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Die Schneeblüter unserer Alpen

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Mit 1 Bild ( 40Von Hans Rudolf Schläfli ( Burgdorf ) Eine ebenso merkwürdige als anziehende Erscheinung in der Pflanzenwelt sind die sogenannten Schneepflanzen oder Schneeblüter unserer Alpen. Wenn in den untern Regionen der Bergriesen schon längst der Frühling sein zartes Grün und buntes Blumenspiel ausgestreut hat, verharren die an die höchsten Alpenweiden stossenden Schneefelder noch in eisiger Öde, in toter Ruhe. Aber endlich, anfangs oder Mitte Juni, macht sich auch hier der Sieg der immer höher steigenden Sonne bemerkbar. Die Ränder der Schneelager werden mürbe, sie zerbröckeln, sie tauen und aus dem von rinnendem Schneewasser getränkten Humus erblühen sofort, ehe noch des Grases gelbliche Spitzen wie kleine Degenklingen aus der schwarzen Erde stechen, die zartesten Blumen, durchgehend in hellen Farben, nämlich in Weiss, errötendem Rosa und mattem Gelb gekleidet und einen farbigen Saum um das scharfe und kalte Weiss des zerrinnenden Schneelagers ziehend. Nichts berührt den kühnen Bergsteiger seltsamer und ergreifender als diese kleinen und zarten Blumengebilde inmitten von Schnee und Eis, die, so gläubig vertrauend dem ersten Sonnenstrahl, so sehnlich verlangend die Wonne des Daseins geniessen. Denn sobald der Rasen grünt, verschwinden diese Schneepflanzen meist spurlos, bisweilen mit Hinterlassung kleiner Blätter, die vom Halmen-walde des Grases bald verdeckt werden. Das ist das Los der irdischen Dinge, um so vergänglicher zu sein, je schöner sie sind. Kurz ist der Sommer in diesen Höhen, der zugleich Frühling und Herbst in sich schliesst; er währt oft nur zwei Monate, und selbst diese beschränkte Zeitspanne ist noch häufig von Schneefällen unterbrochen. Es ist, als ob die Natur den sommerlichen Brautkranz dieser Höhen um so glänzender gestaltet, je kürzer er dauert. Man hält es für wahrscheinlich, dass die Schneeblüter schon unter dem Schnee das Wasser aus dem Boden einsaugen und dann ihre Knospen ausbilden, sobald der Schnee vergeht. Auch haben die Sonnenstrahlen in den Alpenhöhen eine weit dünnere Atmosphärenschicht zu durchdringen als im Tieflande, deshalb wirkt der Sonnenstrahl in den Höhen auch bedeutend kräftiger auf den Boden und dessen Pflanzenkeime. Hinzu kommt noch die grössere Klarheit des Lichtes, alles Umstände, welche den Lebensprozess der Schneepflanzen günstig beeinflussen. Man möchte fast glauben, dass die Schneepflanzen viel mehr durch den Reiz des Lichtes als den der Wärme hervorgelockt würden, denn der aus der Schneemasse stets frisch durch-sickerte Boden kann unmöglich eine Temperatur von über null Grad, auch durch die stärkste Ausstrahlung der Sonne, erhalten. Man denkt dabei an die Lärchen und Birken an der äussersten Grenze Sibiriens, die, während die Luft noch 10 Grad unter Null zeigt, doch schon lediglich durch den Reiz der Sonnenstrahlen ihre äussersten Knospen zu entfalten beginnen. Gleiche Triebkraft zeigen die Schneepflanzen, die auf dem eisig nassen Grund, sobald der Strahl sie berührt, schon freudig sich entfalten. Indes ist zu beachten, Die A'pen - 1945 - Les Alpes12 dass alle Schneepflanzen es zu einer zwerghaften, gedrungenen Gestalt bringen. Meist entfaltet sich dicht über der kleinen Blattrosette sogleich die Blumen-korolle, die im Verhältnis zu den grünen Blättchen auffallend gross ist.

