Ein Wochenende in den Rochers de Leschaux
( April 1981 )
Etienne Gross, Bern
Was bietet Bern dem engagierten Kletterer für Möglichkeiten? Zunächst wenig! In seiner näheren Umgebung finden sich keine Wände, die ein Bergsteigerherz zu rascherem Schlagen veranlassen. Der weiche, bröckelige, dafür oft hübsch bemooste Molassesandstein eignet sich kaum für « all-free»-Experimente. Jedoch verfügt Bern über den Vorzug, geographisch eine Art Mittelstellung einzunehmen, welche es gestattet, in relativ kurzer Zeit die Klettergebiete jenseits der schweizerisch-französischen Grenze zu erreichen.
Was unternimmt somit ein Berner angesichts eines ( gemäss Wetterprognose ) schönen Wochenendes, wenn seine Voralpen noch teilweise unter einer pappigen Nassschneedecke liegen und auf den Felsen des Juras bereits eine fast sommerliche Hitze lastet?
Samstagmorgen. Gedämpfte Helligkeit im Osten kündigt die aufkommende Dämmerung an. Der Himmel beginnt Struktur anzunehmen, überall nur eintöniges stumpfes Grau. Ein paar Regentropfen treffen unsere Windschutzscheibe. Eilig fegen sie die Wischer zur Seite, jeweils lange Striemen ziehend. Angestrengt spähen Kurt und ich nach Lücken in der am fahlen Horizont sich verlierenden Wolkendecke. Umkehren? Nicht umkehrenEine Frage, welche am Anfang so mancher Bergfahrt steht! Der Optimismus siegt. Wer will schon zurückfahren? Unvermittelt tasten sich die ersten Sonnenstrahlen durch allmählich zerfasernde Wolkenbänke. Die Fahrbahn zieht sich hell und trocken vor uns hin. Genf, die Stadt. Ein kurzer Halt wird uns die Müdigkeit des frühmorgendlichen Aufbruchs vertreiben helfen. Langgestreckte Wohnblöcke, deren grellfarbene, geometrische Muster die Eintönigkeit der dichtgedrängten Siedlung auflockern sollen. Ein anderes Quartier; ältere Häuserreihen säumen jetzt die Strasse. Wir halten an. Unter dem Vordach des gegenüberliegenden Cafés nimmt der Kellner eben mit schlafwandlerischem Griff die ersten Stühle von den Tischen. Ein kurzes Aufblicken, ein knapper, eher mürrischer Gruss, wir setzen uns. Der kühle Wind lässt uns frösteln; leichter Nieselregen verbreitet ein Gefühl durchdringender Feuchtigkeit. Trotzdem steigt fast unmerklich jene Art Ferienstimmung auf, welche die Erwartung nahender Erlebnisse und ungebundener Freiheit mit sich bringt. Die eher ungastliche Atmosphäre verlockt nicht zu langem Verweilen. Noch ein schneller Blick in den Leschaux-Führer, dann zurück in unser Fahrzeug, und schon passieren wir die Grenze bei Annemasse.Vor uns öffnet sich das breite Arve-Tal. Die Weite der Landschaft, der zwischen Kiesbänken ungehindert mäandrierende Fluss, die sich zusammenkauern-den Dörfer mit ihren entweder in steinernem Grau oder in verwaschenen Pastellfarben gehaltenen Häuser, ja, dies alles ist Frankreich. Weit oben über der Schlucht der Borne sich erhebend, zeigt sich nun auch unser Ziel, das breit hingelagerte Felsband der Rochers de Leschaux ( 1936 m ). Die vergangenen zwei sonnigwarmen Wochen haben den Schnee in den südwestorien-tierten Wandfluchten völlig zum Verschwinden gebracht.
Bonneville, ein Städtchen ohne viel Charakter. Dumpf rumpelnde Lastwagenzüge, ein riesiger Hauptplatz, eine Handvoll verloren wirkender Geschäfte. Einzig ein paar ockerfarbene Lauben-bögen verleihen dem Ganzen noch einen kleinen Hauch französischen Charmes.
