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Eiswärmewirtschaft

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Von Alfred Holl.

I Im Erdwärmekapitel unserer Aufsatzreihe1 ) haben wir das Wesen des polaren Gletscherphänomens kurz angedeutet. Wir wollen nun zeigen, dass es auch im kalten Klima keine kalten Gletscher gibt. Kalt kann nur ihre Decke sein. Die Gletscher haben in den Polgegenden dickeres Zeug auf sich — wie die Menschen und die Tiere. Da wir für unsern Zweck eine lückenlose Wärmebeweiskette brauchen, müssen wir etwas weit ausholen und an alpine Verhältnisse anknüpfen.

Als junger alpiner Anfänger hatte ich irgendwo gelesen: Die Firnmulde des Gletschers, sein Nährgebiet über der Schneegrenze, ist mit Firn ( Kornschnee ) erfüllt, und aus ihr schiebt sich der Eisstrom des eigentlichen Gletschers, die Zunge, zu Tal. Ich zerbrach mir den Kopf: Wie kann denn der Schnee beim Verlassen der Schneegrenze plötzlich, wie vom Zauberstab berührt, zu blankem massivem Eise werden? Und ich freute mich dann, an Spalten und besonders an den grossen Firnbrüchen, prächtigen geologischen Aufschlüssen der Firnmulden, feststellen zu können, dass das Gletschereis bereits in der Firnmulde entsteht. Die jungen Alpinisten und Gletscheristen sind nun einmal wissbegierig; man sollte ihnen also sagen: Die Firnmulde ist eine Gletschereismulde, aber das Eis ist mit Lagen von Firn und Schnee bedeckt, die immer dicker werden, je mehr man in der Firnmulde emporsteigt. Der abfliessende Eisstrom ist nur deshalb blankes kompaktes Eis, weil von der Schneegrenze ab aller Firn von ihm abgeschmolzen ist; er ist kein Ganzes, sondern ein Rest, ein Überbleibsel; der Firn gehört zu ihm und auf ihn, denn ohne den Druck dieser dicken Decke konnte sich der Eisstrom gar nicht bilden. Die Zunge ist also nicht « der eigentliche Gletscher ». Sie spielt im Drama « Gletscher » nur die Sterbeszene.

Es entsteht nun die Frage: Welches ist der fliessende Stoff, der Firn oder das Gletschereis? Selbstverständlich das letztere! Dass der Firn vom Gletscher nur mitgeschleppt, transportiert wird, ist lange bekannt. Andernfalls würden nicht die gewaltigen Spalten und komplizierten Zerreissungen im Firngebiet entstehen, die auch der erfahrenste Gletscherwanderer stets mit Staunen und schaudernder Ehrfurcht betrachtet; sie entstehen oft an Orten, wo das Gelände gar keine Ursache zur Spaltenbildung bietet. Der Firn wirkt aber durch seinen Druck beschleunigend auf den Fluss des ohnehin fliessenden Eises. Grob gesprochen: Der Firn quetscht den Gletscher aus der Firnmulde heraus. Schon Heim spricht von der Wahrscheinlichkeit einer solchen Auffassung. Zuzugeben ist, dass der Firn nicht ganz ohne eigene Bewegung ist. Die Bewegungserscheinungen von Firn und Schnee sind besonders von Weizenbach und Paulcke studiert worden und für die Lawinenverbauung wichtig; für unser Problem sind sie bedeutungslos. Ein grosser Gletscher, ganz aus Firn bestehend, würde gewiss nicht 100 bis 200 m jährlich in schwach geneigtem Tale fliessen; die Firnbewegung ist vorwiegend ein Zusammensacken, eine Verdichtung. Mit einem etwas hinkenden Gleichnis können wir uns die Sache klarer machen: Der Gletscher mit seinen straff aneinander-grenzenden Eiskristallkörnern ist wie ein Regiment wohldisziplinierter Soldaten, die in enger Fühlung marschieren und mit jedem Schritt ein Stück vorwärts kommen. Der Firn aber ist wie ein lockerer Haufen undisziplinierter Menschen, die zwar viel Spielraum haben, aber nicht recht wissen, wohin sie sollen. Der Haufen kommt also nicht recht vom Fleck. Dass die Fallwärmeschmelzung ( siehe unsere früheren Aufsätze ) nur beim Gletschereis die Fliessverformung hervorbringen kann, und nicht beim Firn, ist klar. Denn da die Firnkörner den Raum nur halb oder zu 2/3 ausfüllen, so nützt eine innere Schmelzung an den reibenden Stellen gar nichts. Bewirkt wird nur das Zusammensacken, sowohl durch Wärme als durch Druck.

Wir können den wichtigen Satz formulieren: Das Gletschereis ist das Substrat des Glazialphänomens, d.h.: Ohne Gletschereis keine Gletscherbewegung. Der Satz mag selbstverständlich erscheinen, aber er wird besonders in der polaren Gletscherliteratur gar nicht beachtet. Eis und Firn, zwei grundverschiedene Gesteine, werden sogar oft in einen Topf geworfen. Man spricht z.B. von embryonalen Gletschern, wenn es sich um Firnbildungen handelt, die weder aus Gletschereis bestehen, noch eine messbare Bewegung zeigen. Ebensogut könnte man Kreide für embryonalen Marmor nehmen.

Nun wollen wir uns kurz vor Augen führen, wie sich z.B. in Grönland das Glazialphänomen darstellt. Wir könnten das nicht tun ohne die bahnbrechenden und opfervollen Arbeiten des grossen Forschers Alfred Wegener und seiner tapferen Kameraden.

