge. Ein Leiter, wie ihn dieses Vorhaben erforderte, war Christof Iselin, damals in Glarus, heute in Kilchberg wohnhaft. Er verstand es, zuerst eine kleine Schar Anhänger aus den Sektionen Tödi und Winterthur zu gewinnen, darunter Olaf Kjelsberg und mich, der auf der ersten winterlichen Pragelüberschreitung im Januar 1893 vom Saulus zum Paulus geworden war. Bewies doch diese denkwürdige Fahrt, an der ich zum Vergleich mich mit Schneereifen bewaffnet hatte, klar und deutlich nicht nur die Verwendbarkeit der Schneeschuhe im alpinen Gelände, sondern auch die unbedingte Überlegenheit bei geeigneten Schneeverhältnissen. Den Verlauf dieser Bekehrung schilderte ich damals im Winterthurer Tagblatt wörtlich wie folgt:

« Eine Winterreisc über den Pragelpass mit Ski und Schneereifen.

Am 28. und 29. Januar haben wir, Christof Iselin und A. von Steiger, der C. Sektion Tödi angehörig, Olaf Kjelsberg und der Schreiber dieser Zeilen, beide Mitglieder der Sektion Winterthur S.A.C., den Pragelpass überschritten.

Unser Zweck bei dieser winterlichen Gebirgsfahrt war vor allem, in der für die weitere Verbreitung der norwegischen Schneeschuhe wichtigen Frage der praktischen Verwendbarkeit derselben in unsern Alpengegenden Klarheit zu schaffen und dieselben zugleich in dieser Hinsicht einem Vergleich mit den bekannten Schneereifen der Bergbauern in der Urschweiz zu unterziehen. Zu diesem Zwecke hatten sich die drei erstgenannten Herren mit Skiern versehen, ich selbst war mit Schneereifen ausgerüstet. Am 28. Januar abends 6 Uhr war Rendez-vous beim Staldengarten oberhalb Riedern-Glarus. Von dort erreichten wir in 3 1/2stündigem Marsch das Hotel Richisau, wo wir freundliche Aufnahme und gute Bewirtung fanden. Die nächtliche Wanderung längs des brausenden Löntsch und über die Eisdecke des Klön-talersees gewährte einen prächtigen Genuss. Der Mond verbreitete fast Tageshelle. Wie Diamanten erglänzten in seinem silbrigen Licht tausend und aber tausend Eiskristalle an den mit Reif überzogenen Bäumen. Scharf und klar zeichneten sich die Bergriesen zu beiden Seiten in ihrem schneeweissen Gewande vom Himmel ab. Trotziger, kühner schienen sie im Bewusstsein ihrer Unnahbarkeit die Häupter emporzurecken. Jetzt freilich waren sie sicher vor unsern Besuchen! Nur der schneidende Bergwind, der eine empfindliche einschläfernde Kälte mit sich brachte, bewog uns zu rascherem Gange, und es war wohl auch keinem unangenehm, dass wir in Richisau eine gut geheizte Gaststube fanden.

