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Der Tannenwald von Derborence

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

Von Alfred Saxer

Mit einer KartenskizzeBaden F. Ramuz lässt uns in seiner Erzählung « Derborence » die düstere, wilde Landschaft von Derborence erleben, mit ihren schweigsamen Menschen und den drohenden Diablerets, die mit ihren Felsen das enge Tal fast erdrücken. Er schildert uns darin die Tage, wo ein grosser Teil der Alp von einem Bergsturz verschüttet worden ist.

Heute ist dieser Bergsturz noch gut sichtbar. Ein Stein- und Schuttstrom zieht sich von den Diablerets gegen den kleinen See hinunter, füllt dort die ganze Talsohle aus und dringt auf dem Grund des Tales noch weit hinaus in die Schlucht, die gegen Ardon hinunter führt. Magere Föhren, Fichten und Lärchen beginnen nun die mächtigen Blöcke im Talboden von Derborence zu verdecken.

In Derborence scheint man von der ganzen Welt abgeschlossen. Ringsum erheben sich steile felsdurchsetzte Berge. Dort, wo noch am meisten grüne Alpwiesen sich ausdehnen, lasten die Felsbänder der Diablerets, auf denen die Eisränder des Gletschers gleissen. Die Lizerne, der Talbach, sucht sich den Weg durch die Bergsturzmasse und verschwindet, talwärts um den Felsensporn des Mont à Cavouère biegend, der den Talkessel abschliesst.

An diesen Felssporn, zwischen den Felsen, auf denen sich Lärchen auf den Felsbändern halten können, und dem Bergsturzstrom auf dem Talgrund steht an steilem Hang ein dunkler Wald. Weisstannen sind es, mit etwas Fichten und Lärchen vermischt. Längs dem Saum dieses Waldes schlängelt sich der Talweg um die kantigen Felsblöcke talwärts; nur wenige Schritte abseits von ihm führen uns in diesen einzigartigen Wald. Es ist der letzte Weisstannenurwald der Schweiz; so gering er in seiner Ausdehnung auch ist, so wild ist er doch in seinem Inneren.

Die Weisstanne ( Abies alba Miller ) findet die besten Bedingungen in der schattigen Lage unter dem Felsband, das den ganzen Bestand gegen oben abgrenzt und wo auch die Luftfeuchtigkeit immer sehr hoch ist. Oft trifft man Stämme von 100-120 cm Durchmesser ( in Brusthöhe gemessen ); es steht sogar eine Tanne dort von gut 150 cm Dicke! Die Fichte, die hier überall beigemischt ist, steht ihr aber an Grösse und Stammdicke nicht nach; es wurde bei Bestandesaufnahmen auch ein Stamm von 140 cm Dicke getroffen! Die Tannen fallen hier durch eine schmale Krone mit locker stehenden kurzen Ästen aufDie Bäume stehen in einem erbitterten Konkurrenzkampf untereinander, vor allem um das Licht; die ausgleichende Arbeit des Försters fehlt hier vollständig. Dieser Kampf führt zu einem inneren Kreislauf, den jede Waldstelle mehr oder weniger vollständig durchmacht, und der sehr lange Zeit braucht. Wir können sie aus den nebeneinander bestehenden Stadien herauslesen, wie z.B. eine kleine Gruppe von uralten mächtigen Bäumen. Ihre Äste fangen alles Licht ab, zudem fällt eine Menge von Nadeln, Zapfenschuppen, Borkenteilchen und Ästchen auf DER TANNENWALD VON DERBORENCE den Boden, wo eine dicke lockere Schicht gebildet wird. Nur wenige an diese besonderen Standorte angepassten Pflänzchen gedeihen hier noch, wie etwa das Einseitswendige Wintergrün.

Meistens erneuert sich eine solche Waldstelle katastrophenmässig. Der Sturm oder Schneedruck entwurzelt einen der überalterten Riesen; er stürzt mit voller Wucht auf die Übersicht über den Talkessel von Derborence Fels « rtk iNVBergsturz :. ;;:

GletscheriWelsstannenurwald S: gegen SanetschpassA: gegen Ardon C: gegen Conthey anderen, sie zerschlagend, zerschmetternd und mitreissend. So öffnet sich im Wald eine kleine Lichtung. Schneerutsche können gelegentlich von den Felsen her in den Wald eindringen und ein gleiches Bild der Zerstörung bewirken. Mühsam klettert man hier über Stämme und Äste.

In den Lücken entwickelt sich eine üppige Flora. Neben den Schlagpflanzen kommen auf fällig viele Fichten auf, die an diesen lichten Stellen an Zahl die Tannen überwiegen. Sogar die liegenden Stämme der gefallenen Bäume werden dicht besiedelt, sobald sie etwas zu vermodern beginnen. In einer dicken Moosschicht wachsen oftmals auf solchen Stämmen meterhoch über den Boden Sauerklee, Heidelbeeren, Mauer-Habichtskräuter, Himbeeren, besonders aber Fichten und auch Tannen. ( Beispielsweise fanden sich auf einem liegenden Stamm von 110 cm Durchmesser auf 12 m Länge und über 2 m über dem Boden rund 300 junge Fichten von einer Grösse von 5-30 cm.Allmählich werden die jungen Bäume grösser und überschatten bald die Krautschicht. Die Schlagpflanzen und die lichtbedürf-tigeren Pflanzen werden verdrängt. Junge Pflanzen kommen fast keine mehr auf. So finden sich in der Folge an den wieder von Bäumen bedeckten Stellen nur noch diejenigen schatten-ertragenden Pflanzenarten, die sich zur rechten günstigen Zeit hier haben festsetzen können. Fast alle diese Arten können dann jahrzehntelang leben, ohne zu blühen, indem sie mit dem unterirdischen Wurzelwerk den Boden durchkriechen und sich durch Verzweigungen und Ausläufer vermehren können. Die Tanne, die viel Schatten erträgt, gewinnt wieder an Bedeutung. Viele der anfänglich durch das Licht begünstigten Fichten sterben langsam ab und stehen dürr und kahl zwischen den aufstrebenden Tannen.