Rasch verschwinden die letzten Häuser im Rückspiegel. Baumreihen säumen die nach Chamonix weiterführende Verkehrsader. Wir verlassen sie bei Thuet. Bald schlängelt sich das steile Strässchen hoch oben über dem Talgrund, eingesprengt in mächtige Plattenschüsse, gegen Brizon. Wiesen, noch braun, erst kürzlich von der lastenden Schneedecke befreit. Eine Stimmung, zugleich vom vergangenen Winter wie schon vom nahenden Frühling geprägt. Endlich eine Anhäufung von Alphütten, weit hingestreut über magere Wiesenflächen, das ist Solaizon, Endpunkt des Fahrweges. Vor unseren Augen öffnet sich ein karges Hochtal. Südseitig begrenzt vom langgezogenen, verkarsteten Kalkrücken der Rochers de Leschaux, im Norden beherrscht durch die kahl aufstrebende dreieckige Spitze der Pointe d' Andey.
Kletterfinken und -material im Rucksack, verlassen wir den Parkplatz. Wir folgen dem zunehmend deutlicher ausgeprägten Pfad, dessen durchnässte, von den Schuhen früherer Wanderer aufgewühlte Erde sich in zähen Klumpen an unseren Stiefeln festsaugt. Eine stille, friedliche Einsamkeit umfängt uns. Zwischen den von Westen herziehenden Wolkengebilden zeigt sich die Sonnenscheibe und übergiesst den nahen Hang mit wärmendem Licht. Ab und zu spielt ein Windstoss mit Kopfhaar, Gräsern und den knorrigen Ästen gedrungen dastehender Föhren. Von der zeitlos ruhenden Stimmung berührt, schreiten wir gemächlich voran. Der Weg wird steiler und leitet zum breiten Schrofenband, das sich am Fuss der senkrecht aufbäumenden Wände von Leschaux hinzieht. Ein kleiner, von der Grasnarbe entblösster Platz markiert den Einstieg zum « pilier sud-ouest ». Rasch wird das Seil im Brustgeschirr verknotet, die Karabiner, ein Packen Klemmkeile angehängt und der erste Schritt im Fels getan. Ruhig suchen die Hände die unendlich vielfältigen Formen des rauhen Gesteins ab. In einer muscheligen Vertiefung finden die Finger Halt, der Körper schmiegt sich gegen den Kalkfels, verlagert sich, streckt sich, schiebt sich höher. Die weich durchbiegenden Sohlen entdecken weitere Unebenheiten, ein neuerliches Aufrichten - gleitend und unbeschwert steige ich empor. Eine wilde Freude durchflutet mich. Die umgebende Natur, die intensive Einstrahlung der Sonne, die feste Beschaffenheit des grauen Gesteins und das Gefühl guter Kameradschaft verschmelzen zu einer Einheit, schaffen einen Einklang zwischen Mensch und Umwelt. Klettern hat etwas Befreiendes an sich, unabhängig, in welchem Schwierigkeitsgrad dies geschieht.
Der Standplatz. Ein daumendicker, tief in eine Felsspalte hineingetriebener Eisenpfahl sichert die folgende, etwas anspruchsvoller aussehende Seillänge ab. Schon engagiert sich Kurt in der leicht abdrängenden Verschneidung, quetscht sich hoch und entschwindet danach meinen Blicken. Das Seil läuft unvermittelt schneller durch die Hände, stoppt, zuckt dreimal kurz - ich kann nachkommen. Minuten später stehen wir am Fusse einer Art Kaminverschneidung, abgerundet und ziemlich senkrecht. Die hier steckenden, relativ zuverlässig scheinenden Haken üben auf mich eine höchst verführerische Wirkung aus. Als eher bequemer Mensch würde ich mich nur zu gerne daran emporziehen. Aber bereits ein bisschen von der « Freikletterideologie » angesteckt, verzichte ich zunächst auf ein solch umstrittenes Vorgehen. Dummerweise werden die Griffe jetzt immer spärlicher, und brauchbare Tritte lassen sich im bauchig vorgewölbten Fels ohnehin nicht mehr finden. Auf jeglichen weiteren Ehrgeiz verzichtend, klinke ich einen Karabiner ein, ein kräftiger Armzug, und der folgende Haken steckt unmittelbar vor meiner Nase. Ein nächster Karabiner in die Öse, und wieder stehe ich ein Stück weiter oben. Obschon ich die Stelle damit nicht nach den modernsten Kunstregeln gemeistert habe, erweckt dies in mir nicht das Gefühl, mein Klettergenuss sei deswegen getrübt. Im Gegenteil, ich bin von einer inneren Zufriedenheit erfüllt und betrachte jetzt mit interessierten Blicken die unmittelbar ob mir ansetzende, etwas wulstig ausladende Kaminverengung. Derartige Hindernisse sind vorzugsweise weit « draussen », meist spreizend, zu überwinden. Diese Lösung bewährt sich hier ebenfalls, und bald erreiche ich den nächsten Stand. Plattige Felsen, ein kurzer Riss und ein letzter Aufschwung führen uns in vergnüglicher Kletterei zur Gipfelkrete.
