Auf der Westseite der Jungfrau
Von Paul Lauener.
I. Über den Rotbrettgrat.
Was hat wohl so lange die vielen erstbesteigungsdurstigen Bergfahrer vom Gedanken abgehalten, den Jungfraugipfel über die mächtige Nordwand hinauf zu erreichen? Wenn auch der geologische Aufbau des Berges, ja auch nur die blosse Ansicht keine erstklassige Kletterei versprach, so musste doch die während des ganzen Aufstieges zu erwartende Weitsicht in manchem den Wunsch geweckt haben, den Gipfel über diesen mächtigen Absturz zu ersteigen, hatte doch schon Edmund von Fellenberg mit Ulrich Lauener und Melchior Anderegg im Jahre 1863 den Anstoss dazu gegeben. Jedoch schien ihm, wie auch 1887 Seymour King mit Ambros Supersax, der Versuch eines Anstieges über die Nordwand nicht zum Ziele zu führen. Beide erreichten den Hochgrat, welcher vom « Roten Brett » zum Silberhorn hinauf strebt, über die Südwand. Fellenberg kehrte am Fellenbergflühli um, während King dieses, nach der Nordwand ausbiegend, zu umklettern wusste. 1910 wurde der Grat dann von den Führerlosen August Mottet, Franz Müller und Otto Tschanz im Abstieg gemacht.
Im Sommer 1927 hatten Alex Müller und ich den Plan gefasst, den Aufstieg ganz von Norden, unmittelbar vom Trümmletental aus, zu versuchen. Über den Aufstieg waren wir uns so ziemlich klar; nur das erste Stück vom Trümmletental bis hinauf zum ersten Gletscherchen war uns noch schleierhaft. Von Auge konnten wir keinen möglichen Weg finden. Wir hofften, dass die Verhältnisse von nahem besser aussehen würden, als sie von weitem schienen. Die Felsen sind nach Süden einfallende Kalkschichten, was für gute Griffe spricht. Steil ist es zweifellos, aber gute Griffe gleichen die Steilheit aus. Es war Mitte Juli. Wir hatten es eilig, denn zum Abwarten in Wengen fehlte uns die Zeit. Da trat schlechtes Wetter ein. Also blieb das Problem ungelöst — für uns; denn eines Abends las ich in der Soldatenstube zu Bière, dass der Aufstieg über den Rotbrettgrat von den Gebrüdern Ernst und Eduard Gertsch mit dem Führer Fritz Fuchs am 24. August 1926 gemacht worden sei. Sie hatten es also auch « erlickt ». Alex und ich mussten warten, bis es wieder Sommer wurde.
Ende Juli 1928. Ein Glanztag lag über dem Tal, und am tiefblauen Himmel schwebten schneeweisse Wölklein. Man hatte so recht das Gefühl, nie mehr könne es einen düstern, langweiligen Regentag geben. Es war etwas nach Mittag. Alex und ich rannten im ganzen Hause herum, um die nötigsten Sachen zusammenzutragen. Die Säcke waren schon überschwer, aber der eine fand noch das zum Gelingen wesentlich, der andere jenes; zuletzt jedoch musste allerlei ausgeschieden werden.
Durch grüne, duftige Matten stiegen wir der Jungfrau zu. Es war nicht zu heiss. Der Spazierweg zur Mettlenalp ermunterte zu Taten. Viele freude- strahlende Gesichter zogen an uns vorüber, und aus manchem konnten wir lesen: « Wo wein ächt söttig hin? » — Gegend Abend schritten wir an der friedlichen Mettlenalp vorbei, stiegen hinab in die « Bigla » und sammelten einige Thymian- und Alpenrosenblüten, dazu ein paar Wacholderzweige, um uns mit einem Kräuterteelein beim Sternenschein in der Rotbrettlücke den voraussichtlichen Durst zu löschen.