Wegener unterscheidet am grönländischen Inlandeis drei Gebiete: erstens das spaltenlose zentrale Firngebiet, etwa 2500 bis 3000 m über Meer, ein ungeheures Areal, etwa 20 mal so gross wie die Schweiz. Der Name Inlandeis passt schlecht für dieses Gebiet; es ist Inlandfirn. Hier kommt es höchstens ganz selten in heissen Sommern zum schwachen Tauen; Eis gibt es da also kaum. Die Firntemperatur in « Eismitte » ist —28°.

Umschlossen wird dieses Zentralgebiet von der Zwischenzone, einem etwa 140 bis 300 km breiten Streifen in 2500 bis 1800 m Höhe, ebenfalls eine riesengrosse und spaltenfreie Fläche. Hier taut und regnet es im Sommer, zuweilen sogar tüchtig und durchdringend. Sonne und Wind vereisen ( verharschen ) den Schnee; es entstehen Eishorizonte, aber dieses Eis ist kein Gletschereis, sondern Wassereis.

Von 1800 m abwärts bis über die Schneegrenze ( durchschnittlich etwa 1300 m ) hinab liegt dann das äussere Randgebiet; es ist von Spalten durchzogen, 60 bis 120 km breit, im ganzen ebenfalls eine riesenhafte Fläche.

Wie Jülg ( Gefährte Wegeners ) mitteilt, wird manchenorts im Randgebiet ( z.B. bei 62 km Randabstand in 1800 m Seehöhe bei etwa 1400 m Eisdicke ) durch das unten abfliessende Eis die oberflächliche spröde Decke passiv mitgenommen und hierbei reisst sie in Spalten auf. Je nach der Gestaltung des Untergrunds ( Riesengletscherbuckel ), entstehen gewaltige Firnbrüche, berges-hohe, wild durcheinandergeschobene Eis- und Firnblöcke. Die hier gebildeten Spalten sind 20 bis 40 m breit, aber nicht sehr tief; im Winter werden sie bei Schneefegen wieder zugeschüttet und im frühen Frühjahr ist auch dieses Randgebiet spaltenfrei.

Die Steigung in den Randzonen beträgt etwa 1: 50 bis 1: 200. Im Innern ist alles eben; unmerklich wird die Steigung; Woche um Woche fährt das Hundegespann über die weite glitzernde « Eis»wüste; stets schnurgerad, wie mit dem Lineal gezogen, steht der Horizont ringsum. Man kann die ausgedehnten Einzugsgebiete der grossen Abflussgletscher bis etwa 80 km Randabstand verfolgen, da sie etwas eingetieft sind; selbstverständlich aber reichen sie unsichtbar weit ins Innere. Die mächtigen Kessel dieser Einzugsgebiete zeigen Spalten, die wie ein Amphitheater parallel den Höhenlinien angeordnet sind. Die Wegener-Expedition besuchte z.B. das Einzugsgebiet des gewaltigen .Rm/r-Eisstroms, eines der grönländischen « Schnelläufer », der mit 20 m Tageslauf ins Meer geht und sehr viele grosse Eisberge produziert. Das Inlandeis kann man von manchen Punkten der Küste in raschem Anstieg erreichen, aber auf den grossen Eisströmen muss man tagelang wandern, um 1000 m Höhe zu gewinnen. Man darf sich das Innere Grönlands unter dem Eis nicht als eine 1000 m hohe Ebene vorstellen; die gigantischen Gletscher haben hier Jahrhunderttausende gearbeitet; hier gibt es mächtige Abflussrinnen, Tröge und Kessel, dazwischen Riesenwülste und Buckelreihen.

Zwischen diesen Zeilen kann man lesen: « Der Firn quetscht die Gletscher aus dem Firngebiet heraus. » Ganz wie der junge Kuckuck die jungen Grasmücken oder Rotkehlchen aus dem Neste drängt. Dieser Satz, für Alpengletscher erfunden, ist dort gleichsam nur eine leere Redensart, da ja der Firn mit dem Gletscher geht. Aber hier in Grönland hat der Satz volle Gültigkeit. Das ganze ungeheure Firnzentralgebiet samt der teilweise vereisten Zwischenzone ist ohne erhebliche Bewegung. Nur ein Zusammensacken des Firns, eine Senkung, findet statt, nach Massgabe des oben erfolgenden Zuwachses und des unten erfolgenden seitlichen Ausweichens des unten entstandenen Gletschereises. Dieses Zusammensacken des Firns geschieht sehr ruhig und allmählich. Nur in den oberen Metern findet die Schrumpfung schnell statt, und zwar zum Teil ruckweise auf grossen Flächen, mit Donnergetöse und erdbebenartigen Erscheinungen. Diese « Firnstösse », bei denen dünne Schichten von Lockerfirn ( Schwimmschnee ) zerdrückt werden, betreffen nach Sorge nur die oberen 10 Jahresschichten = 7 m Tiefe, und keinerlei Spalten reissen dabei auf. Die Möglichkeit, dass auch seitliche Firnbewegung in ganz geringem Ausmass stattfindet, braucht man nicht zu leugnen, aber es wären hundertjährige zahlreiche Beobachtungen am Rand und im Innern nötig, dies festzustellen, denn als Fixpunkte können nur die Gestirne dienen, und die grönländische Festlandscholle triftet ja auch ein wenig.

