Eine Bergfahrt ins alpine Arvenreservat Murgsee
ins alpine Arvenreservat Murgsee.
Mit 1 Bild ( 123).Von Ernst Giezendanner
( Oberuzwü, Sektion Uzwil ).
Die Sektion Uzwil hat in diesem Jahr den Zug nach dem Wallensee. Nach allerhand bergsteigerischen Pfingsterlebnissen an den südlichen Steilabfällen der Churfirsten hat sie sich nicht vom Plan abschrecken lassen, ein Südtal des Wallensees zu durchwandern. In diesem Gebiet ist das Murgtal eigentlich das einzige grössere, ausgesprochene Südtal. Die ganze Wallensee-gegend ist infolge ihrer niederen und geschützten Lage durch ihr mildes Klima bekannt. Sie ist eine Art Tessin en miniature unseres Kantons und, um die Glarner nicht in Harnisch zu bringen, auch des Kantons Glarus. Im Gebiet des Kerenzerberges mit den Dörfern Filzbach, Obstalden und Mühlehorn haben die Glarner ihre Sonnenseite als Entgelt für viele Nebeltage hinten im Tal. Der in die Bergwelt eingezwängte, langgestreckte Wallensee hat für uns immer seine alte Zauberkraft. Ich weiss nicht, ob es sich dabei um atavistische Regungen aus der Pfahlbauerzeit handelt oder um ganz gewöhn- Die Alpen - 1943 - Les Alpes.22 EINE BERGFAHRT INS ALPINE ARVENRESERVAT MURGSEE.
liehen Neid, den jeder Binnenländer dem Seebewohner gegenüber aufsteigen spürt. Eine Seelandschaft ist für uns der Inbegriff der Fruchtbarkeit und einer bezwingenden Ruhe.
Zwischen Berg und See eingezwängt, ähnlich wie Gandria bei Lugano, liegen die Dörfer Mühlehorn, Murg und Quinten. Für grössere Dörfer ist an diesem Seeufer kein Platz. Auch der industriellen Entwicklung sind Grenzen gesetzt. Ungebärdig und wild rauscht der Murgbach durch das Dorf Murg. Ohne Regen und ohne Schnee und vor allem ohne die stillen Reservoire der drei Murgseen oben im Tal, wäre sein Tosen viel weniger ungebärdig und sein Treiben durch das Dorf ganz sittsam. Von der Station Murg bis hinauf zum oberen Murgsee haben wir eine Höhendifferenz von 1400 m zu überwinden und eine Strecke von über 10 km zu marschieren. Diese Zahlen erinnern unwillkürlich an Wanderungen im Wallis vom Haupttal in die südlichen Seitentäler. In diesem einsamen Murgtal, droben auf der Höhe von 1700 m, hat die St. gallische naturwissenschaftliche Gesellschaft zusammen mit dem Bund für Naturschutz, als Götti und Geldspender, im Jahre 1935 ein Arvenreservat und ein Pflanzenschutzgebiet errichtet und mit den Ortsgemeinden Murg und Quarten einen 50jährigen Vertrag abgeschlossen. Mit Recht kann man sich fragen: Wieso kommen zwei so bekannte und berühmte Gesellschaften auf eine so ausgefallene Idee, in dieser abgelegenen Einöde ein Reservat zu errichten? Dazu möchte ich folgendes erwidern: Je abgelegener und je unbekannter und je schwieriger erreichbar ein an sich interessantes Gebiet ist, desto geeigneter ist es für den Naturschutz. Abseits der grossen Heerstrasse gelegen, war dieses Gebiet noch nie der Treffpunkt gröhle:ider und flegelhafter Sonntagsbergsteiger. Auch die Automobilisten halten sich viel lieber an die wunderbare Kerenzerbergstrasse und schleppen ihren wohlgehegten Leib nur ungern in solche Höhen Lagen. Die Einsamkeit ist also viel eher ein Vor- als ein Nachteil. Ein Bündner könnte leicht in Versuchung kommen, über das st. gallische Arvenreservat ironisch zu lächeln. Im Bündnerland finden sich unzweifelhaft viel imposantere und schönere Arvenbestände als bei uns im Murgtal. Leider verfügt unser Kanton nur über herzlich wenige schützenswerte Arvenbestände. Unser Klima und unser Boden sagen der Arve offenbar nicht zu, obwohl sie sonst nicht sehr anspruchsvoll ist. Nun ist jedoch das Reservat vor allem als Schulreservat gedacht, und in dieser Beziehung bietet es mannigfache Vorzüge. Im milden Klima von Murg gedeiht sowohl die Rebe als auch ganz besonders die Edelkastanie. Aus dieser milden Zone mit südlichem Charakter steigen wir in vier bis fünf Stunden durch die Laubwaldzone und prächtige Tannenwälder hinauf zu den Arven und Legföhren bis über die Waldgrenze am oberen Murgsee. Die Bahnstation Murg ist für alle anstossenden Kantone leicht erreichbar. Die Glarner können mit Leichtigkeit das Gebiet von oben nach unten durchwandern mit Ausgangspunkt in Engi. Der Hauptvorzug des Gebietes liegt also nicht in besonders klassischen und überwältigenden Arvenbeständen, sondern in der leichten Erreichbarkeit für alle umliegenden Kantone und in