Ähnlich den voralpinen Räumen der Chartreuse und des Vercors enden auch bei den Rochers de Leschaux die Routen auf einer sanft abfallenden « Picknick-Wiese ». Hier wie dort finden sich die bergsteigerisch lohnenden Gebiete vorwiegend in langgestreckten, meist horizontal geschichteten Kalkbänken, welche auf der einen Seite in schroffen Wänden abbrechen, während sie auf der anderen mehr oder weniger geneigte, oft stark verkarstete Rücken bilden.
Gelöst und freudig erregt, setzen wir uns auf die buckeligen Graspolster. Eine schöne Route, ein glücklicher Tag. Tief unter uns rauschen leise die Schmelzwasser der hochgehenden Borne. Der Blick schweift weiter in das wildbewegte Gewirr von Bergkämmen, noch im Schnee ertrinkenden Hochflächen und breit hingelagerten Gipfelbauten. Bereits deren wohlklingende Namen « Montagne des Auges », « Roc des Tours », « Pic de Jallouvre » verleihen ihnen einen eigenen, verfrem-denden Reiz. Inzwischen haben sich die Wolken zu mächtigen Ballen hochgetürmt. Am Horizont künden mattweiss herunterhängende Streifen einsetzenden Niederschlag an. Wir steigen ab. Anfangs geht dies noch trockenen Fusses. Bald aber sind die Schneefelder nicht mehr zu umgehen. Bisweilen knie- bis hüfttief in der unergründlich weichen Masse versinkend, stapfen wir abwärts. Ein letztes steiles Couloir, und wir erreichen den Weg, der uns zum Ausgangspunkt zurückbringt. Bei jedem Schritt gibt das reichlich in die dünnwandigen Kletterfinken eingedrungene Nass schmatzende Laute von sich. Da sich zudem das Wetter endgültig zu verschlechtern scheint, begeben wir uns auf den Rückweg. Morgen ist auch noch ein Tag. Beim Auto angelangt, setzt feiner Nieselregen ein. Das stete Rauschen millionenfach fallender Tropfen begleitet uns Stunden später in den Schlaf.
Am nächsten Morgen. Die geschlossene Decke hat sich aufgelöst, nur ein paar flachgezogene Wolkenbänke ziehen gleich nachlässig hingeworfenen Pinselstrichen über den sonst klaren Himmel. Wieder stehen wir am Fusse der « Rochers ». Die erste Seillänge der « Voie Pelbross » führt über einen sich steil hochziehenden Riss. Oben soll er ( bzw. « sie », « fissure » ist ja weiblichen Geschlechts ) « déversante » sein; ein Ausdruck übrigens, der, wie mir scheint, meine im Moment etwas unbequeme Stellung, dreissig Meter ab Boden, viel anschaulicher und wirklichkeitsgetreuer beschreibt als unser so nüchtern tönendes « abdrängend ». Ein kurzer Aufschwung bringt mich zu einer kleinen, gestuften Terrasse. Als Standsicherung dient der schenkelstarke Stamm einer kräftigen Föhre. Erstaunlich die Zähigkeit dieser Bäume, deren Wurzeln sich in den nackten Fels zwängen müssen und dabei trotzdem genügend Wasser und Nahrung herbeizuschaffen vermögen. Von oben sehe ich nur Kurts weissen Helm und seinen braunen Rucksack. Beides rückt allmählich näher, noch wenige Meter, und Kurt befindet sich neben mir. Der Weiterweg ist gegeben, eine gut 20 Meter senkrecht aufstrebende Verschneidung. Die den Einstieg vermittelnde Platte lässt sich mit ein paar raschen Schritten überwinden. Teils die Beine gegen die beiden Begrenzungswände des Felswinkels stemmend, teils an der Spalte im Verschneidungsgrund hochdül-fernd, klimme ich empor. Prächtige