Eine Besteigung des Demawend
Mit 5 Bildern.Von Armin Daeniker.
Seitdem in Teheran eine immer stattlicher gewordene Schweizerkolonie in Bildung begriffen ist, regt sich in ihren Reihen auch die Lust zu gemeinsamen Bergwanderungen und zur Durchforschung der vielen Gebirgszüge und Täler, die das iranische Hochland vom Kaspischen Meere trennen. In welcher modernen Hauptstadt findet wohl der Bergfreund eine ebenso reiche Auswahl lockender bergsteigerischer Aufgaben aller Art — allerdings nicht auch von Firn- und Gletschertouren —, wie sie sich ihm in nächster Reichweite von Teheran bieten? Viele dieser Touren lassen sich heute ebenso einfach ausführen, wie wir es uns, in unsern Schweizerstädten, über das Wochenende zu tun gewohnt sind.
Die bergfreudige Tradition unter den Schweizern in Persien stammt übrigens nicht erst von gestern. Schon die kleine Kolonie von Landsleuten, die vor 20 und mehr Jahren am Teppichhandelsplatze Hamadan niedergelassen war, hatte auf den Höhen des nahen Elwend ihr alljährliches Sommerlager aufgeschlagen, über dem manches Jahr die Schweizerfahne vor dem ewigblauen persischen Himmel geweht hatte.
Heute, wo die Schweizergemeinde in Iran an die 200 Mitglieder zählt, findet in ihren Reihen manch begeisterter Skifahrer einen gleichgesinnten Begleiter, in manch altem Clubmitglied erwacht plötzlich wieder die Wanderlust, und unter unsern Jüngern Landsleuten bilden sich flinke Klettergruppen, die sich jeden Freitag, dem mohammedanischen Ruhetag, immer wieder neue Gipfel und Grate zur glücklichen Besteigung aussuchen.
Für uns, die wir über manches Wochenende auf den luftigen Höhen des Elburzgebirges Erholung von den beklemmenden Eindrücken dieses Sommers 1940 gesucht hatten, stand es zum vornherein fest, dass wir diese Bergsaison durch die Besteigung des Demawend, des höchsten Gipfels Irans, abschliessen werden. Einsam, einem gefesselten Riesen gleich, schwingt sich seine vulkanische Pyramide über den von West nach Ost gerichteten Höhenzügen des Elburz dem Firmament entgegen. Diskret abseits stehend und doch allgewaltig nahe sieht seine leicht nach Westen übergeneigte Kuppe auf die Hauptstadt nieder. Wie oft an klaren Winterabenden war er uns auf der Rückkehr vom Skifahren im Widerschein der untergehenden Sonne wie eine leuchtend funkelnde Rose am östlichen Abendhimmel erschienen. Noch beherrschender wirkt er vom Strande des Kaspischen Meeres aus, wo seine wohlgeformte Silhouette den Ausblick nach Süden abschliesst und wo auf den nach Norden abfallenden Hängen der Schnee nie ganz weicht. Mit seinen 5670 Metern über Meereshöhe steht er von den Höhen des der Hauptstadt nahen Towtschals ( 3850 m ) oder von dem aus weiter Entfernung sich nähernden Flugzeug aus gesehen wie das einzig überragende Wahrzeichen des Landes da, das erst in solcher Höhe seine wahre Majestät erschliesst und die Eleganz seiner kühn beschwingten Grate offenbart, « erhaben über allen irdisch sieht- baren Dingen » nach den Worten einer englischen Reiseschriftstellerin; ein Anblick, nur dem Fujiyama vergleichbar, der immer wieder die Krönung der japanischen Landschaft bildet.
