Alpine Musik
Wenn man zur Seltenheit einmal Berge in Zusammenhang brachte mit Musik, so war es für mich stets eine heimliche Belustigung zu sehen, mit welchen Augen man das Thema betrachtete. Es schien mir, als ob der — den Bergen anscheinend gänzlich ferne stehende — Betrachter den Alpinismus in seiner tiefern Bedeutung einmal mehr gänzlich verkenne und dass auch die Musik, dieses herrliche Gebiet ohne Grenzen des Reichtums, eine recht ärmliche Sache würde, im Gegensatz zu meinem Glauben und dem bessern Wissen, das ich in mir fühle.
Sicherlich ist es etwas Ungewohntes, vielleicht ein Wagnis, eine höchste Kunstform, die es gibt, in den Grenzen eines Verhältnisses zu betrachten, das scheinbar eine Angelegenheit ist zwischen menschlichem Körper und irgendwelchen Gesteinsformationen, die der Zufall da im Süden unserer Städte aufstaffelte. Gibt man aber dem Bergsteigen seinen geistigen Teil und betrachtet man es unter dem Winkel, der es zum vollen Begriff des Alpinismus erhöht, der allein diese Angelegenheit der Rede wert macht, so können gewisse Beziehungen nicht verborgen bleiben, die ganz im Untergrund zwischen einer bestimmten Art Musik und unserm Bergsteigen bestehen. Und für den, dem Berge und Musik zum Leben wesentlich sind, für den ist es eine unendliche Erhöhung des Lebensgefühles und eine Bereicherung des Daseins, zwei anscheinend grundverschiedene Äusserungsformen des nach Licht ringenden Menschen als gleich gerichtet zu erkennen und so lähmende Zersplitterung zur Einheit zu bringen.
Voraussetzung ist freilich, dass man das, was Fülle und Reichtum ist, nicht nur in den Formen, sondern auch in den rein menschlichen Ursachen — und dies hier wie dort — von einem Standpunkt aus betrachtet, der einigermassen einen Überblick gewährleistet. War er das, wenn man bisher unter alpiner Musik eine — Alphornmelodie verstand? Alphornmelodien sind indessen, wie man uns hier schon versicherte, der reinste Ausdruck alpiner Musik. Das ist ungefähr dasselbe, wenn man behaupten wollte, Alpwirtschaft sei der reinste Ausdruck des Alpinismus!
Die Fragestellung, von der man bislang ausging, war falsch und musste daher ungenügende Resultate bringen. Man wollte über Musik in den Bergen reden. Musik lässt sich indessen nicht im zufälligen Rahmen ihrer örtlichen Ausübung erklären; wo sie es gleichwohl tut, ist sie untergeordneter Bedeutung. Eine Musik, die uns hier nichts angehen kann, wo daran mitgearbeitet werden soll, zwischen dem Alpinismus und « dem übrigen Leben » jene Grenzen nieder-zureissen, die, weil künstlich, der alpinen Sache die besten Kräfte verwehren und sie zu einer Angelegenheit stempeln, wo der feiner empfindende Mensch seine eigenen Wege geht oder die er aus der Ferne belächelt. Wo es sich darum handelt, auf die längst gefühlten, aber stets negierten Zusammenhänge hinzuweisen, die den Alpinismus zu dem erhöhen, was er in Tat und Wahrheit ALPINE MUSIK.
ist: eine Reaktion gegen die sich versteinernde Zivilisation der Stadt, als ein Kulturphänomen wie die Musik auch.
Freilich, die Einbildung, eine solche Vertiefung könnte auf dem Wege von Zeitungsartikeln oder durch die alpine Literatur überhaupt erreicht werden, wäre ein müssiges Phanton. Eine solche Vertiefung steht im Gegenteil durchaus beim einzelnen, in seinen Erkenntnissen und Handlungen und darüber hinaus bei seinem Schicksal und demjenigen der Zeitepoche, der er angehört. Aber gibt nicht allein das dem Leben etwas wie einen Sinn, den einmal eingeschlagenen Weg zu Ende zu führen ( wer möchte ihn segnen ?), nach dem Wachsein zu streben und im Kleinen zwar, aber doch Wesentlichen, teilzunehmen an all den geheimnisvollen Äusserungen und Veränderungen des Daseins?
