Wytenalpstock-Westwand
Von Willy Rupp
4. Juli 1943 Mit 1 Bild ( 3Zürich ) Ein kalter Windstoss streicht durchs weit geöffnete Hüttenfenster. Ich liege wach. So gerne wäre ich in Orpheus Arme gesunken, doch fieberhaft kreisen immer noch die Gedanken in meinem Kopfe. Ob wohl die Mutter in dieser mitternächtlichen Stunde auch an mich denkt? Ob sie es wohl fühlt, dass ich jetzt auf der Pritsche der Etzlihütte keinen Schlaf finde und in Gedanken bei ihr weile? Wenn ich nach Hause komme, werde ich sie fragen. Mutter, liebe Mutter, schlafe wohl! Du wirst dich zum Kirchgang rüsten, wenn wir bereits auf des Wytenalpstocks Gipfel stehen. Bete auch für mich, dass ich wohlbehalten zu dir zurückkehre. Angesichts der Die Alpen - 1945 - Les Alpes2 Himmelsdome werde ich auch dich während der Gipfelrast dem Schütze des Allerhöchsten empfehlen.Zu meiner Rechten schlummert Jean, mein Seilkamerad von heute. Eigentlich beneide ich ihn um seinen tiefen Schlaf. Irgendwo rasselt ein Wecker. Kurz nachher höre ich Schritte. Es wird Meister Epp sein, der die Stiege herunterkommt. Richtig! Unterm Türpfosten erscheint der Hüttenwart. « Die Herren, die um 2 Uhr geweckt sein wollen, mögen aufstehen !» Das gilt uns. Jean bekommt einen Klaps von mir, und schon wickelt er sich aus den Decken. Flugs werden sie zusammengelegt und dann wird auf den Zehenspitzen in die Wohnstube hinausgeschlichen. Es sind übrigens nur noch wenige Partien da, die teils den Piz Ner, teils den Sonnigwichel auf dem Programm haben und daher erst später Tagwache machen.
Etwas nach 31/2 Uhr drücken wir dem freundlichen Hüttenwart die Hand, nachdem wir uns zuvor für die lange Fahrt mit einem reichlichen Frühstück gestärkt haben. Wie wir in die Nacht hinaustreten, umbläst uns ein scharfer Wind, der die Schläfrigkeit aus den Augen treibt. Ein sternklarer Himmel wölbt sich über uns. Kein Wölklein, kein Nebelfetzen weit und breit. Elegant recken Piz Giuf, Piz Ner, Sonnigwichel und auf der andern Seite der Wytenalpstock ihre scharfen Profile in den glitzernden Sternenhimmel. Im Scheine der flackernden Laterne geht 's zur Talsohle hinab. Wir halten uns an die Wegspur, um gleich den Steg zu erwischen, der ans jenseitige Ufer des hier schon breiten Etzlibaches führt. Durch ein ausgedehntes Trümmerfeld steigen wir mit zügigem Schritt, immer mehr oder weniger der rot-weissen Markierung folgend, zum Krüzlipass hinauf. Die Morgendämmerung macht sich bemerkbar. Uns zu Häupten erlischt ein Stern nach dem andern. Eben entgleitet der Kerzenstummel' lautlos dein Boden der Laterne. Wir kennen die Lampe dem Rucksack anvertrauen. Es ist Tag geworden. Wir stehen auf dem Krüzlipass. Machtvoll und trutzig wuchtet jenseits des Strimgletschers der Oberalpstock empor. Von dieser Seite besehen vermag er Respekt einzuflössen und bewusst zu machen, dass er der Höchste in der Runde ist. In der Tiefe schlummert das reizende Bergdorf Sedrun.
Wir wenden uns zur Linken. Über Schutt, Schrofen und einige kleine Fint-hänge geht 's zur auffälligen Einstiegsscharte im Südgrat des Wytenalpstockes. Woher der Berg nur seinen Namen haben mag? Etwa, weil ihm nur nach verhältnismässig langen Anstiegen beizukommen ist? Dies wäre jedenfalls die sinnvollste Deutung. Aber es ist der Berg, der die weite Alp umrahmt!
