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Den Berg erlebt

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BASEL'( DER AERLENGRAT ) VON ERNST REISS, BASEL

- Und was bleibt zum SchlussDas, was wir erlebten: ganz tief und unauslöschbar, getragen von jener Sehnsucht, die uns fern der Berge aus der Hast des Alltags mit aller Macht immer wieder zurückruft.

Ehe hoch oben in den Bergen der Glanz und die Lichtfülle des Sommers für lange Monate Abschied nimmt, gewähren uns die Tage der ersten Septemberhälfte oft eine letzte, grosse Tour. Meist darf man gutes Wetter erwarten und sich noch ein Ziel in den Hochregionen aussuchen. Zumindest durfte ich fast jedes Jahr von diesem Erlebnis herbstlicher Melancholie bis weit in den Winter hinein zehren. Dabei möchte ich ganz bewusst nicht von jenen Kletterfahrten sprechen, wo nur noch die Voralpen schneefrei sind, die Sonne nochmals sommerliche Wärme ausstrahlt und alles nur noch zu geniesserischem Tummeln einlädt. Im Gegensatz dazu gehören zu einer Gipfelfahrt, in welcher wir den Berg in seiner ganzen Grosse und Gewalt, in seiner romantischen und dämonischen Art erleben, auch das Kämpferische, besser gesagt die Angriffslust und Furcht, Freude und Demut. Dabei soll uns auch ein Kamerad begleiten, mit dem wir ganz eins sind, eins in der Sehnsucht und im Denken, einig auch im Handeln. Wir gingen eher allein, als diese Einheit nicht von allem Anfang an zu verspüren. Aber im Alleingang würde uns die Nähe und Güte dieses ausgesuchten Kameraden fehlen.

So treffe ich am Samstag, den 15. September 1962, am abgemachten Ort den Freund, nach meiner obligaten Verspätung, schlafend in seinem ALFA vor der Gartenwirtschaft. Er freute sich schon wochenlang auf diese Tour. Im Moment ist er noch apathisch genug, um sich nicht das Geringste von seiner Ungeduld anmerken zu lassen. Bald reden wir aber Wichtiges: über unser Ziel! Und doch ist es belanglos, denn wir wollen ja nur einige Stunden mit dem Berg, mit seiner Sonnenwärme, mit seiner besternten Nacht, mit seiner Grosse leben.

« Du weisst nicht, wie irrsinnig ich mich auf diesen Tag freute! », sagt mein Kamerad; ich weiss um die Ehrlichkeit seiner Worte.

Die rasche Fahrt am Hallwiler-, Vierwaldstätter- und Sarnersee entlang auf den Brünig löst uns allmählich von den Niederungen. Ja, der wolkenlose Himmel und das Herdengeläute aus jedem Wiesengrunde dünkt auch mich einzigartig schön. Beim Anblick der vertrauten, hohen Zacken der Wetterhörner und der grauen Steilfluchten der Engelhorngruppe wird mir warm ums Herz.

An der Handegg, unterhalb der Grimselpasshöhe, entscheiden wir uns für eine Begehung des prächtigen Diamantstock-Ostgrates.

Es braucht 30 m Seil und drei Karabiner dazu.

Zehn Minuten von der Stelle unseres grossen Umpackens entfernt stelle ich fest, dass ich allerlei auf dem Autodach liegen gelassen habe. Mein Freund eilt zurück, steigt dann wieder eilig nach und scheltet mich, weil ich inzwischen zwei Rucksäcke buckle. Mehr oder weniger ungewollt trennt sich unser Anstieg kurz nachher für ein kleines Wegstück. Mich locken die steilen Granitplatten links der ersten Steilstufe zur Aerlenalp. Ohne Seil ist das aber nicht ganz harmlos, und man macht sich einige Gedanken über die üblichen Spielregeln des Bergsteigens.

