Erinnerungen an den Bündner Bär
Mit 1 Zeichnung von Ernst Buchner.Von Stephan Brunies.
Als ich letzthin eine Entrümpelung auf meinem Estrich vornahm, da kam hinter einem Berg von altmodischen Koffern, angelehnt an einen Strebe-balken des Dachstockes, ein Gegenstand — wohl der einzige seiner Art nicht nur auf Basler Dachböden — zum Vorschein, der mich in Gedanken weit in ferne Jugendzeit zurückführte. Es war der alte Jagdvorderlader meines guten, unvergesslichen Vaters, ein Meisterstück aus der Werkstatt Gian Marchet Colanis, des berühmten Engadiner Gemsjägers und Scheiben-schützen der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Wie ein stiller Vorwurf ob der ihm gewordenen Vernachlässigung war mir der Anblick dieses Lebens-retters: der Riemen zum Brechen vertrocknet, das massive Rohr angerostet, noch immer mit Schnüren an den brüchigen Schaft festgebunden, Zeuge eines schweren Kampfes auf Leben und Tod. Als ich wieder nach einem halben Jahrhundert den Hahn spannte, war es mir, als hörte ich leise raunen: für einen Landesverräter könnte die Federkraft immer noch reichen.
Solange mein Vater lebte, bekam ich die Waffe nicht in die Hand. Sie war übrigens in einen Schrank eingeschlossen und hatte bald nach ihrer letzten Feuerprobe einem modernen Gewehr Platz gemacht.
Wohl durfte ich Vater bisweilen — welcher Stolzetwa auf einem kurzen Pirschgang begleiten, auch gar ein Stück weit den Stutzen nach Art der Jäger tragen, aber an ein Handhaben, Pröbeln, Zielen war nicht zu denken, ebensowenig wie an ein zwängendes Durchsetzen oder Abtrotzen. Zur Erlernung des Jägerhandwerkes sei es immer noch Zeit genug, war die kurze, barsche Antwort. Sein Nein brauchte nicht wiederholt zu werden. Seine starke und, wenn 's sein musste, harte Hand war uns wohlbekannt. Auch kann ich mich nicht entsinnen, aus seinem Munde je ein Jagderlebnis gehört zu haben. Darin war er überkarg, zweifellos aus der Erkenntnis des Schadens, den die nicht leicht zu bezähmende, rasch sich entzündende Jagdleidenschaft bei der Jugend zur Folge haben kann. Nicht zuletzt mag ihn eine tief verankerte Liebe zum Tier, zum Wild, zu allem Geschöpf, die mit seinem ererbten Jagdinstinkt ständig im Kampfe stand, in seinem abwehrenden Verhalten uns Buben gegenüber dabei geleitet haben. Noch sehe ich ihn im Geiste, den sehnigen Graubart, wie er einen rohen, stämmigen Fuhrmann, als dieser vom überladenen Wagen aus mit umgekehrtem Peitschenstock seine Rosse traktierte, von seinem Sitz herunterriss und ihn mit dem ihm entwundenen Marterwerkzeug verbläute. Doch wenn die Zeit der sich vergilbenden Lärchen näherte, da sahen wir ihn selten zu Hause, den Vater; da trieb es ihn hinaus in die Berge, und wenn wir Rangen am Morgen, nur halb angezogen, mit unserm Gwunder in den Sulèr, den Hausgang, hinunterstiegen, da hing oft am Balken neben der Stubentüre ein starker Gemsbock, aus dessen Weidloch von Zeit zu Zeit Blut heruntertropfte. Stolz und Mitleid widerstritten in unsern Gefühlen und trieben uns zu vergleichender Nachschau bei den andern Jägern im Dorfe.
Es war noch die Zeit, als in den abgelegenen Seitentälern des mittleren Engadins die dort sömmernden Berganiaskerhirten unter den alten Arven und Lärchen an der Waldgrenze die ganze Nacht hindurch Feuer unterhielten, um die damals noch häufigen Bären von den Viehherden fernzuhalten.
