Die bündnerische Knabenschaft als Sittenpolizei
Mit 2 Bildern.Von Gian Caduff.
Wer je Gelegenheit hatte, im romanischen Vorderrheintal oder im Oberhalbstein -eine Kirchweihprozession zu sehen, dem sind dabei wohl die militärisch formierten Reihen junger Männer aufgefallen, die uniformiert und bewaffnet den feierlichen Zug eröffneten. Hat man sich dann bei den Einheimischen darüber erkundigt, was es mit diesem « Militär » für eine Bewandtnis habe, so erhielt man zur Antwort, dass dies die Knabenschaft des Ortes sei, und wenn die um Auskunft gebetenen Leute nicht allzu wortkarg waren, haben sie vielleicht noch beigefügt, dass diese Knabenschaft auch bei andern festlichen Anlässeh des Dorfes, wie Hochzeit, Primiz und Landsgemeinde, gleicherweise in Erscheinung trete.
Unter der Bezeichnung « Knabenschaft » — romanisch: « Compagnia de mats » — versteht der Bündner eine festgeschlossene, straff organisierte Innung, der alle unverheirateten Männer eines Dorfes von ihrer Schul-entlassung bis zu ihrer Verheiratung angehören. Die Wirksamkeit und Bedeutung dieser Knabeninnung beschränkt sich jedoch nicht nur auf. die engere Verbandsgemeinschaft als solche, sondern beherrscht, wo immer sich die alte Tradition bewahrt hat, das ganze öffentliche Leben des romanischen Dorfes. Die Knabenschaften beeinflussen weitgehend die politischen Wahlen und Abstimmungen in Gemeinde, Kreis und Kanton, indem sie in ihren Versammlungen zu den jeweiligen Tagesfragen Stellung beziehen und bindende Beschlüsse fassen. Den Knabenschaften obliegt ( ausser ihrer traditionellen Teilnahme an kirchlich-religiösen Festen, die jedoch nur für katholische Gemeinden in Frage kommt ) die Organisation und Leitung der weltlichen Feste des Dorfes, die Veranstaltung von Fastnachtsanlässen, Theater- und Unterhaltungsabenden. Die Knabenschaften sind es, die die rätoromanischen Neujahrs-, Oster-, Johanni- und Fastnachtgebräuche, die zahlreichen Hoch-zeits-, Landsgemeinde- und Erntefestsitten von Generation zu Generation vererbt haben. Der Einfluss dieser Knabenschaften auf das politische, kirchliche und gesellschaftliche Leben des rätischen Dorfes war bis um die letzte Jahrhundertwende so entscheidend und so beherrschend, dass die Kultur der Rätoromanen ohne diese vielseitig betriebsame Institution schlechterdings undenkbar wäre.
Es kann sich im Rahmen eines wenige Seiten umfassenden Aufsatzes unmöglich darum handeln, die ganze ausgedehnte und vielgestaltige Wirksamkeit der bündnerischen Knabenschaften zu schildern. Die nachfolgenden Darlegungen beschränken sich auf deren gesellschaftliche Tätigkeit, und auch aus diesem Tätigkeitsbereich soll nur ein kleines Teilgebiet eingehendere Berücksichtigung finden: die Überwachung des gegenseitigen Verhältnisses zwischen den Burschen und den erwachsenen Mädchen des Dorfes.
Wie die Rechte und Pflichten der Innungsmitglieder innerhalb der Verbandsgemeinschaft als solcher in den heute geltenden Knabenschaftssatzungen durch ausführliche Bestimmungen umschrieben sind, so war in früheren Zeiten auch das gegenseitige Verhältnis zwischen den Burschen und Mädchen des Dorfes durch förmliche Gesetze nach fester und strenger Ordnung geregelt. Sowohl in der schätzereichen « Chrestomathie » von Decurtins wie in den « Annalas » der Rätoromanischen Gesellschaft begegnen wir alten Knabenschaftssatzungen, die jeweilen lange Paragraphenreihen über das Verhalten der Zunftmitglieder gegenüber den Mädchen enthalten. Im Schamsertale, im Domleschg und auch in der Gruob massten sich die Knabenschaften bis vor wenigen Jahrzehnten das ausschliessliche Anrecht auf die Unterhaltung und Liebe der Dorfschönen an. Am deutlichsten offenbarte sich dieses « Liebesmonopol » in der althergebrachten Sitte des sogenannten « Hengerts ». Nur die Mitglieder der Knabenzunft gelten als vollwertige, honorige « Knaben » ( « mats » ), und in früheren Zeiten durften nur sie die Mädchen des Dorfes behengern, d.h. in Begleitung anderer Zunftmitglieder an bestimmten Abenden der Woche die Mädchen in ihrer Wohnstube besuchen. Wer nicht in die Knabenschaft des Ortes eingekauft war: Minderjährige, Witwer und Ortsfremde, war vom Hengertrecht ausgeschlossen und riskierte, schonungslos durchgebleut zu werden, wann immer er bei einem Mädchen erwischt wurde.