Genusskletterei. Stets findet sich ein kleiner Absatz, eine versteckte Schwarte oder eine minime Runzel zur Fortbewegung. Ein letzter Klimmzug, überrascht stehe ich auf der völlig ebenen Fläche eines Fels-köpfchens. Es ist der Sicherungsplatz. Nach Querung des hier beginnenden horizontalen und recht luftigen Bandes geht es erneut aufwärts. Ein etwas überhängender Riegel stellt sich als leichter heraus, als es von unten den Anschein machte, während beim nachfolgenden Riss das Gegenteil der Fall ist, wie es sich alsbald herausstellt. Unvermittelt sehe ich mich nämlich in eher unkonforta-bler Stellung im gelblich-brüchigen Schlitz verklemmt. Zwei verrottete Keile mit herausgerissenen Schnüren vermögen ebenfalls nur wenig zur Hebung der Moral beizutragen. So werfe ich einen weiteren Vorsatz über Bord, halte mich kurz an den nicht eben vertrauenswürdigen Holzstücken und stehe nun in einer von wulstigen Kalkbänken und feinsphttrigen Bastionen zirkusartig umschlossenen Schrofenzone. Eine Traverse über Graspolster und brüchige Leisten führt uns nach rechts zu der hier massiv und abweisend hochstrebenden Plattenmauer. Weit oben lockt ein abge-krümmter, rostgeschwärzter Haken. Aber wie dahin gelangen? Dem im Führer angegebenen Schwierigkeitsgrad kann das keineswegs entsprechen. Erst jetzt bemerken wir das schmal und unauffällig weiter nach rechts ziehende Bändchen; ich verfolge es behutsam. Eine Unterbrechung lässt sich sehr exponiert, aber an einem prächtigen « Briefkastengriff » überwinden. Unter mir fällt die Wand in glattgeschliffenen Fluchten ab. Stimmen dringen herauf; zum erstenmal, seit wir hierher gekommen sind. Andere Bergsteiger, genau unter mir und, was ich noch weniger schätze, ohne Helm. Auch ich würde vorziehen, ohne solche Kopfbedeckung zu klettern, bloss mit Stirnband. Allerdings, wenn ich jetzt ein Steinchen löse, befindet sich die nachfolgende Seilschaft präzis in der Schusslinie. Ich verharre regungslos. Endlich verschwinden die beiden Gestalten aus meinem Gesichtsfeld. Ob sie überhaupt bemerkt haben, dass jemand hoch über ihnen durchgeklettert ist? Ein kurzer Risskamin, und wir gelangen in den weniger steilen Bereich des grossen Bandes, das die Abstürze der Rochers de Leschaux in ihrem obersten Drittel zerschneidet. Eine abwechslungsreiche Verschneidung, ein unter dem Schlussüberhang schlecht gelegter Klemmkeil, der leise klappernd das Seil hinunterfährt, ein letzter Schritt, und ich bin oben. Diesmal wollen wir uns beim Abstieg nicht mehr nasse Füsse holen. Darum der Rucksack, dem wir nun die Gummistiefel entnehmen. Entspannt lagern wir uns hin, umgeben vom eilig hingeworfenen Klettermaterial. Nichts tun, nichts denken, einfach « sein »; Ruhe herrscht, es schläft die Zeit für einen Augenblick. Momente der Leere und des inneren Glücks zugleich. Ein Graspolster im Nacken, weit hinziehende Wolken, zu Schichten und Türmen sich formend und gleich wieder zerfasernd, verge-hend. Anstoss zum Philosophieren? Nein, zum Erleben, zum Atmen im Gleichklang mit der Natur. Wir erheben uns, die Phase der Musse ist abgelaufen. Eine Route möchten wir noch « machen », die « Collégiens », von der im Führer geschrieben steht: « Probablement la plus belle voie de la région ».