Weiter über den Zug der Chüelaui hinüber in die mit hohem Gras bewachsenen « Setz ». Schon sahen wir über uns der Felswand nach die Gemsen ziehen. Sie waren also nicht drüben in unserer Aufstiegslinie und konnten uns somit nicht steinigen. Jetzt noch über die Giessenlaui, und dann konnten wir einsteigen. Wir merkten bald, dass wir den Gemspfaden nach am besten vorwärts kamen. Die Sicherheit verlangte das Seil. Gute Griffe erleichterten das steile Steigen. Oft gab es etwas luftige Stellen. Aber immer wieder fanden wir schöne « Ohren », so dass wir mit verhältnismässig geringer Anstrengung rasch an Höhe gewannen. Nach etwa einer Stunde Klettern gelangten wir zu einer Platte. Über diese mussten wir hoch kommen. Den Gemsen konnten wir an dieser Stelle nicht folgen. Sie springen hier über einen fast senkrechten, vorstehenden Kopf hinauf und hinab, ohne vom Blick in die gähnende Tiefe der « Lamm » gehemmt zu werden. Alex schob sich zuerst über die Platte hoch, zog die beiden Säcke nach, ich folgte. Die Griffe waren hier etwas spärlich, aber doch ausreichend.
Nach der Platte lud uns ein schönes Grasbödeli zu einer Rast ein. Hier konnten wir zum ersten Male die Aussicht bewundern. Schon sahen wir über das Tal hinweg ins weite Land hinaus bis zum fernen blauen Jura. Die Sonne ging bald unter. Über den Talsohlen schlichen dünne Nebel. Da wir Wengen etwas spät verlassen hatten, konnten wir nicht zu lange rasten, denn noch ein gutes Stück Weges bis hinauf in die Lücke harrte unser. Von einem Grasband zum andern, immer wieder eine neue Stufe. Hier grünt so viel Gras, dass die Wengener tagelang ihre Geissen weiden könnten. Nun standen wir aber auf dem letzten Absatz. Die « Setz » bei gutem Wetter zu erklettern ist ein Genuss, bei schlechtem mag es weniger gemütlich sein.
Plötzlich hörten wir einen zischenden Pfiff, und schon stob ein halbes Dutzend Gemsen nach dem Schwarzen Mönch hinüber. Wir standen vor dem Gletscherli. Soviel ich weiss, trägt es noch keinen Namen. Um die Randspalten und Eisblöcke zu umgehen, hielten wir zuerst stark links. Ohne Seil kamen wir auf hartem Schnee rasch voran. Es war Nacht geworden. Nur die höchsten Gipfel trugen noch blasses Licht. Vorberge und Täler lagen unter einem feinen Schleier, durch den von überall her Lichter blinzelten. Aus der Tiefe herauf hörten wir das Rauschen des Trümmelbaches. Unsere Nägel knackten das körnige Eis. Sonst nichts — alles still. Wir stiegen leicht in der frischen Nachtluft. Bald standen wir im obersten Steingeriesel und schauten plötzlich über die Lücke hinweg Breit- und Tschingelhorn. Es war halbzehn.
Nun mussten wir einen Lagerplatz suchen. Ernst Gertsch hatte mir die Stelle genau angegeben. Und es ging nicht lange, so entdeckten wir die Balm auf der hintern Seite des Schwarzen Mönchs, wo wir auch tatsächlich noch sechs Salzsäcke der Partie Gertsch-Fuchs fanden. Sie waren zwar ziem- lieh nass, aber den Nachtwind hielten sie doch gut ab. Alex mauerte die Höhle nach aussen zu, und ich holte von der andern Seite der Lücke Wasser, kochte eine Suppe und viel Alpenkräutertee. Bevor wir uns verkrochen, gingen wir noch einmal hinab in den Sattel, um ins Tal zu schauen. Tausend Lichtlein funkelten uns von allen Seiten entgegen. Wir sahen keine scharf umrissenen Formen mehr; die Dunkelheit hatte alles zugedeckt... Eine Nacht, die man erlebt haben muss, um zu wissen, wie schön es ist, hoch über dem Tale, weit und breit allein in den Felsen unter sternklarem Himmel zu sitzen.