Die Bedeutung, die der Musik als Kulturphänomen zukommt, steht längst fest. Die Musik ist anerkannt eine der grossartigsten Ausdrucksformen, die je ein Zeitalter, wann und wo es immer sein mochte, hervorgebracht hat. Den Alpinismus einmal im Rahmen des Weltbildes gewürdigt zu sehen, ist ein Wunsch, der unzertrennlich ist von meinem Verhältnis zu den Bergen.
Es muss wieder einmal festgestellt werden: die Berge sind hoch, höher aber gehen Sehnsucht und Wollen der menschlichen Seele. Sie hat nicht die Gipfel aufgetürmt, aber sich in gewaltigen Akkorden über sie hinausgeschwungen und, wenn sie je auf ihren Gipfeln singt, ist ihr Sang den Bergen ein Höhenlied. Von alpiner Musik reden, heisst von Musik und Bergen reden und nicht von Bergen und Musik, selbst nicht in einer alpinen Zeitschrift. Erkennen wir das in aller Bescheidenheit. Die Berge sind unser Instrument, sind das Mittel. Sie sind aber nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist das, was wir hineintragen. Das kann nicht genug betont werden, wenn man immer noch den Inhalt ganz zugunsten der Form zurückstellt.
Daher geht es uns auch rein nichts an, wenn die guten Leute, die auf den Bergen wohnen, am Sonntag etwa beim Klange von Ziehharmonika und Klarinette ihren braven Kreuzpolka tanzen. Und wir haben niemand zu danken, wann und wie wir in den Bergen auch immer Musik hören mögen. Die Musik, die uns dort etwas sein kann, müssen wir in uns selbst tragen, so gut wie wir in der Stadt von den Bergen in anderer Weise abhängig sind als durch unser Auge. Es gibt ein inneres Schauen und Hören...
Es ist nicht selten, dass ich vor die Frage gestellt werde: Bergsteigen oder Musizieren, Berge oder Musik? Wenn ich einen Flügel hätte, würde ich sicher meinen Pickel neben ihn in die Ecke lehnen. Könnte man sich leicht eine innigere Freundschaft denken? Ich hätte sie beide gleich lieb und entschiede mich nur schwer für das eine oder andere. Ist es nicht so, dass man in den Bergen leicht die vollkommenste Musik hören kann? Und lässt sich vor dem Klavier oder im Konzertsaal nicht die schönste Berglandschaft erträumen?
Fest steht das Eine: ich muss mich befreien aus dem Alltag, muss mich irgendwie emporschaffen, muss steigen. Es ist sonst einfach nicht mehr auszuhalten. Es sind da diese verdammten Tage in der Stadt, wo mit mir selber nicht mehr auszukommen ist, wo es mir bis an den Hals und höher steigt, dass mein Leben so ganz anders ist, als es sein könnte. Dass ich nicht tue, was ich tun sollte und könnte, sondern dass Alles von ihrer Majestät, dem Herrn«Es », regiert wird. Dass dieser Herr weder zu erkennen noch zu erfassen ist, dass « Es » einen weder zugrunde gehen, noch die Welt umkrempeln lässt. Und sich vor alle Ziele stellt, um, wenn man in toller Wut auf diesen Spielverderber schiessen möchte, mit höflicher Verbeugung zur Seite zu treten und die dahinter stehenden Ziele durchlöchern zu lassen. Lebwohl, das nächste Mal wieder...
Ja, da ist dieses Leben, über das zu bestimmen doch dem « Ich » als recht-massigem Eigentümer allein zukommt und das ganz von selbst seinen Weg einschlägt, den « sichern, goldenen Mittelweg ». Du, der Du das liesest, bist sicherlich auch so ein Lebenskünstler, Du müsstest nichts mit den Bergen zu tun haben.