Wer unsern Nationalpark durchstreift, sieht die Brandspuren am oberen Waldsaum fast auf Schritt und Tritt. Wie oft hatte uns das in Tschudis « Tierleben der Alpen » ehrend genannte « Geigerlein », Gianin Suneder, oder, wie er mit seinem Taufnamen hiess, Gianin Nuolf, ein gebürtiger Münstertaler, anlässlich des Chalandamarzballs seine Bärenjagd im Val Tavrü erzählt, wo er an einem einzigen Tage nicht weniger als vier Bären, also eine ganze Bärenfamilie, zur Strecke gebracht hatte.
Vor unsern erstaunten Augen wuchs das kleine freundliche Männchen angesichts einer solchen Jagdbravour zum unerschrockenen Helden, und seine lustigen Tanzweisen flössen wie Feuer durch unsere Adern.
Scheu wichen wir Buben zur Seite, wenn der alte, breitschultrige, immer knurrende oder sich räuspernde Rageth Luzzi durchs Dorf schritt. Vor Jahren hatte er, als ein mächtiger Bär im Legföhrendickicht auftauchte, nach wiederholten Überfällen auf die Kühe der Alp Barlas-ch, einzig und allein mit einem dicken Knüppel bewehrt, Meister Brumm aus seiner Verschanzung vor die Feuerrohre der umlagernden Schützen herausgetrieben.
Und als wir an einem Spätsommerabend gegen die Alp Pülschezza hinaus-geeilt waren, um eine vom Bären zerrissene Kuh zu sehen, standen wir wie gebannt vor dem schaurigen Anblick. Das bedauernswerte Opfer musste im Moment des Ansprunges den Bären abgeschüttelt haben. Dabei hatte dieser mit einem Prankenzuge Haut und Fleisch von den Rippen heruntergerissen, so dass man in die Leibeshöhle sehen konnte. Nachts holte sich der Bär mitunter im Val Mingèr Schafe aus einem zwei Meter hohen Pferch im Sprunge heraus und trug die erbeuteten Tiere ebenso leicht davon, wie etwa die Katze eine Maus. Immer wusste er dabei den Jägern ein Schnippchen zu schlagen. Kein Wunder, dass der Arge nicht nur gefürchtet, sondern auch verhasst war und dass man, sobald er sich irgendwo erblicken liess, die ganze Jägergilde alarmierte.
Wir waren daher nicht wenig stolz, als wir vernahmen, dass auch Vater sich anschickte, ihn aufs Korn zu nehmen. Die Begegnung liess nicht lange auf sich warten, ja sie überraschte ihn sogar völlig unvorbereitet. Auf dem gewohnten Pfade zu seiner Gemslecke bemerkte er beim Hinaufsteigen in einem engen steilen Lawinenzug — es ging der Morgendämmerung zu — wie sich im Gesträuch etwas bewegte, was er anfänglich für einen Waldbock hielt, denn Rehe und Hirsche waren damals im Engadin noch unbekannt. Rasch nimmt er Deckung hinter einem Strunk und verfolgt aufmerksam die Bewegungen der Zweige, die das oben in halber Schussnähe befindliche Tier verdecken. Der Stutzen wird in Anschlag gebracht, der Hahn gespannt und eine Zündkapsel aufgesetzt. Bald guckt oben ein Bärenkopf sichernd zwischen ERINNERUNGEN AN DEN BÜNDNER BÄR.
dem hohen Gekraut hervor. Doch wie ärgerlich: beim Aufstieg hat sich ein Zweiglein unter den Schatthut des Visiers geschoben, das ihn am Zielen hindert. Dieses rasch entfernend, schaut er wieder hinauf. Täuschen ihn seine Sinne? Jetzt sind 's zwei Köpfe, nun taucht sogar ein dritter, bedeutend grösserer auf: eine Bärin mit zwei Jungen. Ein übereilter Schuss auf eines der Jungen hätte unter Umständen die Lage äusserst kritisch werden lassen, denkt sich der Schütze, indem er auf den Kopf der Bärin anlegt. Auf den Schuss überkugelt sich das mächtige Tier und rollt den steilen Abhang herunter fast bis vor seine Füsse. Schnell ein weiterer Schuss für eines der Jungen geladen! Doch plötzlich erhebt sich die Bärin, die, vom Streifschuss nur betäubt, sich davonmachen will. Beim überhasteten Laden — o Pech — zerbricht der hölzerne Ladestock. Ein Zweig wird eilig vom nächsten Strauch abgerissen, die Bärin durch Wald und Gestrüpp bis zu den nahen Felsen verfolgt und der zweite notdürftig geladene Schuss abgefeuert. Die Bärin sucht im Gefels sich zwischen zwei mächtigen Blöcken durchzuzwängen, in der Absicht, eine sie schützende Höhle zu erreichen. Sie merkt aber gleich, dass sie sich getäuscht hat, macht kehrt, stellt sich hocherhoben mit furchtbarem Gebrüll gegen ihren Verfolger und trachtet darnach, ihn zu Boden zu schlagen. Diesem bleibt keine andere Wahl, als den unausweichlichen Zweikampf aufzunehmen, das Gewehr umzukehren und mit dem Kolben zu versuchen, sich der Bestie zu erwehren. Zum Glück steht hinter ihm auf dem abschüssigen Boden ein grosser Stein, der ihm einigen Halt bietet. Von hier aus führt er in furchtbarem Kampfe seine Waffe, von der aber schon nach dem ersten Schlag der Kolben abbricht, so dass ihm nur noch das massive ERINNERUNGEN AN DEN BÜNDNER BÄR.