Am Sonntag waren wir leider erst um 730 Uhr marschbereit, etwas zu spät für die knapp bemessene Zeit. Feinkörniger, pulveriger Schnee lag hier fast meterhoch, ein Vorwärtskommen ohne Hilfsmittel war ein Ding der Unmöglichkeit. Unverweilt wurden deshalb die Schneeschuhe angeschnallt, und nach kurzer Orientierung über den einzuschlagenden Weg brachen wir auf. Vater Stähli, der liebenswürdige Wirt, traute den Skis nicht recht, er mag wohl grosse Augen gemacht haben, als nun die Skiläufer mit erstaunlicher Geschwindigkeit über die Ebene der Schwyzergrenze zueilten, nur zwei bis drei Zentimeter tiefe Geleise hinterlassend. Auch meine Schneereifen liessen mich nur wenig einsinken, so dass ich ziemlich rasch zu folgen imstande war. Der von meinen Gefährten genommene Vorsprung verringerte sich natürlich, als die Steigung stärker zu werden begann, denn die steilsten Stellen, die sie im Zickzackweg zurückzulegen gezwungen waren, vermochte ich gerade aufsteigend zu überwinden. Auf der Saasalp hatte eine ungeheure Staublawine, die sich von den steilen Hängen des Saasberges gelöst hatte, die Ställe und Sennhütten zum Teil weggeschoben und halb zusammengedrückt, zum Teil zertrümmert, auseinandergerissen und die Bruchstücke weitherum zerstreut: ein trauriges Bild der Zerstörung. Noch hingen gewaltige Schneemassen drohend an den Wänden und in den Schluchten des Lauiberges, so dass wir unwillkürlich schneller weiter eilten. Um 11 Uhr, wenige Minuten vor mir, erreichten die Schneeschuhläufer die Hütten auf der Passhöhe. Immer tiefer war die Schneedecke geworden, je höher wir gestiegen waren — hier oben auf der Wasserscheide mag sie wohl 3 m mächtig gewesen sein —, und immer geringer ihre Festigkeit, so dass der Bergstock unter dem geringsten Drucke in ihr verschwand. Dazu stiessen wir namentlich hier auf unglaublich grosse Gwächten von den sonderbarsten Formen. Schneehaufen bis zu 6 m Höhe hatte der Sturm hier zusammengeblasen. Doch über alles hinweg trug uns mit überraschender Leichtigkeit der bewehrte Fuss, sogar auf den Kämmen der Gwächten verursachten die Ski keine nennenswert tieferen Eindrücke. Langsamer, aber ohne Schwierigkeit folgte ich auf meinen etwas unförmlichen Reifen ihren Geleisen. Wir hinterliessen zusammen eine wunderbare Spur; wohl auch der schlaueste Jäger wäre aus ihr nicht klug geworden. In einem Heugaden nahmen wir in heiterster Stimmung eine kleine Stärkung ein. Das Wetter war prachtvoll, kein Wölklein sichtbar, die winterliche Landschaft grossartig, reich an neuen ungeahnten Reizen.

Zur Mittagstunde begannen wir den Abstieg über die Abhänge der linken Talseite. Hier erst sah ich nun mit Staunen und Bewunderung, welche Leistungen der Ski dem geübten Läufer auf geeignetem Gelände und bei günstigen Schneeverhältnissen erlaubt. Kaum war ich etwa 200 m von unserm ERINNERUNGEN EINES N. Halteplatz entfernt, so waren meine Gefährten in rasender Eile über die Gwächten hinüber, die ausgewehten Vertiefungen hindurch, über die ziemlich steilen, aber ungefährlich in einen breiten Talboden übergehenden Abhänge hinuntergesaust. Wolken von aufgewirbeltem Schnee bezeichneten ihren Weg und bald verschwanden sie weit unten im Wald.

In raschen, langen Schritten strebte ich ihnen nach. Aber die Schneereifen erlauben eben keine gleitende Bewegung. Für die Strecke, die meine Kameraden in Minuten, ja in Sekunden durchmessen hatten, benötigte ich unendlich viel mehr Zeit. Der Abstand zwischen uns vergrösserte sich nachher noch bedeutend, weil ich auf den Gwächten am Bachufer, über welche meine Kameraden ihren Weg genommen hatten, nur langsam und vorsichtig vorrücken durfte, um nicht durchzufallen.

Im Hengsthorn, einem Bauerngehöfte, traf ich um l1/4 Uhr ein. Ich war also ebensoschnell abgestiegen als ein rüstiger Fussgänger im Sommer, in 1 1/4 Stunden; die Skiläufer aber waren in 20 Minuten bis hierher abgefahren, sie hatten somit fast eine ganze Stunde Vorsprung erlangt.