Die Plastizitätstheorie würde erfordern, dass das gegen 2000 m dicke Grönlandeis oben nach allen Seiten auseinanderfliesst wie eine dickflüssige Masse, und in der Tat ist diese Meinung allgemein verbreitet; man findet sie auch bei Wegener und seinen Gefährten. Aber die Wirklichkeit ist gerade Die Alpen — 1939 — Les Alpes.2 umgekehrt: In den untersten Schichten, wo das Gletschereis entsteht und wo eine zähe ( « viskose » ) Masse gar keine Bewegung zeigen würde, ist die Hauptbewegung nach aussen; aber oben bleibt alles beisammen. Im Rand-und Zwischengebiet wäre die Böschung gross genug, um Riesengletscher oben abfliessen zu lassen. Aber der Firn bleibt, so geböscht, stehen, weil er eben überhaupt nicht fliessen kann. Zuerst muss er warm werden, und das kann er nur, indem er sich an Mutter Erde anschmiegt ( siehe Erdwärmekapitel ). Ohne Erdwärme gäbe es überhaupt kein polares Glazialphänomen; bis zur Stratosphärenhöhe würde sich der Firn anhäufen und am Rande bergsturzartig niedergehen; weitere Folgen darf sich jeder ausmalen. Der kalte Trockenfirn verhält sich ganz ebenso wie alle andern mehr oder weniger losen Gesteinsmassen; mit der Gletscherbewegung hat er nichts zu tun.

Vom Grönlandfirn geht also nur so viel mit nach aussen, wie das unter ihm fliessende Gletschereis mitschleppen kann; dabei reissen im Randgebiet, wo die Firndecke dünn wird, die erwähnten Spalten auf. Im Innern, wo das Eis dünn und der Firn dick lagert, macht sich das Mitschleppen des Firns oben gar nicht bemerkbar, obgleich auch im Innern buckeliges Gelände ist. Wie in einer alpinen Firnmulde wird der Firn nach aussen, gegen die Schneegrenze hin, dünner und der Gletscher dicker. Das bewirken im Zentralgebiet nur die beiden irdischen Wärmequellen, Erd- und Fallwärme. Aber von etwa 2500 m abwärts ( die Grenze ist sehr unscharf ) beginnt die Sonne im Sommer von obenher immer kräftiger mitzuwirken. An der Schneegrenze, in Mittel-Westgrönland z.B. bei 1400 m, keilt der Firn aus, und weiter unten sind die Gletscher in dem kurzen, oft recht warmen Sommer meist unbedeckt. Wir haben also von 2500 m abwärts ähnliche Verhältnisse wie an den vergletscherten Viertausendern der Alpen ( s. den Aufsatz über Gletschertemperatur ). Es darf insbesondere nicht bezweifelt werden, dass in der Zwischen- und Randzone, also auf einem sehr breiten Gebiet, grosse Mengen Tauwasser in den kalten Firn dringen, ihm seine Frostigkeit nehmen und ihn auf Schmelztemperatur erwärmen, wodurch er befähigt wird, unter Druck zu Gletschereis zu werden. Die tauende Wirkung der Sonne entspricht in Höhe der Schneegrenze etwa 1 m Eis in jedem Sommer; in dem streng polaren Nordostgrönland sicher noch etwa yz m Eis. Ein nicht unbedeutender Teil des Firns wird zwar vom Wind aufgezehrt, aber sicher nicht mehr als 10 cm Eis jährlich entsprechend. Nun wird freilich, wie in den Alpen, die Schmelzwirkung 1000 m über der Schneegrenze nicht mehr bedeutend sein. Aber bis 600 m über der Schneegrenze genügen nach Überschlagsrechnung die Tauwasser-mengen völlig, um die Wirkung der Erd- und Fallwärme ( s. weiter unten ) zu ergänzen. Über der Schneegrenze laufen ja auch in Grönland keine Bäche auf dem Firn. Das Tauwasser sickert also ein, und es kann nicht durch nächtliches Wiedergefrieren oben festgehalten werden, da der Polarsommer keine Nächte hat. Im Juli z.B. kann die Sonne eine ständige Schmelzarbeit verrichten, die nicht durch Nachtfröste, sondern nur dann und wann durch ungünstige Wetterperioden unterbrochen wird. Man kann einwenden, dass das Tauwasser nicht viele hundert Meter eindringt und dass es an den er- wähnten Eishorizonten aufgehalten wird, aber wir haben ja Zeit, auf ein paar Jahrhunderte kommt es hier gar nicht an. Es finden langsame Diffusions-vorgänge statt: vom nassen warmen zum trockenen kalten hin wandern die Aussenmoleküle in Dampfform, auch durch Harstschichten hindurch. Jeder Liter eingedrungenen Wassers muss durch sein Gefrieren in der Tiefe naturnotwendig 160 Kilo Firn um 1° erwärmen.

Der Winter ist freilich lang und streng, und er beeinflusst diese Wärmewirtschaft des Tauwassers, aber hier oben im Firn ist das Material porös und ziemlich gut wärmeschützend. Unten auf der Zunge ist es anders. Die winterliche Schneedecke ist dünn, in Nordostgrönland gar nur 1/10 der alpinen oder noch weniger. Der Frost dringt also in den grönländischen Gletscherzungen viel stärker und tiefer ein als bei Alpengletschern; es kommt sogar vor, dass. auf den riesenhaften Eisströmen grosse Flächen im Winter durch den Wind aper gefegt sind. Zwar ist die Schmelzwirkung der Sonne auf den Zungen im Sommer sehr bedeutend, in Höhe der Küste etwa 4 m Eis in Westgrönland, denn 3 m gibt der Gletscher her und dazu kommt die Schneedecke. Dementsprechend entwickeln die grossen Eisströme an ihrer Oberfläche im Sommer gewaltige Flüsse infolge der grossen Ausdehnung des Abschmelzgebiets, und weisen auch an flacheren Stellen ausgedehnte Seen und grosse Schneesümpfe auf. An Wasser fehlt es also nicht, aber es fehlt die aufsaugende Decke. Auf dem unbedeckten Gletscher läuft das Wasser schnell ab und nimmt seine Schmelzwärme mit.