Rohr in den Händen bleibt. Schon stürzt die Bärin unter markerschütterndem Wutschrei halbtot zu Boden, erhebt sich aber gleich wieder. Da fällt es ihm plötzlich ein, nicht auf den Schädel, sondern auf die Schnauze zu schlagen, weil so die Knochen leichter zersplittern. Auf einen glücklich gezielten Schlag sinkt sie wieder zu Boden. Selber fast zu Tode erschöpft, gelingt es ihm doch noch, sein Messer rasch hervorzuholen und dem grauenvollen Gegner die Gurgel zu durchschneiden. Ein Blutschwall spritzt ihm ins Gesicht. Lähmende Schwäche überfällt ihn. An ein Weiterkämpfen ist für ihn nicht mehr zu denken. Blutüberströmt liegen beide nebeneinander. Endlich kehren Kräfte und ruhige Überlegung wieder zurück, doch lastet der furchtbare Kampf schwer auf Vaters Seele. Mühsam sucht er die Stücke seiner Waffe und bindet sie zusammen, dann schneidet er einige Legföhren am Rande des nahen Lawinenzuges ab, rollt die tote Bärin darauf und zieht das zentnerschwere Tier mit der letzten Anstrengung bis zum nächsten Waldweg herunter.
Als er, über die Innbrücke schreitend, dem Heimatdorf sich nähert, kommt ihm eine ganze Rotte von Kindern, Weibern und Alten entgegen. Sie hatten das Brüllen des Tieres vernommen Wie er totenblass, in schlaffer Haltung daherschritt, errieten sie, was vorgefallen war und wollten ihn jubelnd beglückwünschen, doch er wies sie kurz ab, wünschte er doch vielmehr, sich nie mit dem Bären eingelassen zu haben.
Auch meine gute Mutter, die morgens am Brunnen das beängstigende Brüllen vom jenseitigen Berghang her gehört hatte und wohl ahnte, was vorgefallen war, sass stundenlang wie gelähmt in der Küche. Ihre Ahnung wurde noch durch einen sonderbaren Vorfall bestärkt.
Meine damals erwachsenen ältesten Brüder waren am betreffenden Morgen auf einer Waldwiese oberhalb des Dorfes beschäftigt. Das Brüllen hatten sie nicht gehört. Aber beide überfiel eine ihnen unerklärliche, sich verstärkende Unruhe, die sie zwang, die Arbeit abzubrechen und heimzugehen. Im Begriffe, nach dem jenseitigen Talhang zu eilen, woher das Brüllen von den Dorfbewohnern gehört worden war, sahen sie am Rande der gegen den Inn steil abfallenden Talterrasse bereits die markante Gestalt des Vaters auftauchen. Auch sie empfing er nur mit karger Andeutung des Vorfalles und dem Auftrag, den Nachbarn als einzigen Rossbesitzer im Dorfe zu ersuchen, den toten Bären an der bezeichneten Stelle drüben im Walde zu holen. Völlig erschöpft legte er sich zu Hause für einige Stunden nieder.
Am Hertransport der Bärin beteiligten sich ausser der gesamten Dorfjugend fast alle männlichen Bewohner. Jeder wollte doch dabei gewesen sein.