Trotzdem das Lager recht abschüssig war, schliefen wir ganz leidlich. Um 5 Uhr nahmen wir die Säcke auf. Der neue Tag hatte die Lichter im Tal schon ausgelöscht. Am Seil brauchten wir einstweilen noch nicht zu gehen. Zuerst stiegen wir wie über eine zerfallene Treppe ganz in die Nordseite ein. Rasch kamen wir höher, aber bald waren alle Felsen mit einer glatten Eisschicht überzogen. Tritt für Tritt musste abgekratzt werden, eine etwas mühsame Arbeit, weil das Eis fest mit dem Fels verbacken war. Durch Risse, über Absätze schoben wir uns hinauf. Mitunter überraschte uns leichter Steinschlag. Wir hielten daher mehr rechts. Auf einmal drängte uns ein Band wieder nach links. Dann konnten wir wieder so weit rechts ausholen, bis die vereisten Steine endlich aufhörten, denn das von dem höherliegenden Gletscherchen herunterfliessende Wasser kommt hier nicht mehr hin. Wir näherten uns langsam einer etwa 50 m hohen Wand. Diese konnten wir weder erklettern noch nach rechts umgehen. Sie zwang uns, über ein sehr abschüssiges Band nach links zu queren. Glücklicherweise hatten wir uns schon weiter unten angeseilt. In steilem Geröll steht man schlecht. An der Wand waren keine Griffe zu finden. Im Sprung mussten wir hinüber, damit wir weg waren, bevor das Geröll unter den Füssen abrutschte. Nach 30 m solchen Turnens betraten wir wieder Eis. Das gefiel uns bedeutend besser. Obschon das Eis splitterte, brachten wir mit der nötigen Geduld Stufen zuwege.
Wir standen nun vor einem stark überhängenden Felskopf und konnten nicht feststellen, ob er zu umgehen wäre. Wir entschlossen uns, ihn zu überklettern. Der Stein ist faul. Alex zog die Kletterfinken an. Ich sicherte ihn an einem eingeschlagenen Nagel. Fluchend suchte er nach tragfesten Griffen. Es ging. Bald verschwand er hinter dem Vorsprung. Wie aus weiter Ferne hörte ich ihn rufen: « Es geit guet wyter. » Das war natürlich angenehm. Nun kam das Übelste — die Säcke. Ich musste mit ihnen ein Stück hoch klettern. Dann wollte sie Alex hissen. Überall hielten sie sich an spitzen Steinen fest. Ein Unding, diese Säcke! Endlich waren sie oben. Nun musste auch ich vollends hinauf. Wir ruhten auf einem schönen Vorsprung etwas aus. Eben guckte die Sonne auf der Nordrippe des Silberhorns zu uns herüber. Welch ein Morgen hier oben! Wir genossen ein Weilchen seinen strahlenden Glanz und den Blick in Tiefen und Ferne; bis jetzt hatten wir dazu keine Zeit gehabt.
Bevor wir weiter schritten, schauten wir noch einmal den überkletterten Kopf hinab und sahen, dass wir ihn hätten umgehen können, allerdings nur mit Hackarbeit. Wir konnten dem eigentlichen Grat nicht mehr fern sein, denn tief unter uns lag die Rotbrettlücke. Durch Rinnen und über hohe Stufen stiegen wir dem Grate zu. Die Pickel brauchten wir dazu nicht und verstauten sie daher unter dem Rucksackdeckel. Der Grat selbst war noch nicht zu sehen. Am Silberhorn konnten wir unsere Höhe ziemlich gut abschätzen. Wieder galt es, eine hohe Stufe zu überwinden durch eine Art Kamin, welches oben in einem Riss endet. Einer nach dem andern zwängten wir uns hinauf... Da höre ich den Schrei meines Pickels und sehe ihn noch in hohem Sprung in der Tiefe verschwinden. An ein Wiedersehen ist nicht zu denken. Armer Bergsteiger ohne PickelWir hatten zur Not noch einen kleinen Handpickel. Hackerei war nicht mehr viel zu erwarten. Also weiter. Stufe — Riss — Rinne — Stufe... Oft mussten wir uns vor Steinschlag ducken, denn der Wind brachte oben am Grat lockere Steine ins Rollen.