Wir haben also bei den aperen polaren Gletscherzungen mit einer gewissen Dauer frostrinde zu rechnen. Wie dick kann diese Rinde werden? Es liegen bis jetzt nur zwei Beobachtungen vor. Bei der Überwinterung 1931 in Weststation, 1000 m, war die Eistemperatur oben —6°; in der Tiefe wird es auf 10 m um 1° wärmer, also 60 m Frostrinde. Die grossen Gletscher sind dort gut 600 m dick, also die unteren 9/10 schmelzwarm.

Die zweite Beobachtung stammt vom StorströmGrosser Strom ), einer Riesengletscherzunge in Nordostgrönland, und zwar 60 m über Meer, 4 km vom kalbenden Gletscherende. Der dänische Offizier J. P. Koch, ein bedeutender Polarforscher, und der junge Wegener haben schon 1912/13 auf diesem ungeheuren Eisfeld überwintert, eine mühsame Bohrung bis 24 m Tiefe ausgeführt und sehr sorgfältige Beobachtungen gemacht. Oben ist die Eistemperatur im Winter —20°, etwa gleich der mittleren Jahrestemperatur der Luft. Wärmeschutz durch eine Schneedecke ist hier nicht vorhanden, da der Gletscher aus dem niederschlagsreicheren Zentralfirngebiet Grönlands, im ganzen 600 km weit laufend, in ein streng trockenkaltes Klima hinabsteigt, wo er von der Schneegrenze an, die etwas unter 1000 m liegt, 100 Jahre lang mit fast unbedeckter Zunge zum Meer strömt, und zwar die letzten 70 km auf einem Talboden, der unter dem Meeresspiegel liegt. Die geringen Winter-schneemengen sind ohnehin —35° kalt. Im Sommer schmilzt zwar über 1 m Eis ( Julitemperatur +4° ) in Küstenhöhe, aber die Erwärmung geht in den paar Wochen nur bis etwa 1 oder 2 m Tiefe, während der 10 Monate dauernde Frost tiefer eindringt. Koch und Wegener fanden nun in 24 m Tiefe bereits —14°, also 6° wärmer als oben. Im unteren Teil des Bohrlochs jedoch ist die Erwärmung langsamer: 1° auf 10 m. Man kann also in 160 m Tiefe Schmelztemperatur annehmen; man kann auch « ungünstiger » rechnen und erst in 200 m Tiefe Schmelztemperatur feststellen. Die Frostrinde ist am Storström somit etwa dreimal dicker als in der Weststation auf 1000 m Höhe, die ja von der Schneegrenze viel weniger weit entfernt ist und mehr Niederschlag hat.

Wegener war überrascht von der raschen Temperaturzunahme in seinem Bohrloch; er berechnete, dass die Erdwärme allein diese Wirkung bei weitem nicht hervorbringen kann ( erste richtige Erdwärmeberechnung ), und er führte auch die erste Fallwärmerechnung aus, da er einsah, dass die Fallwärme zur Erdwärme hinzukommt. Da Wegener den vom Firngebiet ausgeübten Fliessdruck aus einem nebensächlichen Grunde wegliess, berechnete er die Fallwärme allerdings zu gering; die wichtigen Ergebnisse von Hess über die Druckverteilung im Gletscher waren ihm anscheinend unbekannt. Der Fliessdruck ist hier beträchtlich, und man darf Wegeners Rechnungsergebnis ruhig verdreifachen.

Es fragt sich nun: Welchen Teil der Gletscherdicke stellt diese Frostrinde von 160 bis 200 m vor; kann es überhaupt kalte Gletscher oder wenigstens Gletscherzungen geben, die durchweg auf Frosttemperatur stehen und trotzdem fliessen? Das ist selbstverständlich ein hochwichtiges Problem der Gletscherphysik. Schon 1904 war Hess zu der sicheren Erkenntnis gelangt, dass alle Gletscherbewegung wenigstens da, wo es darauf ankommt, an die Schmelztemperatur gebunden ist. Man glaubte aber immer noch an kalte Gletscher, und es ist in der Tat schwierig, die Schmelztemperatur bei polaren Gletschern zu vereinbaren mit der grimmigen Kälte: z.B.20° Jahresmittel am Stor-ström,30° in Eismitte und —40 bis —60° Winterkälte in allen Polgebieten der Erde. Besonders der geniale Wegener, der sich wenig um Autoritäten kümmerte, glaubte an kalte Gletscher und war am Storström überzeugt, einen solchen vor sich zu haben. Zwar nahm er dann auf Grund seiner Berechnungen an, dass der Storström wenigstens am Boden, und zwar in etwa 230 m geschätzter Tiefe, auf Schmelztemperatur steht. Wir müssen aber, um die Grenzen der Gletscherwärmewirtschaft zu studieren, die Dicke dieses kältesten Gletschers der Erde näher betrachten. Nach den vielen Erfahrungen, die man heute hat, kann ein 200 m dicker Gletscher nicht lOmal schneller fliessen als der Aletsch. Die andern Grönlandgletscher, die dem Inlandeis entquellen und so energisch ins Meer laufen, sind alle 400, sogar bis 600 m dick; und der Storström macht keine Ausnahme, wie wir sogleich sehen werden.