Aber auch die zunftmässigen « Knaben » durften von ihrem Rechte nicht willkürlich Gebrauch machen. Auch sie wurden bestraft, wenn sie die in den Innungssatzungen festgesetzten Hengertregeln missachteten. Die Satzungen der Knabenschaft von Zillis ( Schams ) aus dem Jahre 1828 dekre-tieren beispielsweise « eine Busse von 4 Kronen » für alle diejenigen, « die sich erlauben, länger als bis 2 Uhr morgens zu hengern ». Der gleichen Busse verfallen « diejenigen, die nach 11 Uhr nachts an eine Türe klopfen ». Ungebührliches Betragen und unflätige Redensarten in Anwesenheit der Mädchen unterstehen einer Busse von 4-12 Kronen. Ebenso war es den Knaben strengstens verboten, während des Hengertbesuches die Haus- oder Stubentüre zu verriegeln oder das Licht zu löschen. Derartige Vergehen wurden und werden mancherorten auch heute noch sogar mit dem Ausschluss aus der Knabenschaft geahndet. Wer aber die schmachvolle Massregelung des Ausschlusses, der Exkommunikation, über sich ergehen lassen muss, geht damit aller Rechte und Ehren, die er als Zunftmitglied genoss, verlustig. Er darf in der Kirche nicht mehr auf der Empore der Ledigen sitzen, darf nicht mehr an den Unterhaltungsanlässen der Dorfjugend teilnehmen — er gilt im gesellschaftlichen Leben des Dorfes für gerichtet und « gezeichnet ».
Die knabenschaftlichen Hengertsatzungen waren für die Mädchen des Dorfes ebenso verbindlich wie für die Burschen. Im Schamsertale hatten die Knabenschaften bis um die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts ihre eigenen Tribunale, die sogenannten « Knabengerichte », die nach streng geregeltem Rechtsverfahren Verfehlungen gegen die Knabenschaftsgesetze wie auch sonstige Vergehen gegen die Sittlichkeit aburteilten. Die überlieferten Verhandlungsprotokolle dieser Knabentribunale registrieren zahl- reiche Fälle, in denen Mädchen zu Geldbussen verurteilt werden, weil sie es unterlassen haben, die in ihrer Gegenwart begangenen Übertretungen der Hengertbestimmungen zur Anzeige zu bringen. Ein Paragraph der ob-zitierten Knabenschaftssatzungen von Zillis lautet: « Mädchen, die es dulden, dass sich Burschen bei ihnen ohne Licht aufhalten, werden vor das Gericht zitiert und zu einer Busse von 2 Kronen verurteilt. » Jedes Mädchen im Dorfe ist verpflichtet, den zwecks eines Hengert-besuches anklopfenden Burschen Einlass zu gewähren, wann immer deren Besuch in die gewohnte Hengertzeit fällt. Diese Verpflichtung, von der sich das Mädchen erst durch die öffentliche Bekanntgabe seiner Verlobung zu entbinden vermag, gilt ohne Unterschied gegenüber allen Mitgliedern der Knabeninnung. Mögen die Einlass begehrenden Burschen dem Mädchen noch so unsympathisch und widerwärtig sein, wenn sie der Knabenschaft des Ortes angehören, darf ihnen der Einlass und die damit verbundene Gastfreundschaft nicht verweigert werden. Eine Abweisung seitens des Mädchens würde dessen gesellschaftliche Isolierung zur Folge haben.
Überhaupt wird in den alten Knabenschaftssatzungen das Selbstbestimmungsrecht der Dorfmädchen in einer geradezu Mitleid heischenden Weise vergewaltigt. Die unverheirateten Mädchen, die Jungfrauenschaft des Dorfes, wurden früher und werden vielfach heute noch von der Knabenzunft gleichsam als ihr « Kollektiveigentum » betrachtet, als solches bewacht und behütet. In den traditionellen Hochzeitsreden, die der Knabenhaupt-mann des rätoromanischen Dorfes anlässlich der Vermählung eines Zunft-mitgliedes zu halten pflegt, werden die Mädchen des Dorfes immer wieder als « der kostbare Blumengarten unserer löblichen Knabenschaft » gepriesen. Diesen kostbaren Blumengarten zu hegen und zu pflegen und dafür Sorge zu tragen, dass er in keiner Weise Schaden leide, betrachten die Knabenschaften vielerorten heute noch als ihre vornehmste Aufgabe.