Diesem ganz unerträglichen Lebensaspekt für einmal ein Ende zu machen, gibt es viele Wege. Ich spiele mir daher eins auf den Tasten vor. Oder ergehe mich in den Bergen. Nein, ich sehe da keinen grundlegenden Unterschied. Ausschlaggebend ist allenfalls — das Wetter.
Für eine typische Bergfahrt, nehmt alles nur in allem, ist die skizzierte Stimmung die Grundlage. Sie ist im Prinzip immer vorhanden. Man hat schöne Worte gemacht von der Gemeinsamkeit der Bergsteiger. Da liegt sie, unsere Gemeinsamkeit und nirgends anders! Eine gewisse Menschensorte, mit der übrigens nicht auszukommen ist, belegt sie mit dem perfiden Wort « Hemmungen ». Ich ziehe den alten, guten Ausdruck « Leid » vor. Eine Hemmung ist eine Krankheit. Das Leid ist die tiefste Angelegenheit der Seele. Es ist das, was uns in die Berge treibt.
Es ist auch das Leid allein, das in tausend schmerzvollen Einsamkeiten diejenige Musik gebar, die dem Bergsteiger wahrhaft wahlverwandt ist. Erkennen — und nicht verwirklichen können. Lieben müssen und nicht lieben können. Glücklich sein wollen und des Glückes nicht fähig sein können. Und über allem die dumpfe, uralte Weltangstfrage: Warum?
Hören wir Musik, die in diesem Zeichen erstanden ist, fühlen wir in tiefer Erschütterung wahlverwandte Sprache, wir fühlen das Du. Nicht ist unsere Einsamkeit, unser Leid ausgelöscht, aber es trifft sich in weiter Ferne, in der Harmonie eines Akkordes, in der Linie eines Motivs, mit der Einsamkeit eines andern. Ist das nicht der höhere Sinn alles gemeinsamen Wanderns?
Daher ist die alpine Musik die Musik, die mit uns, dem faustischen Menschen, entstanden ist. Es ist die tragische Musik, und darin ist sie unzertrennbar mit dem Grundgedanken des Alpinismus verbunden. Diese alpine Musik trägt als Hauptzeichen: Monumentalität in Ausmass und Form, Grundstimmung auf Moll. Mögen da noch so viele Lichter sein, immer wieder schatten Wolken, wechseln Dynamik und Harmonie. Die alpine Musik ist eine seelische Berglandschaft, gleichzeitig aber auch Bergsteiger und Tat. Aus der Welt des sinnlichen Lichtes herausgelöst, gewährt sie jene Erfüllung, die der Musik als höchster Kunst allein zukommt. Sie löscht das Dasein und bringt damit das Leid in eine höhere Umwelt, wo es nicht mehr lastet.
Je grösser und vielgestaltiger der Klangkörper, um so leichter erfolgt diese Lösung. Da wäre die Orgel, das königlichste unter den Instrumenten. Sie steht, wie schade, in Gebäuden, wo wir nie bei uns sein können. Aber ist die Orgel und ihre typische Musikform, die Fuge, nicht der eigentliche Ausdruck der Gliederung, des Aufbaues, des Steigens? Wo wäre ein Laut, der so Kraft ausströmt, wie der Urruf einer Pedal-Subbass-Pfeife? Die Orgel kann erschüttern, wie wir erschüttert sind, wenn wir über dem See die Berge erblicken. Aber der Ort, wo sie steht, lähmt den Flug des Geistes; Tradition und Erinnerung nehmen sie und uns gefangen. Fuge und Orgel sind indessen nicht so sehr Ausdruck des Kampfes als einer unendlichen Steigerung des Lebensgefühles, wie der gotische Strebepfeiler und Dom. Was uns mit dieser Musik heute noch verbindet, ist Ehrfurcht, was sie lebendig erhält, Kraft.