Dann gehen wir wieder gemeinsam über den flachen Talboden vor dem grossen Steilhang. Eine Stelle zeigt uns viele Abdrücke von Vibramsohlen im Sand. Soll das Massenandrang im Gruben-biwak bedeuten? Das lässt uns nachsinnen. Wir halten inne und hadern mit unserem Entschluss.Führt nicht dort rechts ein versteckter Pfad neben dem hohen Wasserfall hinauf zum Weissen-bachlimmelti, in jenes versteckte Niemandsland, wo sich der von uns schon oftmals geplante Aerlengrat an der riesigen, zerrissenen Felsburg des Ritzlihorns hochschwingt? Ein Berg, der mich mit seinen unendlichen Steilhängen, die bis zur jungen Aare reichen, immer wieder an die Felskolosse an der Tibetgrenze erinnertDa gibt es kein Abwägen mehr: der Ruf dieses Berges ist stärker als alle Bedenken wegen der Nacht im Freien und unserer geringen Ausrüstung. Wir verlassen den vorgezeichneten Weg, um das lockende Ungewisse vorzuziehen. Mit einer Menge alter Bauholzstücke beladen, gelangen wir kurz vor der Nacht zum obersten Wasserlauf zwischen dem Aerlengletscher und Aerlengrat.

Neben einem mächtigen Stein, mit Vorplatz und Kochnische, wählen wir eine exponierte Rasenmulde als unser « Schlafgemach ». Zur Linken erhebt sich eine schwarze Felskulisse, und unter uns rauscht ein kleines Bergwasser. Während aller Biwakvorbereitungen versinkt der braunrote, hohe Grat des Ritzlihorns langsam in der lauen Föhnnacht. Goldig glänzt der Stausee des Rhätrichs-bodens im feinen Mondlicht.

Unsere « Seegrasmatratzen » raufen wir aus dem üppigen Grün der kleinen, vergessenen Bergwiese zusammen. Wie uns dabei der schmale Sichelmond durch eine tiefe Felsscharte zuschaut, können wir uns eines gehörigen Lachens nicht erwehren. Das Abreissgeräusch des saftigen Grases tönt genau wie die Anwesenheit einer hungrigen Kuhherde...

Und dann verplaudern wir die halbe Nacht, bis die letzten Holzstücke in weisse Asche verglimmen. Mit einem gleichgesinnten Kameraden gibt es tausend Dinge zu erzählen und zu beraten.

Herrlich, nur nicht gerade lange, haben wir in unserem « Freiluftbett » geschlafen. Ein wolkenloser, stark dunstiger Himmel verrät den baldigen Zusammenbruch des berüchtigten Haslital-Föhns. Mit den ersten Sonnenstrahlen stehen wir am Beginn des kilometerlangen, sanft ansteigenden Aerlengrates. Sein Fels ist anfangs leicht und kann ohne Seil begangen werden. Die Tiefe beidseitig des Grates wird aber oben immer beachtlicher, da die flankierenden Gletscherzungen stark abgesunken sind.

Zwei Stunden später sind wir dort angelangt, wo die grossen Steilaufschwünge und deren Schwierigkeiten beginnen. Der Fels ist hier rauh und voller Rillen. Das Sonnenlicht wird immer spärlicher. Bald sinken feine, weisse Nebel über die umliegenden Berge. Auf einer Kanzel im gähnend leeren Raum halten wir eine Rast. In dieser grossen Stille bedeutet das ein Sein mit dem Nichts.

Was der folgende Aufstieg bringt, ist uns völlig unbekannt. Die ersten 60 Meter am hohen Pfeiler sind durch einen einzigen Haken gesichert. In der exponierten Gratscharte überrascht uns nasser Schneefall. Senkrecht über einer grauen, glitschigen Verschneidung sehen wir zuweilen zwei rostige Haken, am obern eine vermoderte Seilschlinge hängend. Wenn das die Schlüsselstelle ist, wollen wir sie trotz der schlechten Wetteraussichten noch hinter uns bringen. Ist es aber der Anfang des 120 Meter hohen Pfeilers, so stehen wir vor einem abenteuerlichen Tag! Ja, in Wirklichkeit war es das schwierigste Stück dieses Felsgrates: exponiert, glitschig und feingriffig. Aber die folgenden unzähligen Seillängen im Nebel, im unangenehmen Nassschnee, auf und ab, wieder zurück, wer wüsste wohin; das brauchte Nerven.

Zweimal stehen wir über bodenlosem Abgrund und vergleichen diesen antwortlosen Raum mit unsern 30 Metern Seil. Ein einmaliges Wolkenloch gegen den Gauligletscher hin schenkt uns die Orientierung wieder. Wir verlieren uns in den selten begangenen Türmen des Graugrat zum Stein- lauenenhorn hin. Einmal führt der Weg weit absteigend nach der Südseite, dann wieder wechselnd auf die andere Gratseite über dem Aerlengletscher.