Wenn ein Gletscher ins Wasser geht, so kommt er nicht weit. Er endigt mit einer senkrechten Eiswand, von der das Wasser durch seinen Auftrieb in Verbindung mit Ebbe-und-Flutschwankungen die bekannten Eisberge losbricht. Der Gletscher verliert den Boden, er kommt in Schwimmlage, und wir brauchen nur die Höhe der Eiswand mit 9 zu multiplizieren, um die Dicke des Gletschers zu erhalten. Koch und Wegener schätzten im September 1912 bei ihrer Ankunft, vom zugefrorenen Meer aus, die Höhe der kalbenden Eiswand des Storström auf 40 m ( S. 24 des Expeditionswerks ), das ergibt die Gletscherdicke zu 360 m und die Meerestiefe zu 320 m. Man darf sich auf diese Schätzung verlassen, denn gerade diese Wand mussten die Forscher ersteigen, und zwar mit Pferden, Schlitten und schweren Überwinterungslasten. Wegener spricht von der « 40 m hohen Gletscheroberfläche », die es zu ersteigen galt, um aufs Inlandeis zu kommen. Die Ersteigung konnte nur zur Not durch eine mitten in diese Gletscherwand eingeschnittene Schlucht, durch Kalbungen und Spaltungen entstanden, durchgeführt werden, wobei für die Pferde, die Steigeisen bekamen, sogar Stufen geschlagen wurden, welche die Tiere intelligent benutzten. Die Pferde waren kleine zähe Isländer, die in der Kälte sehr langhaarig wurden. Bei der Durchquerung Grönlands im Sommer 1913 bekamen sie sogar Schneeschuhe, ovale Buchenholzplatten, an die Hufe geschraubt, mit denen sie nach ein paar Stunden Übung das ermüdende Einsinken im lockeren Schnee vermeiden lernten.

Wir sehen also, dass die Frostrinde des Storström nur halb so dick ist wie der Gletscher. Dessen untere Hälfte ist schmelzwarm, sie ist das Bewegende, sie trägt und schiebt den starren oberen Teil, der für sich zu keinerlei Bewegung fähig wäre, denn die Neigung der Zunge ist oben an der Schneegrenze 1: 100 und unten auf der Küstenebene nur 1: 200. Wegener stellte fest, dass das kalte Eis als starre, steife Masse verschoben wird, ohne Fliessverformung. Fälschlich wurde diese Beobachtung Wegeners von anderen verallgemeinert und auf warme Gletscher ausgedehnt. Frostkaltes Eis verhält sich nicht anders als jedes Gestein. Wenn es nicht steil geböscht ist, bleibt es ruhig liegen. Man darf nicht glauben, es könne vom Gebirg her auf 500 km Entfernung im Vorland eine Bewegung hervorrufen — ebensowenig wie der Gneis der Jungfrau den Boden in Bern bewegt.

Das Frostrindeneis der unbedeckten polaren Gletscherzungen ist also erst nachträglich kalt geworden; es kann überhaupt nur bei Schmelztemperatur entstanden sein. Und nicht nur die 360 m Eis des Storström waren früher durchweg schmelzwarm, sondern mindestens 100 m mehr, denn gut 100 m sind seit Verlassen der Schneegrenze weggeschmolzen ( in etwa 100 Jahren ). Durch ein sinnreich erdachtes Untersuchungsverfahren fand Wegener, dass die in den Bläschen des Eises des Storström eingeschlossene Luft unter dem hohen Druck von 10 Atm. steht; das entspricht eben dem Druck von 110 m Eis. Wegener sagt: « Das Eis des Storström hat vor Jahrzehnten und Jahrhunderten die bodennahen Schichten des Inlandeises in der Randzone gebildet, wo es jedenfalls mit mehreren 100 m mächtigen Schichten bedeckt war und dabei vermutlich höhere Temperatur besass als heute. » Man darf diese Vermutung zur Gewissheit erheben, denn bei 20° Kälte kann kein Gletschereis entstehen, und man darf hinzufügen: Vor etwa 5 Jahrtausenden ist das Eis des Storström als Schnee mitten in Grönland gefallen, es bildete vor 1000 Jahren die bodennahen Schichten des Zentralfirngebiets, vielleicht 500 bis 600 km vom heutigen Standort entfernt, und da wurde es zu schmelzwarmem, von Geburt an seiner Meeresheimat zustrebendem Gletschereis. Beobachten können wir nur seinen hundertjährigen Endlauf von der Schneegrenze bis zum Meer, wobei es eine allmählich dicker werdende Frostrinde bekam. Aber dieser Endlauf ist nicht die Hauptsache, er ist nicht der « eigentliche » Gletscher.

Der eigentliche Gletscher liegt nicht blank, sondern vielleicht 1500 m tief unterm Zentralfirn, er ist sehr lebendig, er ist nicht totes Frosteis. Fast ganz Grönland ist Firngebiet, und im Innern wird die eigentliche Gletscherbewegung, der Fliessdruck, die vorstossende Kraft, erzeugt. Dränge die Durchkältung sogar bis auf den Grund einer Zunge, so könnten wir doch nicht von einem « kalten Gletscher » reden.

Wir haben am Storström nur die Mittelzone betrachtet. Nur diese zeigt die erwähnte Schlusswand von 40 m Höhe, und auf diesem mit 4 m täglich bewegten Mittelstreifen überwinterten die Forscher. Dieser Streifen ist etwa 6 km breit, doppelt so breit wie der Thuner See, und das ist schon reichlich genug für einen Gletscher der ersten Riesenklasse! Der Storström ist aber im ganzen 30 bis 40 km breit, also ein ungeheures Eisfeld, daher sein Name. Selten sieht man von der Mitte die Ufer. Am Meer hat der Eisrand noch 15 bis 30 km Breite. Die Uferstreifen sind weniger dick als der Mittelstreifen, sie werden zum Teil angefroren sein, sie münden im Meer mit .niedrigen Wänden, ihre Oberfläche ist bedeutend niedriger als die des Mittelstreifens, sie bewegen sich kaum, werden nur mitgezerrt und notdürftig durch Nachschub ersetzt. Ihre Kalbungstätigkeit ist entsprechend gering. Der Gletscher ist wie ein breiter Fluss, an seinen Ufern ist seichtes, stilles Wasser und in der Mitte rasche Strömung. Die Grenze zwischen der starkbewegten Mittelzone und den Randzonen ist auch auf der Oberfläche des Storström scharf ausgeprägt durch ein System von Längsspalten ( Scherungsklüften ) und durch eine Niveaustufe von bedeutender Höhe. Das Eis der Randzonen kann uns aber hier nicht interessieren, es ist kein Fliesseis, sondern Schiebeis, Toteis, Frosteis. Und was sich nicht selbst bewegt, das ist nun einmal kein Gletscher.