der Möglichkeit, in relativ kurzer Zeit so viele verschiedene Vegetationsstufen durchwandern zu können, von der Rebe weg bis hinauf weit über die Waldgrenze, wo nur noch Algen, Flechten und Moose die Besiedler sind. Ein kleines und bescheidenes Reservat, das verkehrstechnisch gut erreichbar ist, kann erzieherisch mindestens einen ebenso grossen Einfluss ausüben wie der grösste Nationalpark. Unsere Schutzgebiete wollen uns die Natur und vor allem die Bergwelt in ihrer ganzen unverdorbenen Urwüchsigkeit zeigen. Der « zivilisierende Einfluss » des Menschen wird hier ausgeschaltet. Hier wird alles seinem natürlichen Schicksal überlassen. Es gibt in dieser vorstellungsmässig so friedlichen und geschützten Natur eines Schutzgebietes viel offenen und geheimen Kampf, einen Kampf, der für die Beteiligten über Sein oder Nichtsein entscheidet. Für uns aber ist dieses Gebiet der Inbegriff von Unberührtheit und Frieden. Wir betreten ein kleines Heiligtum, in dem es nun einmal nicht mehr menschlich, sondern natürlich zu- und hergeht. In diesem manchmal erhebenden, manchmal erschütternden Walten der Natur sehen wir unser eigenes Spiegelbild. In unseren eigenen Naturschutzgebieten bestätigen wir uns selbst. Mit oder ohne menschliche Hilfe kann auch die Natur grausam sein, und unsere schwärmerische Gefühlsduselei bekommt im Anblick dieses Waltens den nötigen Dämpfer und auch die notwendige Ehrfurcht. Durch das Studium des natürlichen Geschehens in diesen Schutzgebieten lernen wir uns selbst erkennen. In diese mehr philosophischen Gedankengänge hineingestellt, kommt es gar nicht darauf an, wie gross und wie schön ein solches Reservat ist, sondern allein auf die Tatsache, dass wir Teile unseres Landes in ihrer Ursprünglichkeit erhalten wollen und dass wir auch unseren Kindern dieses Stück Heimat mit Stolz und Liebe zeigen können. Wenn wir mit unserer vielgerühmten Zivilisation weit übers Ziel hinausgeschossen haben, kehren wir reuig zurück zur Natur. Sie ist unsere grosse Lehrmeisterin, und darum ist das Reservat droben an den Murgseen vor allem der Lehrerschaft und der Schuljugend zur Verfügung gestellt worden. Die beiden grossen Gründervereinigungen haben sich das sicher gründlich überlegt und haben auch richtig gehandelt. Kulturdenkmäler menschlichen Schaffens haben wir mehr als genug, Naturdenkmäler können wir nicht genug haben. Bundesrat Ph. Etter hat einmal erklärt, die Liebe zum Vaterland sei eine Sache des Herzens und des Gemütes. Eine Wanderung durch ein abgelegenes Bergtal und die stille Betrachtung des Waltens der Natur wird dazu viel beitragen. Die Schönheit der Heimat muss man erleben, man kann sie nicht erdenken oder gar in Kursen mit Vorträgen einimpfen. Wer auf einer solchen Wanderung diese natürliche Schönheit erlebt hat, der liebt diesen Fleck Erde, und damit liebt er auch seine Heimat. In Murg beginnt der Aufstieg, und direkt oberhalb der Häuser des Dorfes betreten wir jene Laubwaldzone, wo Edelkastanien, Eichen, Linden, Birken, Eschen friedlich nebeneinander wachsen und gedeihen. Weiter oben gelangen wir in die Obst- und Nussbaumzone, auch die Buchen gesellen sich dazu, und ganz allmählich treten die Laubbäume immer mehr zurück, und wir durchschreiten mit mächtigen moosigen Steinblöcken durchsetzte Tannenwälder. Das Murgtal ist sehr waldreich, und die mächtigen moosbewachsenen Gesteinsblöcke geben ihm ein romantisches Gepräge. Auffallend rasch vollzieht sich der Übergang von relativ schönen und saftigen Wiesen in farndurchsetzte subalpine Magerweiden. Stufenweise steigen wir aufwärts, weiter oben in EINE BERGFAHRT INS ALPINE ARVENRESERVAT MURGSEE.
unmittelbarer Nähe des Baches, den wir bei Merlen überschreiten. Dort betreten wir einen mageren, ziemlich breiten Alpboden. Über einen Felsriegel ergiesst sich in der Höhe der von der Mürtschenalp kommende Gsponbach und verteilt sich unterhalb des Falls in eine Unzahl kleiner Bächlein, die in aufgelöster Formation dem Murgbach zufliessen. Bald glaubt man, den Talabschluss zu erreichen. Dort aber biegt das Murgtal nach Südwesten ab, und in einiger Höhe ahnt man die gut versteckten Seen. In der Nähe der Alphütten ist der Bergahorn noch mit einigen stattlichen Exemplaren vertreten, und im waldigen Aufstieg blühen Vogelbeerbäume. Sogar wilde Johannisbeersträucher mit dunkel weinroten Blüten finden wir unterwegs.
