Das Haslital
Mit 4 Bildern.Von Fritz Ringgenberg.
Hunderte haben es gemalt und ebenso viele besungen. Was ich tue, gleicht deshalb dem Aufwärmen von schon Gekochtem. Dr. Jenny sei. meinte aber: « O nein! Das ist wie mit der Milchgepse, die man stets wieder neu füllt. Also füllt der Herrgott Tag um Tag dieses Tal mit seiner ureigenen Schönheit. » Er hatte wohl recht. Aber welche Kelle ist fein genug geschnitzt, um die Nidel von dieser Gepse zu schöpfen? Lässt sich denn etwas fangen, das nur so im Winde verweht, im Wasser verrauscht? Glaubt man es erhascht, so sieht man es wieder völlig frei in Hausgärten blühen, hört 's im Walde raunen. Sommersatte Weiden sind von ihm gesegnet. Es webt überm Gletschersturz, brüllt auf in Schluchten, brütet in grauer Einöde über Steinwüsten und jagt im Sturm um die Zacken zerrissener Gräte.
Und dabei ist diese unerschöpfliche Vielfalt noch keineswegs das Ureigenste des Tales. O nein, es ist nur ein Gemisch von Luft und Sonne, Wasser und Erde, in dem der Duft der Blume weht und der Ruch des Wildes. Es ist das, was den Menschen umschliesst, um im Laufe von Jahrhunderten in seinem Blute und Herzen das Ureigenste zu bilden. Woher stammt es, dieses Menschenherz? Aus Schweden und Friesland, sagt man wohl. Sage und Funde deuten aber, dass das Tal schon vor der Zeit der vermeintlichen Einwanderung besiedelt war. Es liegen Spuren von Römern und Kelten vor. Schon damals war der Pass über die Grimsel begangen. Und just in der allergrauesten Sage von den Haslizwergen stossen wir auf einen kleinen, bedeutsamen Zug im Wesen des Oberhaslers:
Ein Schalk zersägt den Ahornast, auf dem die kleinen Wohltäter der süssen Mittagsrast pflegen. Es kracht. Die Männlein purzeln zur Erde. Schlaftrunken noch reiben sie sich Augen und Knie. Sie erheben ein grosses Geschrei. Um die Hausecken aber lacht 's. Das schmerzt am tiefsten. Die Zwerge fühlen sich missachtet und unverstanden. Ihre Herzen sind wund und weh, und schweigend ziehen sie über die rauhe Höhe der Grimsel.
Drei Tage dauert der Zug, bis er vorüber. Das Lachen ist längst verstummt. Es weicht einem Staunen. Ja, man staunt, will aber keineswegs erkennen, dass man etwas getan hat, was man um alles in der Welt nicht tun wollte.
« Wie gross ist die .Untriw'im Haslital! » sollen die Zwerge gerufen haben. Es war aber keine Untreue. Witz und Schalkheit forderten lediglich ihr loses, vermeintliches Recht. Diese Teufelchen stecken mit allen guten Eigenschaften im Blut. Man spürt sie nicht. Sie sind einfach da. Drum bringt man ihnen lächelnd und willig, was sie für ihr Dasein heischen. Man tut das mit todernstem Gesicht, einem kleinen Zwinkern im Augenwinkel, die Grosse des Opfers in Form von eigenem Schaden, den man fast bewusst anrichtet, nicht messend.
Die Alpen — 1940 — Les Alpes.19 Die von Dokumenten belegte Geschichte zeigt dagegen ein Talvolk, das fürsorglich und mit Nachdruck über verbliebenen Rechten wacht. Einst freies Reichsland, legt 1334 der Berner Bär seine schwere Tatze über das Tal. Je mächtiger Bern wird, um so schwerer drückt diese Tatze. Rings von katholischen Ständen umschlossen, mit ihnen sippen- und freundschafts-verbunden, bekommt das Oberhasli Berns Zwistigkeiten mit diesen Ständen aus erster Hand, am eigenen Leib, zu verspüren. Der Raronhandel und die zwangsweis eingeführte Reformation sind sprechende Beispiele. Dagegen vernehmen wir nie, dass die Hasler säumig waren im Entrichten der Steuer oder dass sie auf einem Kriegszuge nicht folgten, wenn man sie rief.