Viel gletscherkundlich Wichtiges wäre noch zu sagen von den Forschungen Kochs und Wegeners am Storström. Dieser Gletscher zeigt vieles, was die Alpengletscher nicht oder nur verkümmert zeigen, und Wegener gibt sehr eindrucksvolle Bilder von den Eiswänden, Kalbungsvorgängen, Scherungsklüften, Grossgleitflächen, Blaubandsystemen, Faltungszonen; « es macht einen überwältigenden Eindruck, die masslose Kraftentfaltung dieses Gletscherriesen zu sehen »; bei Grosskalbungen glaubt man, die Welt geht unter. Aber hier müssen wir uns auf das Wärmewirtschaftliche beschränken; sein inneres Feuer, seine Fallwärme, ist es ja allein, die dem Gletscher Leben gibt und ihn zu seinen Kraftäusserungen befähigt.

Nicht nur im Polgebiet gibt es Gletscherzungen mit besonders starker Dauerfrostrinde; sie brauchen ja zur Entstehung nur Trockenklima in der Zungengegend. Der berühmte Forschungsreisende Visser erforschte ein solches Gebiet im Karakorum-Himalaja. Dort strömen die Gletscher aus Nährgebieten hohen Niederschlags ( Schneegrenze 5000 m ) in eine Höhenzone intensiver Trockenheit herab. Den Zungen fehlt also im Winter die warme Decke, und der Frost kann jedes Jahr ein Stückchen tiefer eindringen. Kommt nun ein solcher Gletscher mit einem andern zusammen, der aus einem Seitental herbeiströmt, so schiebt sich der andere auf den einen hinauf, als ob dessen Oberfläche ein Felsboden wäre. Fliesst der untere, tragende Gletscher schneller, so wird der obere in Stücke zerrissen, die jedes für sich talab geschleppt werden, mit bestimmten Zwischenräumen. Es ist also ganz anders, als wir es in den Alpen gewohnt sind, wo die zusammenkommenden Gletscher ( z.B. Finsteraar und Lauteraar ) sich friedlich vereinigen zu einem einzigen Strom mit schön geschwungener Mittelmoräne.

Diese höchst merkwürdigen, den Gletscherkenner geradezu märchenhaft anmutenden Beobachtungen Vissers, die er mit eindrucksvollen Bildern belegt, lassen sich nur vermöge der starken, starren Frostrinde des tragenden Gletschers erklären. Der sich aufschiebende Gletscher ist selbstverständlich unten schmelzwarm; oben hat er auch eine Frostrinde, die aber nicht mitspielt. Es dauert dann lange Zeit, bis die Frostrinde des tragenden Gletschers durch die Bedeckung durchwärmt ist. Durch Bohrungen von einigen Metern Tiefe wären die Frostrinden dieser Gletscher nachzuweisen.

Zugleich sind diese schönen Beobachtungen Vissers ein Beweis für die hier vertretene Meinung von der Ursache des Gletscherfliessens durch innere Fallwärme-Schmelzverformung, denn anders lassen sich diese Gletscher-überschiebungen im Karakorum nicht befriedigend erklären. Frosteis kann eben keine Schmelzverformung erleiden; es ist starres Gestein.

Man liest in einem sonst ausgezeichneten geologischen Werk: « 135 Atm. Druck erniedrigen den Schmelzpunkt des Eises auf —1°, 1000 Atm., die beim Vorwärtsdrängen des Eisstroms wohl vorkommen können, auf ca.9°. » Diese Meinung, dass so hohe Drucke vorkommen, ist vielfach, und auch bei Polarforschern, zu finden. Sie beobachten, dass das entblösste arktische und antarktische Gletschereis oft Temperaturen von ungefähr —7 bis —10° zeigt. Da sie nun mit Recht nicht daran zweifeln, dass Gletscherkörner von Haselnuss- bis Faustgrösse auch im polaren Eis nur durch Druckschmelzung und Regelation, also bei Schmelztemperatur, entstehen können, so halten sie die beobachteten Temperaturen für die Schmelztemperaturen und schliessen daraus auf den hohen Druck. Aber ein Druck von 1000 Atm. könnte nur von einem sehr hoch in die Stratosphäre hinaufreichenden Gletscher erzeugt werden. Man muss in solchen Fällen die wichtigen Ergebnisse verwenden, die von Hess am Hintereisferner gefunden wurden und die den wichtigsten Fortschritt der Gletscherkunde seit Heim darstellen. Bei den heutigen Alpengletschern ist der Druck nicht über 100 Atm., entsprechend dem Schmelzpunkt —0,7°. Und in Grönland und Antarktis können wir etwa —1° als Schmelztemperatur in der Tiefe und Bildungstemperatur des Polareises annehmen, bei etwa 150 Atm. Höchstdruck.

Der Polarfirn an der Oberfläche jedoch bildet sich ziemlich schnell schon bei tiefen Frosttemperaturen. Wirksam ist dabei nur die Oberflächenspannung ( siehe unsere früheren Aufsätze ). Sie wirkt aber nur bis zur Firnkorngrösse von etwa 0,5 bis 1 mm; dann ist nämlich das Maximum der Anziehungskraft der Eiskörnchen für ihre Aussenmoleküle erreicht, und das Sichauffressen und Wachsen der Körner hat ein Ende. Nur unter besonderen, selten erfüllten Bedingungen werden bei Frost grossere Eiskristalle, von 5 bis 10 mm, erzeugt. Wenn z.B. in oder unter dem Schnee ein kalter Hohlraum sich befindet, so können die Eiskristalle in den Hohlraum hineinwachsen, besonders wenn durch den Schnee ein schwacher Luftstrom nach dem Hohlraum hin geht ( Sublimation ).