Abweisend und unerbittlich sehen uns die Felsbastionen an. Der Uhrzeiger rückt langsam gegen 4 Uhr abends. Der kleinste Zwischenfall kann uns in diesem restlos durchnässten Zustand bei zunehmendem Schneefall ein böses Biwak aufzwingen. Wohl sehen wir keine Gespenster, doch verspüren wir ganz unzweideutig die « Herausforderung des Berges ». Vor 24 Stunden verliessen wir die letzten menschlichen Spuren. Unser Ziel hatten wir fälschlicherweise niemandem angegeben.

Eine nahezu senkrechte Rinne, welche von mehreren losen Felskeilen durchsetzt ist, führt uns an den obersten Rand des Aerlengletschers. Einige dieser tonnenschweren Blöcke sind bedenklich lose.Vor der zweiten Abseilstelle muss ein mannshoher Zacken zuerst in die Tiefe gestossen werden. Über die enge Rinne spreizend, bringe ich den Block in seinen Widerlagern zum Kippen. Mit besorgter Miene sichert mein Kamerad. Leicht könnte der Block mich im Fallen verletzen. Wir wären verloren und ohne Hilfe. Doch dann poltert das Ungeheuer in die Tiefe. Es riecht nach Schwefel. Und es folgt wieder die grosse Stille. Wir fühlen uns sehr allein. Wie selten auf einer Tour verspüren wir hier in der Einkesselung des Nebels und in der nassen Kälte den Berg als Dämon...

Dann gehen wir, wieder durch das Seil verbunden und erleichtert durch den aufgeweichten Schnee des Gletschers. Bei zwei heiklen Passagen mit offenen Spalten verwenden wir den Kletterhammer zum Sichern. Dann, auf dem glattgeschliffenen Fels über der Moräne falle ich so unerwartet auf den Rücken, dass es kracht. Die kaum sichtbaren Wasseralgen sind mir schon einmal auf einer Bergtour über einem drohenden Wasserfall beinahe zum Verhängnis geworden.

Es ist fast ein Zufall, dass wir im strömenden Regen und kurz vor dem Einnachten aus fast entgegengesetzter Richtung auf unser Biwakdepot stossen. Doch müssen wir diesen Rastplatz fluchtartig verlassen, um Zeit zu gewinnen, da die Steilstufe neben dem schäumenden Wasser und die moosglitschigen Eisblöcke, ohne Licht zu passieren, volle Aufmerksamkeit verlangen. Oft stürzen wir, zerschinden die Hände und werden völlig durchnässt, ehe wir auf die obere Plattform der ehemaligen Standseilbahn der Handegg gelangen. In völliger Dunkelheit, wie im Fass des Diogenes, sind wir froh, an Stelle des unauffindbaren Zickzackweges dem rostigen Geleise folgen zu können. Es ist zwar mehr ein Kriechen als ein Gehen, ehe wir kurz vor 10 Uhr aus der pechschwarzen Nacht zum elektrisch beleuchteten Waldhaus über der Handegg treten. Der Wechsel zwischen dem Kampf um das Bestehenkönnen und der Geborgenheit in Licht und Wärme ist unglaublich! Ohne die Sorge um rascheste Benachrichtigung unserer Familien hätten wir vielleicht Zeit gefunden, darüber zu philosophieren.

In trockenen Shorts, mit einer alten Daunenweste und einem Regenmantel angetan, treten wir müde, aber mit frohem Herzen in die Arvenstube. Ein heisses Getränk, ein erlösender Telefonanruf, lassen die Spannungen der letzten Stunden von uns weichen. Die wenigen Leute in der heimeligen Gaststätte können sich eines mitleidigen Lächelns über die beiden zerzausten Bergsteiger kaum erwehren. Was können sie von einer grossen, einsamen Bergfahrt wissen?

Der ausgiebige Neuschneefall der folgenden Nacht hat Mensch und Tier in ihre sichersten Zufluchtsstätten gewiesen. Für all diese Eindrücke nehmen wir die späte Heimkehr nach Mitternacht gerne in Kauf. Auf unzähligen anderen Wegen haben wir den Berg noch selten so tief und gross erlebt!

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