Obwohl zwar nicht als heilige Wallfahrtsstätte geweiht, wie der Fuji oder der die nationalen Götter beheimatende Olymp, spielt der Demawend in der Tradition Irans dennoch eine wichtige Rolle. Er ist der Mittelpunkt zahlreicher Legenden. Die biblische Erzählung der Sintflut wird in Persien dahin umgedeutet, dass die Arche Noahs auf der Kuppel des Demawend gelandet sei. Die sagenhaften Helden der iranischen Geschichte, Dschamschid und Rustam, hatten auf dem Demawend ihre Wohnung aufgeschlagen; auf dem Gipfel des Demawend hat Freidun, nachdem er den Riesen Zohak überwunden hatte, ein weithin sichtbares Freudenfeuer angezündet, und in den Schrunden des Berges sollen fauchende Drachen über unermesslichen Schätzen wachen.
Aus historischen Zeiten sind keine Eruptionen des Demawend bekannt. Seit Jahrhunderten hat sich ein lebhafter Karawanenverkehr zwischen Teheran und der kaspischen Meeresprovinz Mazenderan den Hängen des Berges entlang entwickelt, wo zahlreiche natürliche Grotten ihm willkommene Zufluchtsstätten geboten haben. In den Hochtälern sind Reste menschlicher Behausungen festgestellt worden, die aus einer Zeit Jahrtausende vor Christi Geburt herrühren. Eine grosse Zahl schwefelhaltiger Quellen begründeten den Wohlstand mehrerer schmucker Dörfer am Süd- und Ostfusse des Berges, die heute durch eine prächtig angelegte Automobilstrasse mit der Hauptstadt verbunden sind. Aber die Anwohner steigen nur selten die ungastlichen Hänge des Berges hinan — er ist vor ungefähr hundert Jahren zum erstenmal von Ausländern bezwungen worden —, sei es als Führer und Träger einer aus der Hauptstadt herbeikommenden Partie oder um einen Sack Schwefel oder Kristalle von den Höhen herunterzubringen.
Wir wussten, dass die beste Zeit für die Besteigung die zweite Hälfte des Monats August sei; vor Jahresfrist hatten zwei Landsleute damals die Verhältnisse sehr günstig angetroffen.
So zogen wir, nach gründlicher Vorbereitung, in den letzten Tagen des Monats August 1940 auf der neuen Strasse, die über Abali nach der Provinz Mazenderan führt, dem Berge unserer Wahl entgegen. Die Abwägung der Wetteraussichten spielt in Persien eine geringere Rolle als bei uns in der Schweiz; denn Tag für Tag wölbt sich im Hochsommer derselbe klare Himmel über dem persischen Hochland. Immerhin hatten wir in Anbetracht der schon vorgerückten Jahreszeit mit besonderer Aufmerksamkeit von Teheran aus die Verhältnisse an dem einsamen Riesen beobachtet. Um so erstaunter waren wir, ihn auf der Südseite, bis unter 4000 Meter Höhe, mit einer Schicht Neuschnee bedeckt zu finden. Durften wir unter solchen Umständen noch an ein dreimaliges Nachtlager unter freiem Himmel denken, und wie sollten diejenigen unter uns nicht enttäuscht werden, die anstatt schwerer Nagelschuhe sich mit leichten persischen Stoffschuhen, wie sie so ausgezeichnet als Kletterschuhe zu gebrauchen sind, versehen hatten?
Obwohl auch der bestellte Führer mit den sechs Maultieren nicht am verabredeten Orte erschienen war, liessen wir uns nicht entmutigen; in der Nacht suchten wir ihn an seinem Wohnort, in Renneh, auf und fanden ihn ohne weiteres zur Bergfahrt bereit. Rasch waren die nötigen Maultiere beschafft und in der Morgenfrühe mit dem Nötigsten, einem Zelt, dem Bettzeug und den Proviantsäcken, beladen.