Über dem orchestralen Miniaturinstrument, dem Klavier, leuchtet das moderne Orchester mit dem ganzen Wunder seines raffinierten Apparates und derjenigen Musikform, deren Ausführung ihm zukommt: der Symphonie. Die Symphonie ist die Ausdrucksform des tragischen Menschen, sie ist der, sagen wir vorläufige, Schlusspunkt musikformaler Entwicklung. Wenn jeder Bergsteiger ein Komponist wäre und das setzen könnte, was er im Innersten fühlte, würden in der Hauptsache und als Wahrstes und Wertvollstes Symphonien in Moll entstehen. Glücklicherweise ist dem nicht so...
Die Symphonie als Musikform ist mit Beethoven entstanden. Beethoven hat gelebt, als die ersten Berge erstiegen wurden. Wenn ich den Alpinismus in der ganzen Flachheit seiner Ausdrucksform betrachte, in jener Nichtigkeit, mit der er sich nach Aussen gibt, widerstrebt es mir im Innersten zwar, eine solche Parallele zu ziehen. Und doch, handelt es sich hier nicht einfach um eine historische Tatsache? Liegt hier nicht, ganz in der Tiefe verschüttet und im Ausdruck bis zur Unkenntlichkeit verändert, eine gemeinsame Quelle, aus derem einen Born ein Genie steil hochflammte, während aus dem andern das Bergsteigertum, oberflächlich freilich und trübe, seine spärlichen geistigen Bezüge holte? Sollte hier nicht Höheres, als bedingungsloser Zufall walten?
Im Abendlande hub, mit der Kultur der letzten Reife, der Kampf um die Erfüllung an, die grosse Ernte der Erkenntnisse. Geahntes war gefühlt worden, Gefühltes gedacht, und das ganz dem Rationalismus unterstellte Denken drängte nach Verwirklichung. Noch war die Seele im Aufstieg, hohe und höchste Berge überflügelten Sehnsucht und Glauben, dem Wollen war kein Ziel gesetzt. Noch war die Einsamkeit nicht zur Vereinsamung geworden, der Kampf frei von Resignation und ausschauend, und doch: mit Beethoven und seiner Zeit beginnt die Tragik des faustischen Menschen, die in gerader Linie zu den innern Zuständen des heutigen Menschen, zu unsern Zuständen, führen sollte. Beethovens Klaviersonaten, wenigstens seine tiefsten und eindrücklichsten, wo er am meisten sich selbst war, stellen in ihrem Ausdruck den leidend-kämpfenden Menschen, auch den Bergsteiger also, dar. Noch verwandteres Wesen erschliesst sich aus den Symphonien, die, das Wollen auf die Spitze treibend, die Grenzen der übernommenen Musikformen niederbrechen, wie wir stets neue, höhere Berge besteigen, unbetretene Ge- biete erobern möchten, als Ausdruck eines masslosen Ungenügens im Erreichten. Neue Gipfel, hier wie dort...
Der Abstand zwischen dem Genie Beethoven und dem Bergsteiger X, geradezu als unerträglich empfunden, verringert sich um eine Idee bei der Musik Brahms, welcher für mich der eigentliche Schöpfer alpiner Musik ist. Ich kann diese Musik nicht spielen, ohne an die Berge zu denken und keine Bergfahrt machen, ohne dass mich die Musik Brahms auf Schritt und Tritt begleitete.
Wie der Ausdruck der — nicht zufällig angetretenen, sondern fühlend gesuchten — Landschaft im Werke des Künstlers unzertrennbar mitverwoben ist, so scheint mir in der Musik Brahms die Berglandschaft ein wesentlicher und beglückender Teil, wobei gar nicht untersucht werden kann, wo die Grenzen zwischen sinnlichem Eindruck und seelischem Ausdruck liegen, d.h. welche Inspirationen die tatsächliche, mit den Augen wahrnehmbare Berglandschaft vermittelte. Wir können ja den Alpinismus auch nicht in zwei Teile zerlegen: hier wir und dort die Berge.