Zu den Erstlingen unter den Schneepflanzen gehören die zierlichen, in rötlichem Violett erschimmernden Glöcklein der Soldanella, die seiden-haarigen, bläulichweissen Glocken der Frühlingsanemone, die bald schwanen-weissen, bald blauen, bald buntgescheckten Kelche des Frühlingskrokus, die zartroten Sternlein der ganzblättrigen Primel, die leuchtenden Blüten vom Goldstern, die weissen, fettglänzenden Becherlein der Alpenranunkel, die rosenroten Flämmchen des stengellosen Beinkrautes, die zwar unscheinbaren, aber zierlichen Blütchen der fünfblättrigen Alchemille und die azurblauen Sternlein des Frühlingsenzians. Alle diese Arten sind der übrigen Flora der Schneetälchen und Schneemulden um eine ganz bestimmte Periode voraus. Die Bergranunkel, stengelloser Enzian, mehlige Primel, Schnee-ampfer, Krautweide usw. erscheinen erst viel später, nachdem die Erde sich wirklich erwärmt und vom Überschuss des Eiswassers befreit hat.

Wie ein bunter Feststrauss haften die zarten Schneepflanzen an dem weissen Feierkleide der Bergriesen. Wählen wir aus dem Feststrauss dieser Schneeblüter einige zur nähern Betrachtung heraus. Von der Soldanelle erzählt man sich, dass sie im Schnee, in welchem sie blüht, kleine Grotten um sich bilde, was für die Mutmassung spräche, dass die Blume selbst Wärme erzeuge, obschon eine solche nicht nachgewiesen ist. Nicht selten zeigen sich die Blüten — durch einen unerklärten Lebensreiz — über dem Schnee, der die unteren Teile der Pflanze noch bedeckt. Jeder der zarten Schäfte hat eine kleine Öffnung bewirkt, um die Blume zum Lichte emporzusenden. Wiederum umkränzen die Soldanellen dicht den Rand des Schneelagers. Die holde Gruppe der vier Soldanellen oder Drottelblumen, der zartesten, feinsten Blumen der Alpen, wird zu den Primeln gerechnet, ihr sanft rötlich-violett gefärbtes Glöckchen ist zierlich angefranst; leider wird es schon von einem starken Windhauch hinweggerafft, so leicht abfällig ist es.

Weit widerstandsfähiger ist die bläulichweisse, durchscheinende, dem kaum geschmolzenen Schneewasser entsteigende Glocke der Frühlingsanemone ( Anemone vernalis ), die eben erst erblüht ist, nachdem noch gestern die Schneedecke sie eingehüllt. Die zarte Blumenglocke ist mit einer reizenden blassvioletten und metallisch schimmernden Hülle umgeben, während diese Hülle wieder, ebenso wie der Stengel, mit braungelben Haaren besetzt ist. Das ganze Blumengebilde erscheint wie in einem wärmenden Winterpelz gekleidet, wodurch es dem Alpenwanderer sofort auffällt. Man möchte beim Anblick der Blume an ein wunderbares Zwerglein denken, das in seinem Wintermantel aus dem Spalt des Berges tritt, an ein Zwerglein, das der Freude klaren Kelch emporhält, gefüllt mit purem Golde. Denn goldgelbe Staubgefässe stehen prunkend im Schosse des bläulichweissen Blumenpokals. Die Frühlingsanemone tritt in den Alpen häufig und zahlreich auf und bewegt sich in einer Höhe von 1500 bis 2300 m und öffnet sich auch auf den Graten zuerst dem wärmenden Sonnenstrahl. Ihre grundständigen, einfachfieder-schnittigen Laubblätter sind überwinternd. Zu der artenreichen Familie der Ranunkelgewächse gehörend, zählt die Frühlingsanemone der Alpen gar viele Geschwister, die massenhaft mit ihren weissen, rosaroten, bläulichen, lilafarbigen bis violetten, schwefelgelben bis orangeroten Blüten beim ersten Hauche des Lenzes eine erlesene Zier über die Matten, Halden und Felsgesimse unserer Alpen breiten.

