Bergsteiger-Anekdoten
Hans Bernhard
Wahre Begebenheiten aus den Bündner Bergen erzählt von ( Chur ) Der schnelle Hitsch Die Drusenfluh-Südwand steht auf unserem Programm. Am Freitag-abendhock haben wir im Churer Kletterklub zwei Seilschaften zusammengestellt. Bei der Abfahrt stellte es sich heraus, dass einer unserer Kameraden im letzten Augenblick am Mitkommen verhindert ist. Zu dritt wollen wir nicht an ein Seil. Doch Beny lässt sich nicht in Verlegenheit bringen: aus seiner Aktivdienstzeit im Prätigau kennt er als Wachtmeister viele « geländegängige » Soldaten. Kurz entschlossen geht er in Pany auf die Suche nach einem Seilgefährten. Und siehe da, das Glück lässt ihn auch diesmal nicht im Stich: vor seinem Hause sitzt Hitsch, der kräftige Bauernsohn. Vorerst wackelt er bedächtig mit dem Kopfe, als Beny sein Anliegen vorbringt; denn bis anhin hat er Hanfseile nur zum Festbinden von Heufudern gebraucht. Doch er will seinen Wachtmeister, der ihn nie schickaniert hat, nicht im Stiche lassen und willigt schliesslich ein. Bald darauf erscheint er vor der Haustüre in einem ausgetragenen Sonntags-«Tschöplein », bewehrt mit einem BERGSTEIGER-ANEKDOTEN Hakenstecken und einem rucksackähnlichen Anhängsel, welches ausser einem währschaften « Mocken » Speck und Brot auch ein Paar alte Pantoffeln birgt.
Mit komplettiertem Mannschaftsbestand streben wir nun unserem traulichen Hüttlein auf der Garschina-Furka zu.
Der Aufstieg durch die steile Stösserschlucht geht am folgenden Tag programmgemäss vonstatten. Nach einigen Startschwierigkeiten mit den noch nicht ganz gebirgsgewohnten Pantoffeln, welche lieber das Weite suchen möchten, werden diese mit Schnüren an ihrem Vorhaben verhindert, und mit dem natürlichen Instinkt des Bergbewohners stemmt sich Hitsch die glatten Kamine hinauf.
Der Abstieg soll diesmal über den « Roten Gang » als leichtere Route erfolgen. Wie beim erstmaligen Abstieg über diesen verzwickten Weg üblich, gibt es einen Verhauer, so dass wir über eine nahezu 40 Meter hohe, überhängende Wandstufe des Westgrates abseilen müssen. Als Zweitletzter soll Hitsch in die Tiefe schweben, welcher mit skeptischem Blick unseren ihm fremden Seilmanövern zugeschaut hat. Er nimmt richtigen Dülfersitz und beginnt in die Tiefe zu gleiten. Diese Art der Fortbewegung scheint ihm nicht schlecht zu gefallen. Sein anfängliches Schmunzeln erstirbt jedoch bald auf seinen Lippen und geht in leises Stöhnen über. Offenbar reibt ihn das Seil allzusehr durch die abgetragenen, dünnen Hosen. Noch trennen ihn 10 Meter vom sicheren Boden. Plötzlich gibt Hitsch Schuss und gleitet im Sausetempo zu mir herab. Mit blutenden Fingern und durchgeriebenen Hosen entwindet er sich dem marternden Seil. Auf meine erstaunte Frage, warum er denn in einem solchen Tempo abgeseilt habe, erwidert er treuherzig: « I han gedaicht, es brenn mi eso grad an biz weniger lang! » Die gestörte « Znünipause » Bergführer Stoffel ist im Begriffe, wieder einmal den Piz Palü zu ersteigen. Diesmal führt er eine vornehme englische Dame, welche sich den Luxus leistet, noch einen zweiten Führer mitzunehmen. Bevor der scharfe Gipfelgrat in Angriff genommen wird, gönnt man sich eine kleine Znünipause und setzt sich im Windschatten des Grates zur Rast. Der kleine Führer Uli, welcher schon während des Aufstieges über Bauchgrimmen klagte, hat dringendes Bedürfnis, sich zu erleichtern. Als Mann von guten Sitten hackt er sich auf die andere Seite des Firngrates, um in der steilen Südflanke am Seil gesichert seine Notdurft zu verrichten.