Man kann nun wohl zwei Arten Firn unterscheiden: den Wasserfirn oder Taufirn, der aus nassem Schnee entsteht ( Alpenfirn, Tieflandfirn ), und den Luftfirn oder Trockenfirn ( Grönlandfirn, Himalaja-Hochfirn ), bei dem das Wandern der Schneekristallmoleküle durch die Luft hindurch in Gestalt von Dampf erfolgt. Der hauptsächliche Unterschied dieser beiden Gesteinsarten scheint in der Porosität zu liegen. « Der Firn im Innern Grönlands ist so porös, dass man beim Hindurchblasen keinen Widerstand spürt, im Gegensatz zu dem dichten .Schnee'( Taufirn ), aus dem die Polar-Eskimos ihre Hütten bauen. » ( Georgi, « Im Eis vergraben. » ) Immerhin ist in 5 m Tiefe der Luftzug bei Sturm nicht mehr stark, wie Sorge in seinem « Eis»keller fand.

Sorge, der mit Georgi unter schwersten Lebensbedingungen bei der Überwinterung in « Eismitte » 1930/31 wertvolle Forscherarbeit geleistet hat, untersuchte den Grönlandfirn sehr sorgfältig. Die Dichte frisch gefallenen Schnees war 0,15. Aber der vom Wind gefegte Schnee auf der freien Ebene ist schon doppelt so schwer: 0,3. In diesem Zustand wird er bald vom Wind fest-gedrückt und nicht mehr emporgewirbelt; er verfirnt, besonders schnell bei Wind, der den Transport der Moleküle von Schneekristall zu Schneekristall besorgt. Sorge grub einen 15 m tiefen Schacht, 20 Jahresschichten Firn umfassend. Die Schrumpfung ( Verdichtung ) des Firns erfolgt oben rasch, von der Dichte 0,35 bis 0,55 ( mit noch 40 Volumprozent Luft ), in grosserer Tiefe wahrscheinlich nur noch sehr langsam. Die 20jährige Schicht ist schon steinhart. Die Firnkörner wachsen nicht mit der Tiefe; ein 20 Jahre altes Korn ist also trotz des ansehnlichen Drucks, unter dem es jahrelang stand, nicht grösser als ein junges. Zwischen Sommer- und Winterkörnern gibt es nur in den oberen Metern Unterschiede. Sorge schreibt: « Von diesem Zustand an ( etwa 0,6 bis 1 mm ) nehmen die Körner bis zur grössten untersuchten Tiefe nicht zu. Das ist ein auffallendes Ergebnis, da die grossen Gletscher, die vom Inlandeis herkommen, sehr grosse, oft faustgrosse Eiskristalle haben ( Beispiel: Grosser Karajakgletscher ). » Aber wenn Sorge, der Unermüdliche, sich noch Dutzende mal tiefer in den steinharten Firn hinuntergegraben hätte, so wären die Firnkörner wohl auch nicht grösser geworden. Bei so niedriger Temperatur ( —28° ) würde die Verdichtung zu Eis Tausende Atm. Druck erfordern. Eine Temperaturzunahme konnte Sorge in den 15 Metern nicht finden. Die von Wegener beabsichtigte Tief bohrung konnte leider wegen des schweren Unglücks, das die Expedition traf, nicht ausgeführt werden.

Der nasse Alpenfirn enthält schon bei jungen Schichten vergrösserte Körner von einigen Millimetern. Aber hier ist bereits Druckschmelzung und Regelation wirksam, in den oberen Schichten auch Tauen und Gefrieren. Die Entstehung des Gletschereises dauert in den Alpen Jahrzehnte, und im grönländischen Zentralfirngebiet Jahrtausende!

Alles Gelernte benützend, wollen wir uns nun zum Schluss ein Bild von der Wärmewirtschaft des zentralen Inlandeises machen. Eine Reihe naheliegender Fehler gilt es dabei zu vermeiden. Die Fallwärme ( s. den Aufsatz: « Gletscherwärmewirtschaft » ) ist Verformungswärme. Sie entsteht nicht im fallenden Firn, sondern in dem unter dem Firndruck fliessenden Gletschereis. Das Primäre ist also die Erdwärme ( s. Erdwärmekapitel ). Nun ist klar, dass der Grönlandfirn dick genug ist, schmelzwarm zu liegen; wir haben also auf alle Fälle oben —28°, und unten —1°, die Schmelztemperatur. Aber wir dürfen daraus nicht schliessen, dass ein gleichmässiges Temperaturgefälle herrscht, dass es also auf 67 m Tiefenzunahme in dem 1800 m dicken Firn 1° wärmer wird. Der Firn ist ja in Bewegung; er fällt jedes Jahr um 60 bis 70 cm, da so viel jährlich oben hinzukommt. Der Firn fällt dem Erdwärmestrom entgegen, er fängt ihn auf, nützt ihn völlig aus; nichts davon strahlt in den Weltraum. Ein Temperaturanstieg ist erst weit unten, vielleicht in den untersten paar hundert Metern, zu erwarten, weil dort die Vertikalbewegung aufhört und allmählich in eine mehr waagrechte übergeht. Und zwar muss es dort ziemlich schnell warm werden, zumal da die Fallwärme, die gleich mit der Verformung einsetzt, der Erdwärme überlegen ist.