Auf gebahntem Wege zogen wir dann eilig gegen Muotta hinunter. Die Sonne schien warm, würzig war die Luft. Zweimal sahen wir auf der gegenüberliegenden Talseite Lawinen stürzen, dumpf krachend polterten sie von Absatz zu Absatz. Wir hatten nichts mehr von ihnen zu fürchten. „ Grün wird die Alpe werden, stürzt die Lawin'einmal ", das mochte mit mir der Hirte denken, der dort unten das Alphorn blies. Deutlich verriet sich in den einfachen Klängen die Herzensfreude, dass nun bald die Macht des Winters gebrochen sein werde. Angestaunt von alt und jung zogen wir etwas nach 2 Uhr in Muotta ein. Noch am gleichen Tage gelangten wir alle nach Hause. » * Der Eindruck dieser Pragelfahrt war ein nachhaltiger. Das schwebende Gleiten auf trügerischer Bahn wirkte faszinierend. Ich ging fortan mit Iselin im gleichen Schritt und Tritt. Als erster « Chef » des im gleichen Jahr, 1893, gegründeten Skiklubs Glarus führte er uns von einer Aufgabe zur andern. Pass um Pass, Berg um Berg wurden bezwungen. Unvergesslich ist mir, wie Iselin bei diesen Gelegenheiten als winterlicher Stratege uns jeweilen den Gebirgskrieg zukünftiger Skitruppen skizzierte. Freilich, unsere Leistungen waren klein, gemessen an den heutigen. Der Claridenstock bedeutete wohl neben der Überschreitung des Sandpasses den damaligen Höhenrekord der Glarner Skibergfahrer. Aber sie sind gleichwohl aller Achtung wert als Pionierleistungen.

Das Gebirge musste im Winter, im Schnee, das heisst zum zweitenmal, erobert werden. Und dabei ging es uns wie den Veteranen des Alpinismus: Mangelhafte Technik, ungeeignete und ungenügende Ausrüstung, namentlich auch die Unkenntnis der Gefahren des Winterschnees zwangen zu unverhältnismässig grossem Aufwand an Kraft und Energie und schufen manche heikle Lage.

Eine Episode war besonders lehrreich. Wir stiegen am Heinzenberg gegen den Gratrücken an. Einfallender Nebel zwang uns zum Ausweichen nach links in der Richtung gegen den Glaspass. Iselin führte. Ich ging als Zweiter im Abstand von ungefähr 20 m. Weiter zurück folgten die andern unserer Fährte. Um eine Ecke biegend hörte ich plötzlich vor mir ein Rauschen und einige Augenblicke nachher den Hilferuf Iselins. Er hatte ein Schneebrett losgetreten, das ihn abgleitend mitgerissen und bis zur Schulter begraben hatte. Es bedurfte langer und mühevoller Arbeit, bis wir, mit Händen, Stöcken und Skiern grabend, den Verschütteten freigemacht hatten. Ich glaube, seit diesem Unfall hat Iselin den Gedanken nicht aufgegeben, ein Werkzeug zu konstruieren, mit dem rasch und sicher Hilfe geleistet werden könne. Seine Skischaufel, die allgemein Anerkennung gefunden hat, ist wohl das Ergebnis der Bemühungen.

Trotzdem möchte wohl keiner von uns die Siege und Niederlagen der Skilehrjahre missen. Sie waren verschönt, verklärt durch jenes Hochgefühl, welches das Streifen durch die unbekannte, unberührte Winterlandschaft erzeugte. So wie uns muss es Hegetschweiler und Weilenmann, Hauser und Tyndall zumute gewesen sein, als sie eindrangen in die Schönheiten und Schrecknisse einer neuen Welt, als Pfadfinder, als Bahnbrecher.