Wildwasser und Feuersbrünste, Steinschlag und der schwarze Tod brachten oft schwere Bedrängnis. « Goldene Zeiten » erwuchsen dagegen aus den grossen Kristallfunden am Zinggenstock und aus der Blüte des Reiseverkehrs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Gewinnung von Eisenerz an der Planplatte, der Erzegg und am Wellhorn zur Einschmelzung im wälderfressenden Hochofen im Mühletal, sowie der Bau der schmalspurigen Brünigbahn sind eher Leidenskapitel, denen die Kanalisation des Talbodens und die Nutzbarmachung der gewaltigen Wasserkräfte an der Grimsel in wohltuendem Kontraste gegenüberstehen.
Damit wäre etwas über das Haslital geschrieben, in schier mehr als grobschlächtigen Zügen sogar « Geschichte ». Und über den gedrechselten Sätzen ist die Spur von blutwarmer Ureigenheit völlig und gründlich verloren gegangen.
Krieg — Pestilenz... Kribbelig-erregende Worte. Grausam Zermür-bendes, langsam Hinkriechendes macht sich breit darunter. Es steigt auf aus ungezählten, unendlich langen, schlaflosen Nächten. Nächte, in denen wohl Stunde um Stunde zerrinnt, aber erst nachdem sie eine kleine Ewigkeit dauerte. Man liegt da und lauscht, lauscht hinein in die dumpfe Öde. Wie ein Sumpf hält sie einen umschlossen. Tiefer und tiefer spürt man sich ins Trostlose sinken. Die Angst und Bedrängtheit steigt zum Herzen, zum Halse. In stummer Qual beginnt man zu ringen und beten. Immer aufs neue, dieweil sich fern oder auch in unmittelbarer Nähe die harten Schicksale erfüllen. Immer und immer wieder ist das unerbittlich Gähnende da, das kein Türlein offen lässt und keinen Durchschlupf gestattet.
Auch diese Nächte gehen vorüber. Langsam sickert Licht in die Fenster. Aber es bleibt fahl und trostlos. Es bleibt leer, bis man sich beugt, um in sich selber nach dem Tiefsten zu suchen.
Aus solchen Nächten erwuchsen Gesichter, die ernst sind, aber nicht traurig. Männer und Frauen, die Tag um Tag ihre neuen Pflichten, auch die kleinsten, mit letzter Hingabe erfüllen. Die wohl irdisch Gut besitzen, aber nur so, als ob sie es zu Lehen trügen und gerade darum aufs treueste verwalten.
Ihre Augen sind wach und gütig. Der Schalk, der einst so mächtig tollende, ist keineswegs erloschen. Er steht aber in seinen Winkel geschoben. Das Grosse, das in jenen Kummernächten herrschend erstanden, füllt Blick und Gebärde.
Still gehen also Geprüfte ihren Weg. Sie sind wohl gleichmütig, aber nicht gleichgültig. Sie bauen neu auf, was die Laui zerstörte. Sie räumen den Schutt von Wiese und Acker. Ob ihre Glieder krumm werden über der Arbeit, die Haare dünn und grau, ihre Augen bleiben warm und gütig. In dieser Wärme des Herzens ist alle Bitterkeit geschmolzen. Gerade weil sie die Not kennen, erschrecken sie nicht mehr. Ihre Herzen sind offen der Einsicht, dass des Menschen Seele in der Schwere der Prüfung wächst, sofern sie nicht zagt, sondern vertraut.
Selbst der Tod hat für sie alle Schrecknis verloren. In stiller Ergebenheit sitzen sie an Sterbebetten, stumm und mit schier überwachen Sinnen. Letzte Dienste, die sie erweisen, sind dem müden Leib ein Streicheln von Mutter-händen. Ihr Beten ist voller Demut und Kraft und greift über die Grenze alles Irdischen hinüber. Es führt sicher, der Steile des Abgrunds nicht achtend. Tritt aber der Tod an sie selber heran, dann sind sie gefasst. Sie grüssen ihn als ernsten Freund, der ihnen nur den Weiterweg weist.
Zwei Einzelschicksale von Oberhaslern mahnen mich an grosse Eidgenossen. An Hans Waldmann jener impulsive Landammann M... A... aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, von dem man in einem noch nicht vollendeten Spielespricht:
Ein Rätsel bleibt der Landammann. Ich fühl' mich zu ihm hingezogen. Sein Blick ist frei und wohl gewogen. Ich glaube nicht, dass er betrügen kann.