Mit grossem Hallo wurde die seltene Beute vor das Haus begleitet und in den weiträumigen Sulèr, den Hausgang, gebracht, dort nach Art der im Hause geschlachteten Tiere an den Hinterfüssen mit Stricken durch zwei Löcher an der Diele vom ersten Stock aus hinaufgezogen. Der in dieser Lage hängende Kopf des mächtigen Tieres reichte fast bis auf den Hausgang-boden.
Am folgenden Morgen früh soll mich mein etwa zwölf Jahre älterer Bruder, wie er mir noch vor wenigen Jahren erzählte, aus festem Kinderschlaf herausgerissen haben mit der Aufforderung, endlich zu erwachen, wenn ich Bärenmilch zum Frühstück trinken wolle. Damit nahm er mich kleinen Höseler energisch auf seinen Arm und trug mich in den Sulèr hinunter. Mit dem Befehl: « So, trink jetzt Bärenmilch », tatschte mich der Lausbub mit dem Gesicht an eine der noch prallen Brüste der Bärin. Dies hörend, springt die besorgte Mutter aus der Küche und versetzt dem Schlingel eine schallende Ohrfeige, begleitet von Worten des Abscheus über seinen jugendlichen Unverstand, der mir armem Wurm das Leben hätte kosten können wegen der sicherlich im Todeskampf giftig gewordenen Milch — eine Lektion, die der Junge, beleidigt sich entfernend, mit der Bemerkung quittierte: « Ach was, der kleine Kerl wird dadurch nur gross und stark. » Ob ich damals wirklich Bärenmilch gekostet, wage ich nicht zu behaupten, glaube aber, dass die tragische Nähe der tapferen und in ihrem vollen Rechte sich zur Wehr setzenden Bärin meine angeborene Tierliebe günstig beeinflusst und mit dazu beigetragen habe, ein Menschenleben lang für den endlichen Schutz auch dieser verfehmten, gründlich verkannten Geschöpfe einzustehen 1 ).
* ) Das geschilderte Ereignis geht auf das Jahr 1878 zurück. Der « Freie Rätier » in Chur brachte wenige Tage nach dem Vorfall in Nr. 190 vom 15. August 1878 eine einlässliche Schilderung. Die Bärenjagd spielte sich im Wald God dais Splers, am Fusse des Piz d' Esan, gegenüber Cinuos-chel im Oberengadin, ab.
Wie rasch die Abnahme der Bären in den letzten sechzig Jahren im sprichwörtlichen Bärenland Graubünden erfolgte, geht aus folgender Zusammenstellung hervor: Im Jahrzehnt 1878—1887 wurden 25 Stück erlegt » » 1888—1897 » 9 » » »»1898—1907 » 3 » » Von 1908—1940 » 0 » » Der letzte Bär im Engadin wurde 1904 im Val Mingèr, im Gebiete des heutigen Nationalparkes, zur Strecke gebracht.
Allerdings ist der Bär seit 1904 im Engadin noch verschiedene Male gesichtet worden, so 1914 bei Punt Purif im Fuorngebiet von der dort wachthaltenden Patrouille, dann 1923, am 6. August, auf der Höhe des Scalettapasses von Herrn Franz Patzen und 1932 von Schimun Caratsch in Varusch bei S-chanf, an der Grenze des Nationalparkes.
Seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat der Bär kaum mehr in unsern Bergen überwintert. Bei diesen letzterwähnten Fällen handelt es sich um Überläufer aus Südtirol, aus der Brentagruppe, wo der Bär glücklicherweise noch Standwild ist. Es ist zu hoffen, dass die geplante Gründung des Brenta-Nationalparkes durch die italienischen Naturschützer nicht zu spät kommt. Dann hätten wir Aussicht, den Alpenbären, diesen letzten Vertreter europäischer Grossfauna, eines Tages auch wieder in unsern Bergen anzutreffen.
Wie wäre es, wenn der Schweizer Alpenclub zusammen mit dem Schweizerischen Bund für Naturschutz sich beizeiten für dessen Schutz einsetzte und die vorsorgliche Streichung seines Namens aus der Liste der jagdbaren Tiere im Bundesgesetz über Jagd und Vogelschutz zu bewirken suchte?
Aus dem Schw. Archiv f. Volkskunde 1929.