Dass aber Brahms zu den Bergen in einem direkten Verhältnis stand, geht daraus hervor, dass er sich drei Sommer am Thunersee aufhielt. Wie er einmal von Murren nach Gimmelwald geht und der ihn begleitende J. V. Widmann, vom Anblick des Hochgebirges überwältigt, die Meinung ausspricht, es sei unmöglich, diese Herrlichkeit in der Kunst völlig wiederzugeben, meint Brahms zu seinem Begleiter lachend: « Das muss ich schon sagen, Sie sind doch der gröbste Mensch, der mir jemals vorgekommen. Jeder andere, der mit mir solche Alpenspaziergänge ausführte, würde irgendeinmal ein artiges Wort anbringen. Zum Beispiel, das ist ganz wie in Ihrer dritten Symphonie oder so etwas. » Und auf einem Hügel bei Stechelberg ausruhend, scherzt er, im Anblick der Berge versunken: « Wir gefallen miri » Die Brahmsche Musik ist herb und verschlossen oder dann träumerisch nach innen gekehrt, und schwer ist es, zu ihr Zugang zu finden. Sie gibt sich nicht leicht, aber hält mehr, als sie verspricht. Wenn sie mit den Bergen verwandt ist, kann sie auch nicht anders sein. Oft ist in ihr ein merkwürdiger schwerer Rhythmus, unserm Bergschritt vergleichbar, oft auch ein gütiger, leiser Humor. Die eindrücklichen Werke aber sind im Zeichen eines verzweifelten Kampfes geschrieben, der im Ausmass und in der Monumentalität des Ausdruckes scheinbar am Ende seiner Möglichkeit steht. Unverkennbar ist auch eine gewisse Resignation, die selten einem Werke einen strahlenden Schluss in Dur gestattet.
Nach dem Quintett op. 34 C-Moll sind es besonders die vier Symphonien, welche beim Anhören das Bild eines in den Bergen ringenden Menschen wiederspiegeln. Es ist schwer zu entscheiden, welches dieser Werke der dynamischen Linie, dem geistigen Habitus einer Bergfahrt weniger entspricht als das andere. Das genannte Quintett ist gemäss seiner Kammermusikform gedämpfter, innerlicher im Ausdruck. Aber was für Landschaften werden da hervorgezaubert! Ist der Beginn des ersten Satzes nicht die leichte Skizze eines Bergumrisses, das Schlussallegro ein verzweifeltes Gehen im Nebel, ein Aufschreiten aus einem entschlossenen und doch nachdenklich-düstern ALPINE MUSIK.
Fugenthema? Und jene Stelle in As-Dur im ersten Satz, wo greifbar nahe, wie Frage und Antwort, Vorder- und Hintergründe spielen! Besonders beim Aufstieg zur Hütte am Abend ist die ganze Landschaft mit diesen Harmonien erfüllt, wie verschmelzen und verklingen sie in die nahen Schatten und fernen Lichter! Es gibt da keine Stelle, die fremd klänge, es ist das Schönste, das Verwandteste, das ich je gehört habe: wahrhafte Musik des Bergsteigers. Und wie leuchtet und wuchtet gigantisch der grössere Bruder dieses Quin-tettes, die Symphonie Nr. 7 in C-MoU! Über den leise wie Herzschläge pochenden Pauken des Eingangs ( poco sostenuto ) steigen die Berge auf, weit über dem See noch, aber immer näher kommend; kämpfend trete ich ihnen gegenüber und erringe in Absätzen über F-Dur und Fis-Moll einen vorläufigen Gipfel, von dem ich im warmen, prächtig strömenden A-Dur-Andante ins Land hinaus-blicke. Das Poco Allegretto, in einem unvergesslichen C-Moll-Bild, ganz einzig in seiner Form, bringt heimlicheres und tieferes Glück; entschieden wendet es sich zur Zuversicht, um in einem kurzen, aber um so eindringlicheren