Bei den Alpengletschern wird die Erdwärme an der Unterfläch e abgefangen und in Schmelzwasser umgesetzt, das aber im allgemeinen nicht sofort in den Gletscherbach gelangen kann, denn es ist ja kein Spielraum zwischen Eis und Fels. Das Erdwärmewasser muss, wie das Bodenreibungswasser und das im Gletscherinnern entstehende Fallwärmewasser, die Richtung des Druckgefälles einschlagen, d.h. es steigt zunächst im Haarröhrchennetz zwischen den Gletscherkörnern nach oben und gelangt etwa durch die nächste Randspalte zum Gletscherbach. Unter dem Inlandfirn aber gibt es weder Randspalten noch Bachkanäle, die durch warme Luft offengehalten werden. Das gebildete Gletschereis wird mit über 100 Atm. an den Felsboden gedrückt. Gletscherbäche gibt es also nicht unterm zentralen Inlandeis. Sie können nur da entstehen, wo im Sommer Oberflächenschmelzwasser in Randspalten versinkt und sich unterm Eise einen Weg ausschmilzt. Es ist für das Wasser manchmal nicht leicht, unter den Gletscher zu kommen; man sieht das z.B. am Märjelensee. Das Erd- und Fallwärmewasser, das unter und in dem zentralen Inlandeis entsteht, muss sich also einen Weg nach oben suchen. Es kommt dann, vom Gletscher ausgeschwitzt, in die noch nicht zu Eis gewordenen kalten Firnmassen, in denen es gefriert und seine Schmelzwärme wieder abgibt, wobei neben der aufsaugenden Wirkung des Firns Diffusion und Sublimation hergeht. Das Ergebnis ist: alles bleibt trocken; Erd- und Fallwärme werden restlos zur Erwärmung von Firn ausgenützt. Gestützt wird dieser Schluss durch die seismischen Beobachtungen der Wegener-Expedition, die kein Wasser unterm Inlandeis anzeigten. Analog dürfen wir für die eiszeitlichen Alpen keine Bäche und Flüsse im Innern des Gebirgs annehmen.

In Eismitte werden jährlich 314 kg Firn von —28° auf jeden Quadratmeter aufgeliefert. Davon können die 700 Kalorien Erdwärme nur den sechsten Teil schmelzwarm machen. Das gibt jährlich 6 cm Gletschereis, in 1000 Jahren 60 m, wodurch die Gletscherbewegung von Eismitte weg eingeleitet wird.

Die Fallwärme wirkt dann stärker, und zwar um so mehr, je weiter sich das Eis von der Landesmitte entfernt. Der im Zentralgebiet wirkende Teil der Fallwärme ergibt etwa doppelt so viel Gletschereis wie die Erdwärme; es muss also etwa die Hälfte des Zentralfirns noch kalt vom Gletscher mit nach aussen geschleppt werden. Das gilt aber nur für Eismitte, 3000 m. Die tiefer liegenden Gebiete, z.B. bei 2700 m, bekommen den Firn wärmer aufgeliefert; die Rechnung gestaltet sich dann günstiger. Dass die gesamte Fallenergie des zentralen Inlandeises bis zur Küste einer Schmelzung von 9 % entspricht, sahen wir in unserem Aufsatz « Gletscherwärmewirtschaft ». Man darf nicht daran zweifeln, dass diese grosse Menge Fallwärme-Schmelzwasser im Haarspaltennetz zwischen den Gletscherkörnern tatsächlich entsteht und von dem sich bewegenden Gletschereis ausgeschwitzt wird.

Alles Gesagte gilt auch für die Eisgebiete am Südpol. Weil dort die Schneegrenze meist im oder unterm Meeresspiegel liegt, sieht es so aus, als ob es da keine eigentlichen Gletscher gäbe, da die Zungen fehlen. Es ist wie wenn am Aletsch der Ozean den Konkordiaplatz überfluten würde. Die Gletscher tragen sogar kalt gebliebenen Firn ins Meer.

Wir haben gelernt: Das Dasein und die Bewegung der Gletscher sind an die Schmelztemperatur des Eises gebunden. Das Fliessen der Gletscher beruht auf der Verformung ihrer Eismassen durch die innerlich schmelzend wirkende Fallwärme, und nur unter ständiger Ausschwitzung einer bestimmten Wassermenge können die starren Kristallgesteinsmassen der Gletscher sich bewegen. Zwar vielgestaltig ist die Welt der Gletscher, und vieles ist noch zu erforschen auf den Gletschern der ganzen Erde. Jedoch in physikalischer Hinsicht gibt es nur ein Glazialphänomen, d.h. es gibt nur eine einzige Antwort auf die Frage: Warum fliessen die Gletscher?

An den polaren Gletschern zeigt sich manches, was wir an den warmen Alpengletscherzungen nur verkümmert beobachten können. Indes ist daran weniger die tiefere Lufttemperatur schuld als vielmehr die Niederschlagsarmut der Polgebiete. In Grönlandmitte ist die Niederschlagsmenge ungefähr 1/5 der alpinen. Es gibt aber kalte Gebiete mit noch weniger Niederschlag, z.B. 1/10 bis 1/20 des alpinen. In diesen Gebieten wird die Schneegrenze unscharf bis zum Verschwinden. Es treten noch Schneewehengletscher auf, die über der ( theoretischen ) Schneegrenze, wo alles kahl gefegt ist, gar kein Nährgebiet haben und nur vom Wind gefüttert werden. Zum Schluss tritt die Erdwärme ihre Herrschaft ab, und der Wind beherrscht die Bildung und Aufzehrung der dünnen Firnlagen.

In diesen trockenen Kältewüsten der Erde sind die Grenzen der Gletscherwelt. Und dort sind auch die Grenzen unserer Gletscherwärmewirtschaft.

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