Jedem Wanderer fällt in diesem Tal die rote Färbung des Gesteins auf. Auf Schritt und Tritt begegnen wir dieser mattweinroten Farbe. Das Murgtal gehört geologisch zum Verrucano und steht in dieser Beziehung im Gegensatz zum Alpstein. Früher wurden in der Mürtschenalp Kupfer und Silber ausgebeutet. Der Aufstieg zum unteren See ist stellenweise umrahmt von hohen glatten Felsen. Es handelt sich um klassische Gletschersch iffpartien, an denen man die polierende Macht des Eises prächtig erkennen kann. Bei Guflen tritt man in die tundraa:°tige, kärgliche Alpweidenzone, die mit Alpenrosengestrüpp durchsetzt ist, und überall rauscht Wasser. Hier gelangen wir unvermerkt an die untere Reservatgrenze und zum Felswall, der nach Osten den unteren Murgsee dem Auge so lange vorenthält. Zu unseren Füssen liegt wohlbehütet der unterste der drei Seen, klein und wohlgeborgen in seinem Felsenkessel, eingerahmt von aufrechten Bergföhren und Arven und von Alpenerlen und Legföhren. De. und dort leuchten ganze Büsche blühender Alpenrosen. Das Eindrucksvolle ist hier viel weniger der einzelne Baum als das Zusammen- und Nebeneinanderleben bestimmter pflanzlicher Gesellschafts-gruppen, wechselvoll um diesen kleinen Bergsee gruppiert. Die Arve erkennt man bis weit in die oberen Hänge und Gräte an ihrer abgerundeten Krone, dem häufig geteilten Stamm, dem dunklen Grün, und in der Nähe am fünf-zähligen Nadelbündel. In einem breiten Wasserfall stürzt der Murgbach über einen Felsriegel hinab zum unteren See. Hier oben rauscht oder murmelt überall irgendein Gewässer, so dass die vielen Dotterblumen sicher nicht verdursten. Neben dem schmelzenden Schnee blüht überall die Soldanelle, im Gebüsch findet man den Salomonssiegel, an feuchten Felsen leuchtet violettrot die ganzrandige Primel, überall erste Frühlingsboten, und am längsten Tag blühen noch Krokus.
An den oberen Murgseen ist der Bachaustritt aus dem östlichen See ein wahres Gärtnerparadies. Die Baumzone liegt hinter uns. Alpenrosen, Heidelbeeren und Wacholder haben freie Entwicklungsmöglichkeit. Zwischen beiden oberen Seen steht die gastliche Fischerhütte. Unmittelbar nebenan blühen der stengellose Enzian, die Schwefelanemone und auf den Felsblöcken ein kleines, zierliches, unscheinbares Sträuchlein, die Alpenazalee. Im geräumigen Heulager der Fischerhütte bietet sich gute Unterkunft, und andern Tags steigen wir nochmals talwärts zum unteren See, dann über die Murgseefurkel hinunter zur Alp Mürtschen-Oberstafel. Auf dem Abstieg stossen wir auf Arvenbestände, um die wir den Kanton Glarus fast beneiden. Zusammen mit den Murgseen wäre das für unsere bescheidenen Verhältnisse nördlich der Alpen ein recht ansehnliches Reservat, und beide beteiligten Kantone könnten in dieser abgelegenen Berggegend wetteifern in der Erhaltung der Naturschönheit.
Bei diesem Übergang von Tal zu Tal stossen wir in der Mürtschenalp wieder auf die Alpsteinflora. Aus dem rötlichen Murg-Verrucano haben wir hinübergewechselt in die Kalkzone. Im Abstieg zum Spanneggsee finden wir sogar richtige Schrattenkalkbildungen. Andere Gesteinsunterlage, andere Pflanzenbestände. Wir umgehen den Rüchen, und im westlichen Abfall des Mürtschenstocks steigen wir zu Tal über Spannegg zum Talalpsee und von dort nach kurzer Gegensteigung hinunter in die sommerliche Wärme von Obstalden und Mühlehorn. Vor uns breitet sich der Wallensee aus, und vom gegenüberliegenden Hang grüsst uns Amden. Auch eine bescheidene Talwanderung hinauf zu den Föhren und Arven der Murgseen kann zu einem Erlebnis werden, sogar für die verwöhnten Alpinisten, die sonst sommersüber die Gipfel in Firn und Eis aufsuchen.