In früheren Zeiten war man vor allen Dingen darauf bedacht, den Garten vor dem Eindringen fremder Hengerer zu schützen. Als « Fremder » galt in diesem Falle jeder nicht im Dorfe Ansässige, also schon der Bewohner des nächsten Nachbardorfes. Nur unter den allergrössten Gefahren wagte einer den Einbruch in unerlaubtes Hengertgebiet. Hatte ein Bursche des Dorfes sein Kommen bemerkt, so hatte dieser die Pflicht, unverzüglich seine Kameraden zu alarmieren. Mit Prügeln bewaffnet, oft auch mit Stricken versehen, umlagerten diese das Haus des behengerten Mädchens so lange, bis der fremde Eindringling dasselbe verliess. Dann überfielen sie diesen, malträtierten ihn auf die unerhörteste Art und Weise, schleppten ihn schliesslich zum Dorfbrunnen, wo er mehrere Male von unsanften Bauernfäusten unter Wasser getaucht wurde. Damit sollten dem Fremden seine unerlaubten Gelüste abgekühlt werden. Nur durch Bezahlung eines Trunks oder eines gewissen Geldbetrages konnte dieser jeweils weitere Misshandlungen von sich abwenden. Waren unter den Knaben des Dorfes aber solche, die es selbst auf das vom Fremden besuchte Mädchen abgesehen hatten, so konnte es vorkommen, dass der Unglückliche auch nach Entrichtung des Ent-gelts noch verprügelt wurde und bis an die Grenze seines Dorfes blutigen Verfolgungen ausgesetzt war. Wie verschiedene Bündner Chronisten überliefern, soll es sogar des öftern vorgekommen sein, dass ein « Wilderer » seine Waghalsigkeit mit dem Leben bezahlen musste, indem er den erlittenen Verletzungen erlag.
Es gibt in Graubünden eine ganze Anzahl von Knabenschaften, deren unerhörte Brutalität gegen fremde Hengerer geradezu sprichwörtlich geworden ist. In einem Dorfe Mittelbündens pflegte man jedem Eindringling, nachdem man ihn in den Brunnen getaucht und zünftig verprügelt hatte, einen Stock durch die Rockärmel quer über den Rücken zu binden, worauf man den Gemarterten seinem Schicksal überliess.
Neben diesen rabiaten « Fremdenfressern » gab es aber auch Knabenschaften, die gegen Auswärtige humaner verfuhren und mit sich reden liessen. Hatte ein Fremder ehrliche Absichten auf ein Mädchen des Dorfes, so konnte er sich das Hengertrecht von der Knabenschaft des Dorfes vertraglich gewährleisten lassen. Gegen eine gewöhnlich nicht unbeträchtliche Geldsumme — 30 bis 50 Franken — erhielt er eine Art « Freipass », der ihn zum ungestörten Besuch seiner Geliebten berechtigte. Derartige Kontrakte lassen sich in der Geschichte der bündnerischen Knabenschaften mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen. In der ältesten Knabenschaftsurkunde, die uns überliefert ist, finden wir nicht nur die Bekämpfung fremder Freier, sondern ebenso das für diese käufliche Recht zum Hengert statutarisch festgelegt. Artikel 3 der « Statuten Einer Ehrlichen Gesellschaft Allhier zu Tomils » aus dem Jahre 1612 lautet:
« 3... ist auch erkennt worden, dass wan etwan ein frömder hier wurde gegen einer Tochter oder weib Sonst verliebt machen und in Einem haus Bey nacht heimlich auss und ein gehen, wofern er dann von unss möchte erdappet werden, Solle geben ein Philipp oder 12 mass guten welschen wein; wenn er sich aber widerspännig erzeigen würde, so haben wir Macht und gewalt, jhme nach unserem guthdunkhen ab dem Leib zu nehmen Seinen Dägen, Hut oder was man von Jhme sonsten bekommen mag, mit dem Selbigen dann in ein würtzhaus zu gehen und nach unserem Belieben vertrinkhen, solle auch noch zur straff in ein Brunnen geworffen werden. » In so handgreiflichen Formen beanspruchen die Knabenschaften Graubündens das Alleinrecht auf die Liebe der Dorfschönen heute nicht mehr, obschon sich hier und dort deutliche Überreste dieses alten Liebesmonopols bis in die Gegenwart erhalten haben. An vereinzelten Orten des Bündnerlandes muss der auswärtige Freier auch heute noch der Knabenschaft des Dorfes eine bestimmte Geldsumme entrichten, um ungestört seine Auserwählte besuchen zu können.
Der Hengertbrauch als solcher hat sich in zahlreichen Talschaften Bündens bis zum heutigen Tag behauptet, und wer es wagt, gegen diese altüberlieferte Sitte anzukämpfen, macht sich dadurch die gesamte Jugend des Dorfes zum Feinde. Mit zäher Unnachgiebigkeit verteidigen die bündnerischen Knabenschaften den Hengertbrauch als ihr unantastbares, von den Vorfahren ererbtes, durch die Tradition der Jahrhunderte geheiligtes Recht.