Morgens um 7 Uhr verliessen wir die höchste Stelle ( 2400 Meter ü. M. ), den die am Demawend entlang führende neue Automobilstrasse erklimmt, als Ausgangspunkt unserer Bergtour; bis dahin war noch bis zum Ende des vergangenen Sommers ein Anmarsch von anderthalb Stunden nötig. Von hier aus, rechneten wir aus, betrug der zu überwindende Höhenunterschied 3300 Meter, also nicht viel mehr als die Höhendifferenz von Lauterbrunnen zum Jungfraugipfel. Nichts konnte unser Unternehmen mehr gefährden als ein plötzlicher Wetterumschlag, verbunden mit Kälteeinbruch, oder ein Versagen des Organismus in einer Höhe, in der wir uns alle sechs noch nicht erprobt hatten.
Rasch kamen wir zunächst über sanfte Gras- und Geröllhänge und an weiten Runsen vorbei hinan. Gegen Mittag spendete uns noch eine Quelle Labsal, an der Schafherden aus der weiten Umgegend zusammengezogen waren und in geordneter Reihenfolge zur Tränke geführt wurden. Mühelos konnten wir ein Tempo von 300 Metern Höhendifferenz in der Stunde einhalten; wir glaubten so, am Abend schon recht hoch am Berge das Biwak beziehen zu können. Der Nebel, verbunden mit leichtem Schneetreiben, obschon er uns bisweilen einhüllte, brauchte kein Hindernis zu bilden. Aber unsere Maultiere meinten es anders; denn schon am frühen Nachmittag, in 3800 Meter Höhe, waren sie keinen Schritt mehr weiter zu bringen. Die Treiber zeigten sich unserm Verlangen gegenüber, diese erste Tagesleistung noch zu erhöhen, unerbittlich. So mussten wir uns schon nach bescheidenem Anmarsch dazu entschliessen, den ganzen Nachmittag zu opfern, und hofften, durch einen um so früheren Aufbruch am nächsten Morgen die verlorene Zeit wieder einzubringen. Wir bauten für die uns begleitenden Damen ein leichtes Zelt und sahen mit gemischten Gefühlen der uns ungewohnten Erfahrung entgegen, auf 3800 Meter Höhe eine ganze Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Ein scharfer Wind fiel vom Gipfel auf uns nieder und liess etwelche Zweifel darüber aufkommen, ob das Lager sich noch bis zum Morgen ausdehnen liesse.
Als ich gegen 5 Uhr früh erwachte, fiel mein erster Blick auf das Planeten-paar des Jupiter und Saturn im Zenith; noch herrschte tiefste Nachtruhe im Lager. Der Sturm hatte sich gegen Tagesanbruch noch verschärft und fuhr unbarmherzig in unsere Vorbereitungen zum Aufbruch hinein, so dass wir uns erst um 6 Uhr auf den Weg machen konnten. Unsere Erwartung, dass sich der scharfe Wind bei aufgehender Sonne legen werde, war nicht unbegründet.
Noch auf 4000 Meter Höhe überquerten wir Grasflecken, auf denen die höchsten Schaf- und Ziegenherden weideten. Während bis anhin breite Terrassen den Ausblick nach oben verdeckt gehalten hatten, wurde nun der Gipfel sichtbar. Steile Felsgrate fielen über die Südflanke nieder, zwischen denen sich nach unten breit ausladende Runsen öffneten. Wie ein unendlich hoher Turm stieg der Grat vor uns auf, dem wir uns schliesslich zuwandten; der Anstieg wurde steiler und steiler; wir kletterten zwischen und über grosse solide Blöcke; in der Höhe begegneten wir nur noch Lavagestein. Der so befürchtete Neuschnee war beinahe spurlos verdunstet. Zu unserm Entzücken fanden wir, je mehr wir uns den bleibenden Schneefetzen in der Höhe näherten, dass sie gleichsam belebt waren; in Form von Tausenden und Abertausenden von Schneemännchen, hier 30 Zentimeter, dort bis zu 1 Meter hoch, in Reih und Glied ausgerichtet, wie ein zur Ehrenbezeugung aufgestelltes Bataillon Soldaten, präsentierte sich uns der Büsserschnee.