Um 10 Uhr erreichten wir den Westgrat und waren froh, dass endlich der Steinschlag aufhörte. Wir kamen zu einer schönen Balm und setzten uns hin, das ganze Lauterbrunnental vor uns in der Tiefe. Hier wäre ein Freilager bei warmem Wetter ein Hochgenuss. Eine Höhle würde sogar bei Unwetter guten Schutz bieten. Wir folgten nun beständig dem Grate, nur zwei-, dreimal drängten uns senkrechte Stufen in die Nordseite. Auf eines waren wir beide gespannt: auf das Fellenbergflühli! Es konnte nicht mehr weit sein.
Um 11 Uhr standen wir auf der Schulter; etwa 30 m von uns winkte das Fellenbergflühli. Warm schien die Sonne. Wir standen auf dem recht schmalen Rotbrettgrat. Am schroffsten ist die Wand nach dem Rottal hin, fast senkrecht, mit ein paar vorspringenden Felsköpfen. Gegenüber die Riesenwände von der Ebnefluh bis zum Lauterbrunner Breithorn, im Westen umbiegend zum trotzigen Gspaltenhorn und dem rauhen Tschingelgrat. Wir standen am Rand dieses ungeheuren Kessels. Gegen Norden verliert sich der Blick im Unendlichen. Nichts, das ihn aufhält. Im bläulichen Dunst zeichnet sich der langlinige Jura leise ab. Vogesen und Schwarzwald sind heute nicht zu sehen. Nach Osten sehen wir über einen messerscharfen Grat hinauf zum First des Silberhorns. Von hier aus ist es kein Zuckerstock mehr, es ist ein weisses Dach.
Nach einer Stunde Rast griffen wir voller Erwartung die Tücken des Fellenbergflühli an. Durch die Nordflanke konnte es dieses Jahr unmöglich umgangen werden, denn das Eis schmiegte sich senkrecht an das Flühli. King und seine beiden Führer waren seinerzeit hier durchgekommen. Auch die Südseite, wo die Gertsch und Fuchs einen Weg gefunden, schien uns unsicher. Unmittelbar hinaufklettern konnten wir auch nicht, der Fels ist zu stark überhängend. Am besten lässt sich die Stelle mit einem Knie vergleichen.
Unter dem Flühli entdeckten wir plötzlich die langgehalste, braune Flasche Fellenbergs. Über sechzig Jahre hatte sie nun schon ausgeruht. Ja, ja, damals wusste man einen guten Tropfen noch zu schätzen. Heute findet man es überlebt und trinkt kalten TeeBald sahen wir noch etwas:
im Eis stand eine Haselrute. Das Holz hatte das Eis etwas geschmolzen, und durch die Erweiterung konnten wir am Ende der Rute ein rotes Tuch sehen. Sicherlich einmal eine aufgepflanzte Gipfelfahne 1 ). Von wem sie wohl sein mag? Sie sass so tief im Eis, dass wir sie nicht herausziehen konnten.