Adagio das Schicksal zu erkennen, die Durchführung des notwendigen Kampfes wieder aufzunehmen. Entspricht diese Stimmung nicht ganz dem Augenblicke, wo wir die Gipfelrast abbrechen, um das hinunterzusteigen, was wir uns hinaufgebracht haben? Nein, es gibt kein Entrinnen, dorthin geht es zurück, wo wir herkamen; Verachtung über den, der allzu lange ruhen will! Die Resignation ist von kurzer Dauer, ein Entschluss festigt sich unversehens unter einem strahlenden C-Dur ( più Andante ), siegreicher Glauben bricht aus gewaltigen Akkorden, unerhörte Kraft geht von diesen paar Takten aus. In erbittertem Ringen, in gewaltigen Stufen und unermüdlichen Ansätzen wird wieder die Niederung, das Leben erreicht ( Allegro non troppo, ma con brio ), einer jener symphonischen Schlusssätze, die unser Dasein am treulichsten widerspiegeln. Wir nehmen die Mühsal des Aufstieges, das kurze Gipfelglück und die tausend Gründe, die uns in die Berge senden, auf uns, wir tragen es, dieses Leben, nicht immer mit freudiger Bejahung, aber immerhin... Und so verspüren wir durch Musik und Berge das grosse Glücksgefühl, das uns oft heiss durchrinnt, dass wir einer Zeit angehören, die ganz ein wenig etwas Besonderes zu sein scheint. Nicht gerade leicht natürlich ( und Gott sei Dank nicht ), aber doch zum Aushalten, gerade so, dass das Leben nicht den Blinden nimmt. Und deshalb gehen wir ja in die Berge, weil wir dieses verdammte und im Grunde doch grossartige Leben über alles schätzen, und aus dem gleichen Grunde hören wir Musik. Einmal ein besonderer Feiertag. Einmal eine Gratifikation zur Aufmunterung!
Es wäre nicht verwunderlich, wenn aus den Bemühungen, die alpine Kunst selbständig zu machen, der Wunsch entspränge, alpine Musik zu schreiben. Wer fühlt, aus was für Quellen wahrhaft künstlerisches Schaffen schöpft, wird zum vornherein wissen, dass solche Versuche müssiges Spiel sind. Sie würden in Äusserlichkeiten stecken bleiben, analog dem übrigen, was schon auf dem Gebiete der « alpinen » Kunst geleistet worden ist. Man braucht dabei nicht an eines der tausend musikalischen Genrebildchen zu denken, die sich in Titel und Umschlagsbild als Musik aufspielen, die irgend etwas mit den Bergen zu schaffen hätte. Grössere und grosse Geister haben sich schon darin versucht. Man vergleiche einmal in den « Années de Pèlerinage » von Liszt, Band I, den Zyklus über Schweizerlandschaften mit der Klaviersonate H-Moll desselben Komponisten oder Richard Strauss'« Alpensinfonie » mit seinem frühern, nicht spätem, Werk Also sprach Zarathustra », und es wird einem sofort klar, worauf es ankommt. Nämlich darauf, wahr zu sein.
Diese problematischen Notizen sind nicht geschrieben zur Kritik, sie erheben auch keinen Anspruch auf eine erschöpfende Darstellung. Sie sprechen weder zum Musikwissenschaftler noch zum « zünftigen » Alpinisten, auch ihnen kann vertrauter Laut tönen, aber « nur » als Mensch. Ich schrieb aus Glauben und aus dem Wunsch, dem Alpinismus zu der Erkenntnis mitzuverhelfen, was er « auch » ist, nicht nur eine Abreaktion überflüssiger Körperkräfte, ein bedeutungsloses Spiel mit einer zufälligen Landschaft, sondern eine geistige Angelegenheit, von der letzten Endes der innere Wert und das Schicksal dieser Bewegung allein abhängt.Werner Graf.