Auf 4800 Meter, Mont-Blanc-Höhe, machten sich beim einen oder andern die ersten Beschwerden bemerkbar. Auf 5000 Meter hatten wir unser gutes Schweizertempo schon stark verlangsamt; immer mehr verringerte sich die Anzahl Schritte, die wir zurücklegen konnten, bis wir wiederum rasten und tüchtig Atemgymnastik treiben mussten. Reichlicher Zwiebelgenuss leistete uns da eine angenehme Erleichterung, weil er die Folgen des immer unerträglicher werdenden Blutdruckes milderte. Auf 5400 Meter Höhe — die verschiedenen Altimeter, die wir mit uns führten, liessen an Präzision sehr zu wünschen übrig und stimmten immer weniger miteinander überein — hatten wir den langen Felsgrat hinter uns. Vor unsern Augen breitete sich ein weites schwefelbedecktes Plateau aus. An verschiedenen Stellen züngelten leichte Rauchwölkchen empor, der frische Bergwind trieb uns die Schwefeldämpfe entgegen und verursachte bei einzelnen leichtes Übelsein. Schon war es Nachmittag geworden; aber wir waren nun des Enderfolges sicher, obwohl wir auf einmal kaum mehr als 20 Schritte zurücklegen konnten.
Vor uns türmte sich der imposante Gipfelbau empor, mächtige schwefel-übergossene Lavablöcke; in herrlich kontrastierender Farbenfreudigkeit stach ihr Ockergelb von dem Weiss der umgebenden Schneereste und der vorüberziehenden Nebelschwaden und dem tiefblauen Himmel ab. Die Luft war von einer sonst nirgends beobachteten Klarheit und liess alle Gegenstände mit unbeschreiblicher Plastik hervortreten.
Genau um 4 Uhr nachmittags traten wir auf den höchsten Felsblock des Gipfels, der eine prächtig windgeschützte natürliche Felskammer birgt. Nach Westen, Süden und Osten schweiften unsere Blicke frei und unbehindert über unzählige Bergkämme und Täler; beinahe unwirklich, von so hoher Warte aus gesehen, lag die Welt zu unsern Füssen im grellen Schein der untergehenden Abendsonne. Wir erwärmten uns an ihren wohltuenden Strahlen und hatten rasch alle Strapazen und Mühen des Aufstiegs vergessen.
Unsere Felswarte erwies sich als der Rand eines reichlich mit Schnee bedeckten Kraters von ungefähr einem Kilometer Durchmesser, in dessen Mitte ein Kraterseelein mit dauernd gefrorener Oberfläche ruht. Über die Ränder dieses Kraters und die weiten Schneehänge der Nordflanke hinweg glaubten wir zwischen den vorüberziehenden Wolkenschwaden die blaue Fläche des Kaspischen Meeres erkennen zu können.
Wir hätten es kaum verantworten können, am letzten Tage des Monats August uns erst um 5 Uhr abends vom hohen Gipfel zu trennen, hätten wir nicht gewusst, dass der Abstieg nicht mit denselben Anstrengungen wie der Anstieg verbunden sein werde. Noch waren wir bestrebt, möglichst zahlreiche Eindrücke in unsere Kamera einzufangen. Die Technik eines raschen Abstiegs über leichtes Geröll hatten wir auf mancher vorhergehenden Tour im Elburz-gebirge genügsam geübt, so dass es nun ein wahres Vergnügen war, über die langen hindernislosen Hänge hinunterzustürmen. Gibt es ein sanfteres Terrain als dieses bröcklige schweflige Lavagestein, über das sich in leichten Sprüngen hinwegkommen lässt? Am Grat, über den wir mühsam heraufgekommen waren, uns anlehnend, konnten wir uns nochmals die Anstrengungen der Besteigung vergegenwärtigen; und wie wir immer tiefer hinunterkamen, aus dieser unheimlich leichten Luft der Höhe, tauchten wir zurück in die Sphäre eines wiederum ausgeglichenen Lebensgefühls.