Da plötzlich fegt etwas Weisses über den Grat. Es scheint ein ehemals schneeweisses Papierstück zu sein, welches dem Träger auf der anderen Seite des Grates wohl besonderen Zwecken diente. Im Windschatten angelangt, schaukelt das rechteckige Papierchen vorerst planlos in der Luft herum, um sich dann langsam « à la feuille morte » gegen die englische Dame herabzusenken. Diese ist sich der drohenden Gefahr noch gar nicht bewusst und kaut harmlos ihren Lunch. Bergführer Stoffel versucht verzweifelt, das Unheil mit dem Pickel abzuwehren; doch das heimtückische Papierchen weicht wie ein Schmetterling mit gaukelnden Bewegungen dem in der Luft herum-fuchtelnden Pickelstiel aus und setzt sich ausgerechnet auf den fein säuber- lich auf den Knien der Dame ausgebreiteten Lunch. Eine kurze Schrecksekunde — dann springt die überraschte Engländerin auf und schüttelt voll Ekel ihren Lunch samt dem unangenehmen Störefried in den Schnee. Stoffel will diskret dieses « corpus delicti » entfernen und stochert mit seinem Pickel danach. Doch der durchbohrte Papierfetzen klammert sich so verzweifelt um den Pickelstiel, dass er mit Gewalt wieder abgestreift und zur endgültigen Beseitigung in den Schnee gestampft werden muss.
Bald darauf taucht das harmlos lachende Gesicht des erleichterten Führers Uli über dem Grate auf, der sich gar nicht bewusst ist, was für eine Aufregung er soeben verursacht hat.
Eine Woche später gilt es dem Piz Bernina, wozu wieder ein zweiter Führer engagiert werden soll. Die Engländerin erklärt sich grosszügig wiederum mit dem kleinen Uli einverstanden: « but only when he has no stommy ache! », stellt sie lachend zur Bedingung.
« Duzis » auf dem Kleinen Drusenturm Meinen Bergkameraden Ruedi von Schönenwerd hat es als Assistenzarzt nach Chur verschlagen, und er kommt als « Kandidat » in unseren Kletterklub. Da ich selbst am kommenden Sonntag nicht auf eine Bergtour gehen kann, kopple ich Ruedi mit Ernst zusammen, welcher die Südwand des Kleinen Drusenturms zu durchsteigen beabsichtigt.
Der Aufstieg geht bis zur Schlüsselstelle glatt vonstatten. Ernst, der kräftige Schlosser, führt, und der berggewohnte Doktor kommt rasch und sicher nach. Der kleine Überhang an der Schlüsselstelle drängt stark ab, so dass Ernst als vorsichtiger Kletterer das Bedürfnis verspürt, einen Sicherungshaken zu schlagen. Da ihm die paar wenigen mitgeführten Haken bereits ausgegangen sind, ersucht er seinen Gefährten, ihm den letzten noch verbliebenen « Nagel » am Seil hinaufzugeben. Dieser knüpft denselben umständlich an das Seil und gibt Weisung zum Aufziehen. Doch der Haken kümmert sich wenig um den so raffiniert geknüpften Spezialknoten und hüpft schon nach wenigen Metern klirrend die steile Wand hinab.
Ernst macht seinem Ärger über den Verlust dieses letzten Mohikaners Luft und ruft vom Überhang hinunter: « Hätten Sie nit no a blödera Knopf macha könna, Sie tumma Chaib! » und nimmt nun den Überhang ohne den sichernden Haken. Etwas betreten über seine Ungeschicklichkeit kommt Ruedi nach.
Auf dem Gipfel angelangt herrscht immer noch betretenes Schweigen. Plötzlich gibt der Herr Doktor dem Schlosser die Hand mit den Worten: Ich glaube wir machen besser Duzis: « Du tumma Chaib » tönt viel besser als « Sie tumma Chaib »! Der Bann war gebrochen und lachend schütteln sich die beiden die Hand.
Sie haben seither noch manche gemeinsame Bergfahrt unternommen.
Bergland im Schnee
Ich sagte meinem Herzen: Wag's! Entfloh dem Druck des grauen Tags und stieg empor ins reine Licht. Wie morsche Rinde, Schicht um Schicht, fiel, was mich engte, von mir ab; mein alter Adam sank ins Grab. Ich blieb nicht länger, der ich war. Verjüngt um manches liebe Jahr floss locker mir und leicht das Blut; neu war die Welt und schön und gut!
Die Nebel wallten überm Tal;
doch auf dem Grate hoch und schmal,
auf dem ich stand, war blanke Luft,
erfüllt vom kühlen, herben Duft
des Schnees, weit, wogengleich gewellt
vom Berge, der ihn trägt und hält.
Von Schattenblau und Sonnengold
Erblühte das Gewoge hold.
Ich jauchzte! Und dann wie ein Pfeil
flog ich davon — Skiheil!
Winter im Gebirge
Kristallen wölbt sich über mir die Schale des frühen Himmels, dünn wie Glas; ein Überrest der Nacht liegt noch im Tale, die hohen Berge leuchten wie Topas.
Aus unbestimmter Ferne klingt ein Rauschen zu mir herüber, leis und feierlich. Die Unrast schweigt, wird stilles Lauschen, und aus verborgnem Kern keimt neues Ich.
Von Urkraft und Geheimnis ganz durchdrungen bricht Strahlendes in dunkle Kammern ein, als hätte sich der Schöpfer ausbedungen, für kurze Zeit mein Freund und Gast zu sein.
Emil Schibli