Bald befinden wir uns wieder beim Einstieg. Die sofort sich nach aussen neigende Verschneidung lässt schon zu Beginn keine Zweifel am diesmal athletischeren Charakter der Kletterei. Eine freistehende, zwischen gewachsenem Stein und mächtigen Blöcken eingespannte, unter dem prüfenden Schlag der Handballe dumpf vibrierende Felssäule flösst kein besonderes Vertrauen ein. Mich vorsichtig daran hochziehend, steige ich empor, bis ein Überhang den Weiterweg verbarrikadiert. Tiefe schlitzförmige Griffe gestatten, ihn frei zu erklimmen. Bald darauf fordert der vom Stand schnurgerade unter einen gelb-brü-chig vorgewölbten Bauch hinaufführende Riss uns wieder auf andere, neue Arten heraus. Zunächst heisst es sich darin verklemmen, dann sich weit zurücklehnend auf die Haftung der Sohlen zu verlassen, und schliesslich gilt es, einen Klemmblock zu überlisten. Ständig stellt der Fels neue Ansprüche. Er appelliert an unsere Phantasie, er lockt uns, die Dynamik unseres Körpers an seiner statischen Masse zu erproben. Er fordert von uns sowohl kühl abwägende Selbsteinschätzung wie ein von leidenschaftlicher Ausschliess-lichkeit geprägtes Bedürfnis, sich in seine Natur und damit in die Natur an sich einzufühlen. Gelingt es uns, wenn auch nur für einen verfliegenden Augenblick, Teil dieser Empfindung umfassender Einheit zu werden, so erfüllt uns das mit einem Gefühl harmonischer Befriedigung.
Der den glattwandigen Riss abschliessende Wulst kann umgangen werden. Abschüssige Platten und Leisten führen uns nach rechts unter weitere Überhänge. In recht kraftraubenden Klimmzügen lassen sie sich erklettern. Allerdings erhalte ich dabei den Eindruck, dass der Führer bei den Schwierigkeitsangaben sicher nicht zu hoch gegriffen hat. Der Unterschied zwischen modernen Publikationen und solchen etwas älteren Datums kann oft sehr beträchtlich sein. Da sich heute niemand der Kritik von Spitzenkletterern aussetzen möchte, besteht immer mehr die Tendenz, sehr zurückhaltend zu bewerten.
Noch liegt die letzte schwierige Seillänge vor uns. Als Zwischensicherung dienen ein paar eher morsch anmutende Holzkeile, aus deren kleinge-bohrten Löchern dünne Bändel herabhängen. Oft hab ich mich schon gefragt, ob solche Museumsstücke überhaupt als Sicherung bezeichnet werden dürfen. Wie werden unsere Routen in zwanzig Jahren aussehen? Werden die Keile und Haken dann noch in brauchbarem Zustand sein? Werden sie allmählich ersetzt werden, aber von wem? Selbst wir tragen ja keinen Hammer und keine Haken mit uns.
Eine letzte heikle Stelle. Ein kürzlich herausge-brochener Block hat eine gelblich verfärbte Lücke hinterlassen. Die tastenden Finger finden nur trocken herabrieselnden Erdstaub. Früher scheint es hier einmal einen Griff gegeben zu haben - dieser fehlt jetzt. Die Stellung, in der ich mich befinde, dürfte ich kaum als erholend bezeichnen. Fast habe ich mich bis zum nächsten Haken hochgearbeitet, nur knappe fünf Zentimeter fehlen. Leider benötige ich aber beide Hände, um mich im Gleichgewicht zu halten. So geht es nicht, also zurück. In den sich gegen aussen öffnenden Riss lassen sich kaum Klemmkeile legen. Immerhin, nach mehreren Minuten anstrengender Bemühungen gelingt es mir trotzdem, einen solchen zwischen zwei Warzen hineinzuschieben. Mich möglichst leicht machend, erhasche ich die vorstehende Hakenöse. Etwas verschwitzt und mit der Art und Weise, wie ich die Stelle überwunden habe, nicht ganz einverstanden, erreiche ich das grosse Band. Als Kurt auftaucht, kommt auch er auf die Frage der sicheren Routenausrüstung zu sprechen. Ein Thema, das in Zukunft bestimmt einigen Diskussionsstoff liefern wird. Wie wir uns endlich auf dem Gipfelkamm ausstrecken, steht die Sonne schon tief. Geruhsam, mit uns und der Welt zufrieden, schlüpfen wir in die Stiefel und begeben uns auf den Abstieg. Die allmählich einsickernde Dämmerung durchdringt die Landschaft. Abendliche Stille breitet sich aus, es beginnt dunkel zu werden.
Unser Fahrzeug - die Strasse - die leicht flackernden Lichter von Bonneville. Dann Genf—die Autobahn - kurze Rast im lärmigen Betrieb einer Gaststätte.
Ein an intensivem Erleben reiches Wochenende ist Vergangenheit geworden. Doch der leise Anflug von Wehmut wird bald von neuen Plänen, neuen Zielen in den Hintergrund gedrängt.