Merkwürdig scheint mir heute noch, dass ungeachtet grosser Erfolge dem jungen Sportzweig jahrelang Verkümmerung oder Stillstand drohte. Obwohl Iselin und seine Anhänger keine Mühe scheuten, neue Freunde zu gewinnen, wuchs die Zahl der Skijünger nur langsam. Auch im S.A.C. bildeten Nörgler und Zweifler die Mehrzahl; das Volk, die Masse verhielt sich überhaupt passiv oder ablehnend. Es bedurfte des grossen Organisationstalentes, das Christof Iselin eigen ist, den Hauptwiderstand, die Gleichgültigkeit, zu überwinden durch eine grosszügige Werbung. Besondere Werbekraft offenbarten die wieder durch unseren « Chef » veranstalteten Skifeste, von denen das dritte im Jahre 1905 das erste grosse Skirennen der Schweiz war. Zu diesem Anlass erschienen sportliche Delegationen aller Art, Gäste aus verschiedenen Ländern, besonders aus Norwegen und Deutschland, Zuschauer zu Tausenden, währenddem sich am ersten Rennen 1902 nur ein kleines Häuflein eingefunden hatte. Unterdessen hatte Iselin nicht versäumt, als eifriger Soldat die militärische Seite des Skilaufs in einer Eingabe an den Generalstab gründlich zu beleuchten.

Nun aber war, dank dieser gewaltigen Arbeit, worüber grosse Aktenstösse die Belege bilden, endlich die Bresche geschlagen. Iselin stand vor dem gesteckten Endziel: der Skisport begann sich zum Volkssport zu entwickeln. Und was er prophetisch uns oft verkündete, es ist ebenfalls Tatsache geworden: der Schneeschuh dient nun, ähnlich wie im Norden, auch unserer Bergbevölkerung als Verkehrsmittel auf dem Gang zur Arbeit. Als Sieger durfte Iselin die Leitung andern Händen übergeben. Joachim Mercier und seine Nachfolger führten den Skiklub Glarus, den ersten der Schweiz, zu weiterer gedeihlicher Entwicklung.

Eines scheint nach meiner Meinung in diesem Rückblick noch besonderer Erwähnung wert. Uns berührt wenig, dass Glarus, dessen Beispiel einst nicht nur die Schweiz mitriss, sondern auch jenseits der Grenzen ( Frankreich ) anregend wirkte, im Skiwesen heute nur eine untergeordnete Rolle spielt, dass die Mittelpunkte des Wintersports, die grossen Skivereine der Städte den Ton angeben. Aber das sei unvergessen: Glarus hat den Skisport von Anfang an als Kind des Alpinismus betrachtet, hat nur den alpinen Skilauf gefördert, hat sogar lange Jahre die Mitgliedschaft im Skiklub von derjenigen im S.A.C. abhängig gemacht, während anderswo der Ski der Fremdenindustrie dienstbar gemacht wurde und der Skiläufer sich rasch emanzipierte und modernisierte, innerlich und äusserlich.

35 Jahre sind nun seit der ersten alpinen Skibergfahrt in der Schweiz verflossen, die Glanzzeit des Glarner Skiklubs liegt ein Vierteljahrhundert zurück. Der Skisport hat inzwischen eine beispiellose Entwicklung erfahren, und beispiellos sind die Leistungen und Erfolge. Das Zeitalter der Winter-olympiade offenbart Grosstaten des Schneeschuhs, vor denen verblasst, was die Pioniere erreichten. Mag darüber die Geburtsstätte des schweizerischen Skilaufes vergessen worden sein, mag man sie sogar in den Annalen des Skisportes ignorieren, es bleibt uns doch die Genugtuung unbestritten, dass wir die Ersten gewesen sind, deren Hölzer den Schnee im verschneiten Alpenland pflügten, und der Ruhm, damit das Samenkorn gelegt zu haben zu dem heute so riesenhaft gewordenen Baum des Skisports. Darob freut sich immer wieder mein altes junges Herz.

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