Erinnerungen an einen herrlichen Bergtag
Toni Fullin, Flüelen
1 Wysi Herger, Peter Stadler, Kary Stadler Noch herrscht fast dunkle Nacht - kein Auto begegnet uns auf der tagsüber stark befahrenen Klausenpass-Strasse. Im ersten schwachen Morgengrauen träge den Bergflanken entlangstreichende Nebelschwaden lassen in uns die Hoffnung auf einen sonnigen, warmen Klettertag schwinden. Trotzdem parkieren wir unser Fahrzeug beim Restaurant Urnerboden und machen uns für den langen Aufstieg zu unserem Ziel, dem Südpfeiler des in der Kette der Jegerstöck, bereit. Wir sind zu viert; Wysi1 und ich sowie zwei junge Kameraden, Peter1 und Kary \ die uns - den beiden ( Mittelalterlichenmit ihrem ( Auftrieb ) und ihrer Einstellung zum Bergsteigen stets wieder Impulse gegeben und zu neuen interessanten Unternehmungen motiviert haben.
Allmählich beginnt jetzt das Licht des anbrechenden Tages das Tal zu erfüllen. Und obwohl die Sonne noch hinter einer Nebelschicht verborgen bleibt, wird ihre wärmende Wirkung doch schon spürbar. Schemenhaft tauchen über uns plötzlich die silbern glänzenden Kalkwände der Jegerstöck aus den auf-wallenden Wolkenbänken auf. Riesenhaft und unnahbar erscheinen sie uns, diese Felsfluchten - wie Kulissen aus einem Märchentheater. Bizarre Türme, kühne Abstürze und Wände wetteifern hier um unsere Gunst. Eine einmalig wilde Bergwelt, deren Reiz durch die vergletscherten Gipfel des Clariden und des Gemsfairenstocks, auf der andern Talseite, in ihrer Gegensätzlichkeit noch unterstrichen wird!
Obschon wir den 1. November schreiben, herrscht eine sommerliche Hitze. Ein prachtvolles Bergjahr, dieses 1983! Auf abschüssigem Gemswechsel, im Volksmund Zingelpfad genannt, erreichen wir über mehrere Schluchten hinweg den Einstieg zu unserer Route. Der Umstand, dass die Anmarschwege zu den meisten Routen lang und kompliziert sind, mag einer der Gründe sein, weshalb die Schönheit dieses Klettergebietes erst von wenigen Seilschaften entdeckt worden ist. Dabei sind einige der Routen durchwegs vergleichbar mit den schönsten schwierigen Kletterwegen, etwa der Inwyler-Route am Tellistock. Besonders der Kletterer sportlicher Richtung findet in den Jegerstöck ein einzigartiges Betätigungsfeld.
Es ist beinahe zehn Uhr als Wysi und ich nach einer kurzen Znünipause in die Wand einsteigen. Schon die ersten Meter verlangen einiges an Kletterkunst. Mit gemischten Gefühlen überwinde ich jene Stelle, die mir beim Versuch der Zweitbegehung zum Verhängnis wurde. Erst beim Standplatz löst sich die anfängliche Verkrampftheit. Während Wysi nachsteigt, bestaune ich den weiteren Verlauf der Route. Herrliches, wildes Felsland - absolut senkrecht der Weiterweg, gekrönt von riesigen Dächern. Ein Quergang in nervenaufreibender Ausgesetztheit führt Wysi zu einem kleinen Erker. Wir sind erstaunt, so viel Freikletterei vorzufinden; haben wir die Route doch Vorjahren in schweren Schuhen und damit unter ganz anderen Voraussetzungen, d.h. auch grösserem technischem Einsatz, erstbegangen. Die nächste Seillänge zählt zu den schwierigsten der ganzen Tour. Ein frei zu kletternder Riss führt unter ein gewaltiges Dach, wo nach einem Linksquergang eine steile Verschneidung erreicht wird. Behindert durch den Seilzug verlangt der Ausstieg zum Stand das Letzte an Fingerkraft. Auch unsere jungen Kameraden finden Gefallen an dieser Kletterei. Peter meint gar, im Vergleich mit der heutigen Tour sei die Begehung des Schwei-zerpfeilers an der Drusenfluh am letzten Sonntag nur gerade ein Spaziergang gewesen!
Nach einer weiteren Fünfzigmeter-Seillänge können wir uns endlich bequem zu einer Rast hinsetzen. Eindrucksvoll ist der Tiefblick hinunter zur Alpsiedlung Urnerboden. Atemlose Stille und ein tiefer Friede umgeben uns - eine Ruhe, die einzig vom Raunen eines sanften Südwindes unterbrochen wird. Entrückt vom Alltag und seinen Sorgen, eingebettet in einen beinahe grenzenlosen Raum, lassen wir uns von ihm liebkosen, lauschen seiner ewig wiederkehrenden Melodie. Wie liebe ich doch diese Rasten im steilen Fels!
Das wütende Brummen einer Kolonne von Motorradfahrern, die ihre aufheulenden Maschinen die kurvenreiche Passstrasse hinauf-jagen, weckt uns nach geraumer Zeit aus un- Luftige Kletterei am Südpfeiler des in den Jegerstöck seren Träumen. Noch sind wir nicht oben! Verbissen verkrallen wir uns in einen kleingriffigen Überhang und suchen durch den darüber ansetzenden Riss den Ausstieg aus dem unteren Wandteil. Von hier aus ändert sich der Charakter der Kletterei grundlegend, denn die Wand hat sich zu einer steilen, messerscharfen, beidseitig in abschüssige Schluchten abbrechenden, pfeilerartigen Kante verengt. Freiklettern ist Trumpf, wobei uns nur wenige Haken den Weg weisen. Ein wahrhaftig berauschendes Finale!
Es ist fünf Uhr abends, als Wysi und ich uns die Hand zum Gipfelgruss reichen. Von den nachfolgenden Freunden ist noch nichts zu sehen. Der Gipfel gehört uns beiden allein. Noch kenne ich die Bedeutung dieser Stunde nicht... noch weiss ich nicht, dass dies die letzte Gipfelrast mit Wysi nach grosser Tour sein soll. Wenige Wochen später wird er das tragische Opfer einer Lawine. Er, ein Alpinist, Im herrlichen wilden Felsland der Jegerstöck dem ganz grosse Unternehmungen in den Alpen spielend leicht gelangen, sollte an einem einfachen Voralpengipfel verunglücken!
Im Augenblick als unsere beiden Kameraden auf dem Gipfel aussteigen, versinkt die Sonne am Horizont, und kurze Zeit darauf weicht der Tag einer spätherbstlichen Nacht. Wie nahe sind sich doch Licht und Dunkelheit, Glück und Leid. Am Abend vor der Hütte, am Morgen auf dem Weg zum Einstieg, oben auf den Gipfeln steigen in mir seit jenem Tag immer wieder kostbare Erinnerungen auf... an unvergessliche Bergtage und an einen lieben Freund.