Nun mussten wir aber ans Hinaufkommen denken. Ein Seilwurf schien uns die beste Lösung zu sein. Mit einem an eine lange Reepschnur gebundenen Stein wollten wir versuchen, die Schnur über das « Knie » zu werfen, um dann das Seil nachzuziehen. Alex hielt mich am Seil, und ich stellte mich an die Nordseite. Nach einigem Schwingen werfe ich den Stein hoch... Er fliegt über das 6 m hohe Flühli weg, rollt aber samt der Schnur über die Platte herunter. Ich versuche es wieder, aber mit dem gleichen Erfolg. Jetzt versucht es Alex, und ich sichere ihn. Zweimal prallt der Stein zurück. Der dritte Wurf ist gerade hoch genug, dass der Stein oben liegen bleibt. Das muss ausgenutzt werden. Mit einem faustgrossen Stein werfe ich nach dem oben auf der Platte und — treffe! Glück muss man haben. Der angeseilte Stein rollt nach rechts etwas herunter und bleibt liegen. Schon bedeutend aussichtsreicher. Ich werfe wieder und habe zum zweitenmal Glück. Der Stein mit der Schnur rollt noch mehr nach rechts und hängt nun an der Schnur. Sorgfältig wirft Alex am andern Schnurende ein paar Wellen hoch, und der Stein rutscht langsam herab. Ich kann ihn schon erreichen. Nun muss die Schnur noch mehr nach rechts in einen kleinen Riss geworfen werden, und wir können das dicke Seil hochziehen. Es geht glänzend. Ich setze mich rechts auf ein etwas erhöht gelegenes Absätzchen, Alex bindet sich an, zieht am Seil, ich halte fest... es hält! Jetzt kommt erst der grosse Augenblick. Alex ruft: « Fest! » Ich halte und fühle am Seil, wie er sich hochzieht. Plötzlich guckt er von oben herab und sagt: « Salü! » Wir schauen uns voll Freude an. Nun kommen die Säcke und der Pickel an die Reihe. Die sind bald oben. Dann folge ich. Alex hat das Seil an einem eingeschlagenen Nagel festgemacht, sichert mich mit dem zweiten Seilende, und in kurzer Zeit stehe auch ich oben. Wir haben für das ganze Manöver 25 Minuten gebraucht. Man muss dem Glück Gelegenheit bieten, einem helfen zu können.
Wir zogen nun dem scharfen Grat entlang. Ein angenehmer Wind hielt uns frisch. Wir kamen leicht und schnell vorwärts. Schon 130 Uhr standen wir auf dem Goldenhorn. Hier hielten wir an, es hatte keine Eile mehr. Bei dem herrlichen Wetter kam es uns nicht darauf an, ob wir das Jungfraujoch bei Tag oder nachts erreichten. Der weitere Aufstieg lag ja klar vor uns. Bis zum Silberhorn hatten wir noch eine etwas ergiebige Schneefläche zu durchwaten. Am Beginn des Silbergrätiis legten wir die Säcke ab und gingen den First nach vorne, um auf Wengen hinab zu schauen. Etwas Schöneres kann es nicht geben: Man steht hier zwischen Himmel und Erde, mehr im Himmel als auf der Erde.
Die Uberquerung des Silbergrätiis machte uns viel Freude. Es kam uns vor, als spielten wir Versteckens. Bald verschwand einer hinter einem Gratzahn, bald tauchte er wieder auf der Messerschneide auf. Nach etwa einer Stunde Kletterei legten wir die Steigeisen an. Von einer Guggipartie her hatte es noch Spuren. In diesen stampften wir nun langsam dem Jungfraugipfel zu und betraten ihn abends 1930 Uhr. Rotglühend versank die Sonne am Horizont und malte mit ihren letzten Strahlen alle Gipfel purpurrot. Es ist noch viel schöner selber darin zu stehen, als das Naturschauspiel vom Tal aus zu bewundern.
Kalt und bissig pfiff der Nachtwind über die Gräte. Wir hielten es trotz der Pracht auf dem Gipfel nicht lange aus und waren froh, als wir den Rottalsattel erreichten. Von hier an gingen wir wieder im Windschatten.
Als die Nacht schon heraufgestiegen war, betraten wir um 21 Uhr das Berghaus auf Jungfraujoch.
II. Die Silberhornrippe.
Seit unserer Rotbrettwanderung waren vierzehn Tage verstrichen. Das schöne Wetter hielt an. Man durfte Bergfahrten unternehmen, die in andern Jahren Bedenken machen.
Ernst Gertsch und ich sassen in der gestossen vollen Wengernalpbahn. Durch die Tannen schaute das in der Mittagsonne glänzende Silberhorn auf uns herab. Gegen 3 Uhr fuhr der Zug in der Alp ein, und wir waren froh, auszusteigen. Unterhalb der Bahnlinie setzten wir uns für einige Minuten hin und überschauten noch einmal unsern Aufstieg. Bis hoch hinauf war die Rippe frei von Eis.