Wenn seinerzeit ein Botaniker die wahrhaft bezaubernde Gruppe der Alpenprimeln « Kronjuwelen im Blütendiadem der königlichen Alpen » genannt hat, so ist die zu den Schneepflanzen zählende Primula integrifolia, die ganzblättrige Primel, mit ihrer sanftrötlichen Korolle, gewiss ein herrlicher Rubin. Die Pflanze ist von der Zartheit der Soldanellen, niedrig und äusserst rasch verblühend und der mittleren und östlichen Schweiz eigen.

Kleinen Bechern von Silber vergleichbar sind die Blüten der blendendweissen, fettglänzenden Alpenranunkel. Innen steht ein Kränzlein goldener Staubgefässe. Die anmutige Blume, eine echte Schneepflanze, ist auch auf den Alpenweiden häufig zu finden und spiegelt sich nicht selten im munter plätschernden Gletscherbächlein. Die Silberbecher der Alpenranunkel schwanken auf Trägern, die, wiewohl sie bedeutend kürzer sind als die Stengel unserer in der Ebene heimischen Ranunkeln, doch immerhin Stengel darstellen. Auf das geringste Mass hingegen ist der Stengel jenes Leinkrautes verkürzt, das am Rande der Schneefelder blüht. Es wurde geradezu stengellos bezeichnet ( Silene acaulis ). Im Verhältnis zu diesen winzigen Stengeln sind die fünfblättrigen rosaroten Blüten gross zu nennen. Da das Pflänzchen dichte Polster bildet, ist der Anblick der dicht aneinander gereihten Blüten geradezu entzückend. Die stengellose Silene gedeiht besonders auf Kalkboden und bewegt sich in einer Höhe von 1600 bis 3000 m. Die herrliche Röte des Alpenglühens scheint in solchen Blütenpolstern verwebt zu sein.

Das lichte Blau des Frühlingshimmels selber grüsst uns aus den blauen, fast stengellosen Sternen des Frühlingsenzians. Zu Tausenden sind diese himmelblauen Blumensterne über die Majestät der Alpen ausgestreut, vom Fusse der Berge bis hinauf zu den Schnee- und Gletscherhalden. Hier am Rande von Eis und Schnee scheinen die lieblichen Blausterne besonders entzückend, und ein weisshaariger Senne des Berner Oberlandes nannte sie sogar Himmelsblümlein, tragen sie doch die Farbe des Himmels auf ihrem Kleide. Beim ersten Hauch des Lenzes sind sie da, als wären sie vom Himmel gefallen, und sie ahmen die fünfzackige Form der himmlischen Sterne nach, gleichsam als Sterne der Erde, denn auf den Frühlingsenzian passt dieser Vergleich besonders gut.

Die Wiesen unseres Flachlandes bringen nur leicht getrübte, die Halden des Vorgebirges schon entschiedenere Farben der Blumen hervor; aber was wollen sie sagen gegen die strahlende Pracht, die himmlische Reinheit und Klarheit frisch erblühter Alpenblumen. Sie muten den sinnigen Bergwanderer an wie die Vorahnung einer reineren, höheren Welt, wie ein Gruss unseres Gottes, und alle Herrlichkeit der Welt dort unten ist gegen sie nur Spreu.

Kaum sind die Schneepflanzen abgeblüht, kaum sind die Schneefelder all der zahllosen Falten und Hochtälchen der Alpen unter dem Strahl der immer höher steigenden Sonne geschmolzen, so erscheint gegen Mitte Juni das zarte, im hellsten Smaragd erglänzende Grün der Alpweiden. Es gibt keinen herrlicheren Anblick als dieses ätherische Grün, namentlich wenn es am hellen Mittag in jener Glorie glänzt, welche die Gipfel umgibt und auch den Felsen und höchsten Schneelagern ein unbeschreibliches Kolorit, den Zauber der Höhe und Ferne, verleiht. An einem schönen Junitag aus der Walliser Talsohle all die Höhen ringsum von 1900 bis 2600 m im Schmelz dieses zarten Grüns zu betrachten, im Gegensatz zu dem Diadem von Schnee, das auch jetzt die obersten Höhen immer noch einnimmt, ist ein hinreissender Genuss.

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