Nirgends zeigt dieser Urwald über grössere Strecken eine Gleichförmigkeit in der Struktur. In Gruppen und Grüppchen erneuert sich der Wald. Nicht nur die Lichtverhältnisse spielen dabei eine Rolle, sondern auch die stark wechselnden Verhältnisse im Untergrund. Die Gerölligkeit wechselt, die Steilheit des Hanges. Wenn ein Baum stürzt, so reisst er oft mit seinem Wurzelwerk ein grosses Stück Boden mit sich. Er öffnet zwischen den sauren Humusschichten und dem vermodernden Holz eine Stelle, wo der neutral bis basisch reagierende Untergrund ( Kalk und Flysch ) wieder zutage tritt und bestimmten Pflanzen die Ansiedlung erlaubt.

Der Gegensatz zwischen der Stille dieses Waldes mit den hohen dunklen Bäumen und der Dynamik, dem Kampf, der sich zwischen allen Pflanzen unerbittlich und langsam abspielt und den man deutlich herauslesen kann, macht das Durchstreifen dieses Waldes für den Besucher zum besondern Erlebnis. Vollends ist man in seinem Bann, wenn man etwa ein Ohnblatt ( Epipogium aphyllum Sw .) findet, diese seltene Orchidee ohne Blätter und Blattgrün, die jahrelang unterirdisch im Humus leben kann, um in einem günstigen Sommer den blassen Stengel mit den fahlen weisslichen Blüten aus dem dunklen Boden zu recken, oder wenn einem Gemsen und Eichhörnchen begegnen.

Die besonders günstige Lage dieses Hanges ermöglicht der Tanne, sich prachtvoll zu entfalten. Denn die Tanne stellt grosse Ansprüche an eine hohe Luftfeuchtigkeit. So finden wir sie taleinwärts im Wallis bis Visp immer nur in der bestimmten Höhe, wo sich am häufigsten die Nebel bilden, die diese Zone höchster Luftfeuchtigkeit anzeigen. Sodann findet die Weisstanne in Derborence auch den tiefgründigen, nährstoffreichen Boden, den ihre tiefreichenden Pfahlwurzeln benötigen. Deutlich erkennt man an diesem Wald schon von aussen die Stellen, wo der Boden geröllig und wenig tiefgründig ist; da ziehen sich durch den Tannenwald Streifen oder Flecken von Fichten, die hier mit ihren flachgründigen Wurzeln konkurrenzfähiger sind.

Reizvoll ist es, die Krautschicht zu verfolgen: Hier treffen sich die Pflanzen des Buchen-gürtels, zu dem die Weisstanne gehört, die im allgemeinen mehr die neutral und basisch wirkenden Stellen des Bodens bevorzugen, mit den Pflanzen des Fichtengürtels, die sich mehr an den sauren Stellen ausbreiten, die durch verfaultes Holz gebildet werden.

Glücklicherweise war für den Wald der Zugang nach Derborence ( 1450 m ) immer mühsam. Man kann es erreichen von Gryon her über den Pas de Cheville ( 2038 m ), vom Sanetschpass her über den Sattel P. 2315, oder endlich vom Wallis selber, von Ardon oder Aven. Da sich die Lizerne eine tiefe, schwer zugängliche Schlucht gegraben hat, führen die beiden Saumwege von diesen beiden Orten hoch hinauf, über die Felsen ins Tal hinein und wieder zur Lizerne hinunter. Dieser mühsame Zugang verunmöglichte eine forstliche Nutzung des Waldes, selbst während des letzten Weltkrieges, wo jeder erreichbare Wald Holz liefern musste. Das Holz für die umliegenden Alpen wurde aus anderen Waldbeständen gewonnen.

Heute hat sich alles geändert. Eine Strasse hat das Tal erschlossen; eine halbe Stunde vor Derborence findet sie ihr Ende. Dort enden auch lange Kabel von Holzseilbahnen, die von weit oben Stamm um Stamm herunterführen. Die Wälder gegenüber dem beschriebenen Weisstannenwald, die zum Teil auch noch urtümliche Waldbilder zeigten ( Fichtenwald mit Tannen und Lärchen ), werden genutzt; sie zeigen ein Bild der Verwüstung. Ob der letzte Weisstannenurwald der Schweiz auch verschwinden wirdErfreulicherweise wurde von den zuständigen Behörden einstweilen angeordnet, dass wenigstens in einem Teil ( 10-12 ha ) der beschriebenen Waldungen keine Schläge durchgeführt werden sollen. Ob das der Anfang zur Schaffung eines Reservates ist? Wir wollen es hoffen, denn damit bliebe ein leicht erreichbarer Urwald bestehen, der letzte Weisstannenurwald der Schweiz, der einen packenden Einblick in das natürliche Leben einer einheimischen Waldgemeinschaft vermittelt.

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