Auf meinem Sacke ruhte ein Bündel Holz, das sollte am Abend ein schönes Lagerfeuerlein werden. Wieder zogen wir hinab in die « Bigla », über den weissschäumenden, tosenden Trümmelbach und zum Lauizug des « Guggi ». Die Sonne brannte uns fast Löcher durch den Hut. Unter dem Absturz des Giessengletscher bereiteten wir uns einen Trank in die Feldflasche und erkletterten dann die « Setz ». Heute gingen wir weit hinauf ohne Seil. Nur hie und da zogen wir die Säcke daran hoch. Schliesslich banden wir auch uns daran. Bald standen wir vor der grossen Platte. Wie man sie überklettert, wussten wir nun und konnten uns bald in der mit Gras und Moos weich ausgepolsterten Mulde darüber ausruhen. Die Sonne stand noch hoch am Himmel. Da wir den Weiterweg bis zum Freilager kannten, brauchten wir nicht zu eilen. Noch lange vor Sonnenuntergang standen wir auf dem grossen Vorsprung unter dem Gletscherchen. Hier ist eine kleine Höhle. Darin wollten wir nächtigen. Zuvor schmückten wir den Hut mit Edelweiss, das hier wie auf einer Kuhweide gedeiht. Dann richteten wir den Unterschlupf recht bequem ein und erwarteten die Nacht. Uns ist so wohl. Als es kühler wurde, loderte und knisterte bald ein Feuerchen. Ernst war gar nicht entzückt davon; es gab ihm zuviel Rauch. Er wurde sogar unleidig, und es blieb nichts anderes übrig, als das fröhliche Feuer zu löschen...
Morgens 3 Uhr. Noch war es Nacht, aber am Eiger vorbei sahen wir im Osten den Himmel heller werden. Am Eigergletscher brannten auch schon Lichter. Wir hielten unser Frühmahl, schichteten das übrig gebliebene Holz dicht an die Wand, liessen den Kocher mit andern für den Aufstieg nur lästigen Gegenständen zurück und machten uns auf den Weg.
Über den Rand des Gletscherchens schlugen wir Stufen. Dann ging es bei Laternenschein ohne Mühe weiter. Oben beim Übergang in die Felsen hielten wir nun diesmal links, um unmittelbar auf die Rippe einzusteigen. Wir zogen über ein schräg nach Osten laufendes Felsband weiter. Der Fels war durch Eis und Wasser glatt gewaschen, aber schön trocken.
Es wurde Tag. Silbern überflutete Licht den Himmel und erhellte Rerge und Täler. Die schleichenden Nachtnebel zerflossen langsam.
Wir standen unten vor der Rippe, mussten sie aber einer senkrechten Wand wegen von links zu erreichen suchen. Unser Felsband endete hier in einem glasharten Eishang. Ernst setzte sich auf die Moräne; ich hackte. Meine Arbeit schien ihn nicht zu beschäftigen, sondern eher zu langweilen, er schlief ein... Endlich rief er: « Bist bald drüben? » Und folgte mir nach, recht froh, bald wieder auf Felsen gehen zu können. Von hier wandten wir uns nach rechts der Rippe zu. Mächtig wuchtete über uns die gewölbte Flanke zum Silberhorngipfel auf. Wie eine Säge hob sich die Rippe vom Himmel ab. Es galt noch ein gutes Stück in hartem Schnee steigen, bis wir sie erreichten. Der Steilheit wegen waren gute Stufen nötig. Mitunter überraschten uns Eis-und Schneestücke, die den Hang herunter sausten. Wir hielten es daher für besser, wagrecht in die Felsen hinüber zu queren. Hier ging es nun ganz gut. Der Stein war zwar oft recht locker, aber man konnte doch gut stehen. Bald wurde er etwas platt, und wir wechselten die Schuhe mit den Kletterfinken. Es kam aber nicht, wie wir erwartet hatten. Spitze Steine und Kanten drückten uns durch die Sohlen, dass wir lieber wieder auf Leder und Nägeln gingen. Nicht selten mussten wir den Weg von losem Gestein säubern. In mächtigen Sätzen sprangen dann die oft nicht kleinen Brocken die Platten hinunter, um tief unter uns in tausend Stücke knallend zu zer-spritzen. Wir hatten unsere helle Freude daran.