Es ist nach der grossen Pestzeit, welche zwei Drittel der Bevölkerung dahinraffte. Man findet sich wieder bei sechsfacher Hochzeit in ausgelassener Lustbarkeit:
Lasset uns singen ein neues Lied. Öffnet der Freude die Herzen. Dass so mancher von hinnen schied, hat uns bereitet viel Schmerzen. Doch, wer den Toten nur Kränze flicht, sündig dem Leben die Treue bricht.
Lasset uns brechen die Treue nicht.
Nein, wir wollen sie halten, bis uns selber das Auge bricht, bis uns die Hände erkalten.
Dann treten wir vor Gottvaters Gericht:
Haltet die Treue, fürchtet euch nicht I Fürchtet euch nicht vor dem bitteren Tod.
Nur den Leib kann er brechen.
Glaube siegt über letzte Not, süsse Hoffnung lasst sprechen:
Wer auf Erden geliebet hat treu, dem erklinget der Engel Schalmei.
« Der Landammann » von Fritz Ringgenberg. Bed.
Der Landammann tut bei diesem Feste wacker mit. Er spricht dem Weine zu. Ein Ärger macht ihn rauhbauzig; dann tanzt er mit jeder der sechs Bräute ein paar tolle Runden. Das Ende der Hochzeit ist tragisch. In wilder Leidenschaft vergeht sich der Landammann an seiner Stieftochter, stellt sich aber freimütig dem Gerichte der Fünfzehn, das ihn nach dem Gesetze des Todes durch Enthauptung schuldig spricht. Tief bereuend spricht er vom Blutgerüste aus noch zum Volke:
Über dem Lande sollt'ich wachen mit Fleiss und Treue. Ich hab 's schlecht gemacht.
Es kippte mir der eigne Nachen.
Ich habe euch in Schand' gebracht.
Ich kann mit meinem Blut nicht sühnen die Schuld, in der ich euch verbleib '.
An Niklaus von der Flüh jedoch mahnt der Guttanner Gemsjäger Christen Huber, der zur Zeit der grossen Kristallfunde lebte. Er wächst in geordneten bäuerlichen Verhältnissen auf. Die harte, karge Bergwelt, die ihn umgibt, ist seine Erzieherin. Er ist intelligent, vorsichtig, ein trefflicher Schütze und gewandter Schwinger. Sein Sinn ist stark auf die Mehrung irdischen Gutes gerichtet. Auf der Gemsjagd, die er erfolgreich betreibt, versteigt er sich. Zwei Nächte verbringt er auf einem Fluhabsatz. Neben ihm liegt ein menschliches Gerippe und daneben die Flinte eines vor wenig Jahren verschollenen Jägers.
Hier geht er in sich. Wenn er sich anfangs auch wehrt, sich auf seinen untadeligen Lebenswandel beruft, so hält ihm der Tod in unerbittlicher Klarheit den Spiegel tiefster Selbsterkenntnis vor. Am dritten Morgen findet er dann einen Abstieg, nachdem er sich, nach der Legende, mit dem Messer Hand- und Fussballen aufgeschnitten hat. Sein Haar ist schlohweiss geworden. Von einem körperlichen Zusammenbruch genesen, wird er zum Einsiedler, der geistliche Lieder schreibt. Bald suchen die Talbewohner in seelischen Konflikten bei ihm Rat und Trost. Sein Ruf als « Heiliger » dringt über die Grenzen des Landes. Zahlreiche Pilger aus Deutschland besuchen ihn. Weil er der Regierung Treueid und Wehrpflicht aus Gewissensgründen verweigert, wird er nach Bern vor die Religionskammer geladen. Einfach und schlicht verteidigt er sich: seine Rede sei ja und nein; aber Eid schwöre er keinen mehr. Eine Waffe werde er nicht mehr tragen. Dagegen sei er bereit, die Strafe für seinen Ungehorsam gegen die weltliche Obrigkeit auf sich zu nehmen.
Mit wenigen Abänderungen folgen hier drei Strophen eines von ihm gedichteten Liedes, welche besser als lange Beschreibungen seine innige Gott-verbundenheit zeigen:
Liebe, durchdringe mich, Geist erklinge, o, spiele in mir.
Dich, Gott, zu ehren, Dein Lob zu mehren, sei Du in mir!
DAS HASLITAL.
Mach mich stillhalten. Dein'Macht kann spalten den harten Stein. Die Felsen weichen. Du wirst erreichen den Willen Dein.