Jetzt erreichten wir, stets mit allen Vieren uns stützend, die eigentliche Rippe und sahen nun auch über die westliche Flanke hinab. Sie zu begehen, müsste viele Mühe machen, weil hohe Absätze mit schuttigen Bändern wechseln. Die Rippe sieht ähnlich aus. Zähne und Lücken lösen sich ab. Sorgfältig wählten wir die Griffe. Einmal geschah es sogar, dass ein kleiner Turm, über den ich mich hochziehen wollte, in sich zusammenbrach. Dem Kameraden, der dicht hinter mir ging, rutschte ein Stück Platte über die linke Schulter. Mit einem urchigen, von Herzen kommenden Liedlein tat er mir seine Gefühle kund. Das wirkte sehr erleichternd.
Jetzt standen wir vor einem etwa 10 m hohen Kamin. Vielleicht kann man es rechts oder links umgehen, es ist aber schlecht zu übersehen. Wir zogen daher vor, direkt hoch zu kommen. Ich versuchte es zuerst mit angehängtem Rucksack, sah aber bald, dass es zuoberst so nicht gehen würde, weil man über ein schmales Band kriechen muss, welches von einem überhängenden Kopf stark überdeckt ist. Also ging ich wieder zurück, legte den Sack ab und griff von neuem an. Diesmal mit Erfolg. Beim Hochziehen der Säcke sträubten sich diese wieder allenthalben. Sie sind einfach eine Plage, und doch liebt man sie sehr.
Wir standen nun wieder frei auf der Rippe und sahen auch bereits an den Schnee hinauf. Schnurgerade zieht das Egg empor, um sich unter der weissen Silberhornkappe zu verlieren. Eigentlich war es ein ganz luftiger Aufstieg. Bevor wir uns an das letzte Stück Felsen machten, hielten wir eine erste längere Rast mit zweitem Frühstück. Die Aussicht war wieder ohnegleichen. Vor uns das offene, weite Land, tief unten das Trümmletental.
Von nun an ist das Gestein tief schwarz, ein festes Gemenge von faustgrossen, kantigen Stücken. Überall fanden wir gute Griffe und kamen daher schnell voran. Wir hatten uns zwar in der Länge des letzten Teiles der Rippe getäuscht. Weil wir sie in der Projektion sahen, schien sie uns viel kürzer zu sein. Lange vor Mittag betraten wir den Eisrücken, welcher bis zum Gipfel hinauf zieht. Ernst schnallte die Eisen an. Meine hatte ich unten gelassen. Zuerst schlug der Kamerad einige Stufen. Bald fanden wir aber hart neben der Kante einen schmalen Riss. Der Wind hatte ihn mit körnigem Schnee vollgeblasen, so dass sich mühelos Stufen darein treten liessen. Besser hätten wir es nicht treffen können. Schon nach 1 Uhr gewannen wir den First des Silberhorns.
Der Weiterweg war nun wieder derselbe wie vor vierzehn Tagen. Das Silbergrätli machte uns viel Freude, und der Hochfirn war wieder unheimlich lang. Gegen 5 Uhr standen wir auf dem Jungfraugipfel... Der letzte Abendzug trug uns vom Jungfraujoch nach dem Eigergletscher hinab.
Auf der Wengernalp erzählte uns der Fernrohrmann unsere sämtlichen Erlebnisse und bemerkte dann witzig und erfreut: « Ich han es paar Portione verchouft. »Seit diesen Fahrten ist es nun ein gutes Jahr her. Vor kurzem ging mir die Nachricht zu, dass in der Rotbrettlücke ein Hüttli erstellt werden solle, ein Gegenstück zur Mittellegihütte am Eiger. Der Zugang wird freilich kein gewöhnlicher sein: steil, luftig und abwechslungsreich. Die Aufstiege zur Jungfrau sind etwas lang, und im untersten Teil ist das Gestein faul. Aber einzigartig und ein schönes Erlebnis werden die Bergfahrten in der Westflanke der Jungfrau immer sein.