Ich will mich wenden nach allen Enden, Dir Hand zu sein. Tu'mich erreichen. Ich will nicht weichen, Dir g'horsam seinl Eng sind diese Kreuzträger vom erdnahen Leben des Volkes umschlossen. Es spiegelt sich in der herben, vornehmen Tracht der Frauen, in der Architektur der sonnenschwarzen Holzhäuser mit den blendendweissen Grundmauern, in eigener Sauberkeit und rechtlicher Art. Altes Brauchtum ist noch lebendig. Wir finden es in verbrieften Stiftungen, in Festen der Freude, in Wort und Lied. Weich und fein moduliert ist die Sprache, ohne dabei der Kraft und Würze oder auch der scharfen Träfheit zu entbehren.
Aber lasset uns über altem Volkstum der Gegenwart nicht vergessen. Wenn wir am Amthaus in Meiringen vorübergehen, so staunen wir über die bemalten Giebelflächen der Nord- und Südseite, welche in farbenfrohem Gegensatze Krieg und Frieden darstellen. Der Schöpfer dieser Werke ist derselbe Arnold Brügger, welcher vor kurzer Zeit den Christophorus am alten Kirchturm neu erstehen liess und nebenbei als stets Aktiver das Veteranen-zeichen des S.A.C. trägt. Schier wider seinen Willen ist ein zweiter Oberhasler, Fritz Leuthold, zum wahren « Liedervater » geworden. Seiner grossen Bescheidenheit achtend, wollen wir aber sein Lob nicht weiter treiben, sondern die Probe gleich aufs Exempel antreten. Als solche folgt hier eins seiner Lieder:
Düsler O, dü chohlschwarzi Nacht! Kein Schtär-nen wollt meh drängen grosse Steigerung i i glitz - ren, en Sä - gessen tüöd zwitzren dir die chohlschwarzi ruhiger Nacht, dir die chohlschwar - zi Nacht.
Dadirchi geid myn Wäg. Wind wäiht und Wasser rüüschen. Keina chan mid mer tüüschen. Dadirchi geid myn Wäg.
Tüön du mer Tiren üf, Herrgott! En einzga Schtärnen zindt an mer als Latärnen und tüön mer Tiren üf.
So tritt uns das, was ich als das Ureigene des Tales betrachte, wie in der Natur auch in dahingegangenem und gegenwärtigem Menschentum in blumiger Vielfalt entgegen. Es lässt sich erfühlen, aber nicht voll erfassen. Von irgendwoher brachte der Mensch den Samen. Mütterlich sorgsam trug ihn die Frau von Geschlecht zu Geschlecht. Sie nährte ihn an ihren Brüsten, mit ihrem Blute. In Blühen und Vergehen gab sie ihm alles, sich selber vergessend. Das Los der Frauen bleibet: Zu lieben! Wenn sie fortgehen, gähnt im Haus, ihrem Reiche, die trostlose Leere. Die Umwelt aber vergisst sie.
Es wird Sommer und Winter. Sonnentage, an denen das Bergheu knistert, wechseln mit Sturmnächten, in denen sich die Tannen beugen und winseln. Die Gletscher wachsen und schwinden. Des Menschen Herz schlägt hoch in Freude und schauert zusammen in stummem Erschrecken. Durch Jahrhunderte, Jahrtausende trägt es den Gottesfunken, den es empfangen, ihn in Wort und Tat, in Blick und Gebärde weiterzugeben: Das Leben!
Die Uhrzeiger laufen auf Mitternacht. Vom dunklen Waldrand her strahlt mir die Venus ins Fenster. Rings um das Hüttlein liegt eine anderthalb Meter hohe Schneemauer. Im Gebälke knackt der Frost. Fuchs, Has und Marder treten ihre scheue Spur in den hauchzarten Schnee.
Tief unter mir liegt das Tal, von dem ich geschrieben. Junges Grün wirft sich über Gräber. Auf Kreuzen und Steinen stehen stumm die Namen von Heimgegangenen, Namen von solchen, die die Eigenheit des Tales in sich trugen und lebendig werden liessen: eines Melchior Anderegg, eines Andreas Fischer.
Ein Schleierwölklein webt zwischen den Sternen, unter dem im Lichte des Neumonds unwirklich fern der schlanke Gipfel des Wetterhorns schimmert.
Balisalp, den 14. April 1940.