In der Scharte begrüsst uns ein kalter Wind. Nur einen Augenblick beschauen wir daher die im Morgenlicht herüberleuchtende Dammastock-und Sustenhornkette sowie die Berge, welche das Erstfelder und Leitschachtal umsäumen. Dann suchen wir den Windschatten auf, steigen ein paar Meter auf dem sonnigen Anstiegsweg zurück, um auf einem geeigneten Plätzchen zu rasten. Frühstück Nr. 2 ist fällig. Doch gönnen wir uns keine lange Musse. Jean ist bereits in die Kletterfinken geschlüpft und hat die Nagelschuhe im Sack verstaut. Dank meinen « Vibram»-Sohlen werde ich dieses zusätzliche Gewicht nicht mit mir schleppen müssen.
WYTENALPSTOCK-WESTWANDH Wir seilen uns an und steigen zur Scharte und in die Felsen des 50 m hohen Steilaufschwungs, den der Kletterer gleich zu Beginn am Südgrat überwinden muss. Wo nicht direkt über die Kante empor « geturnt » werden kann, weiche ich nach Osten aus. Hei, ist das eine Freude, über den gutgriffigen, von der Morgensonne bereits fühlbar erwärmten Fels in den blauen Äther hinaufzusteigen. Seillänge um Seillänge läuft ab. Flüssig kommen wir voran. Die sonst immer wieder bei Kletterfahrten gehörten Zurufe wie: « Drei Meter, zwei MeterSeil ausHaltNachkommen! » usw. braucht 's bei uns kaum. Fast wortlos arbeiten wir uns empor. Beim Empfinden, wieder an die 25 m geklettert zu haben, schaue ich nach einer Sicherungsmöglichkeit. Das Anhalten des Seils zeigt Jean — der mir meist nur auf die halbe Distanz mit den Augen folgen kann — dass ich ihn sichern und nachnehmen will. Ich brauche denn auch nur den « Strick » wieder anzuziehen, und gleich setzt er sich in Bewegung. Zu mir aufgeschlossen, übergebe ich ihm mein Seilende und « haue ab ». So geht 's in gleichbleibendem Rhythmus. Abwechselnd wird geklettert und gesichert. Es ist etwas Grosses um diese Bergkameradschaft, wo sich einer dem andern durch das Seil vertrauensvoll auf Leben und Tod überantwortet.
Der anfängliche Steilaufschwung geht bald in einen Grat von geringerer Neigung über. Die Gendarmen, die ihn zieren, können alle überklettert oder auf der Westseite leicht umgangen werden. Die Route führt in eine Scharte hinab und von dort auf einem breiten Gratrücken, der nicht einmal mehr leichte Kletterei bietet, zum Steinmann auf dem Südgipfel, 3009 m, empor.
Kurz vor 9 Uhr reichen wir uns auf des Wytenalpstockes Zinne die Hände, erfreuen uns an dem prachtvollen Rundblick! Aus schwindelnder Tiefe grüssen die Hütten der Wytenalp, und dort ob Intschi, jenseits des Reusstales, blitzt das grüne Auge des Arnisees. Erinnerst du dich, Jean? Vor 4 Wochen standen wir an seinem Ufer, ehe wir den Weg zur Leitschach-hütte unter die Füsse nahmen. Das war doch auch eine herrliche Tour, jener Gang über die frisch verschneiten Felsen des Ruchen-Ostgrates. Und am letzten Sonntag, dort drüben im Engelberger Gebiet, die prachtvolle Kletterei im Nebel über den Sonnigberggrat des Nünalphorns. Das Auge gleitet hinüber zur Medelser Gruppe. Alte Erinnerungen werden wach. Doch die Zeit drängt. Wir müssen uns entscheiden. Wollen wir über den Verbindungsgrat zu dem wenige Meter höheren Nordgipfel hinüber? Es wäre eine ansprechende Kletterei. Dann bleibt uns aber kaum ein anderer Abstieg, als durch das langweilige Schneecouloir, das südlich des Nordgipfels die ganze Westflanke des Berges durchreisst. Oder wollen wir etwas Neues riskieren? Eine Route wählen, die im Führer nicht beschrieben ist und von welcher wir nicht wissen, ob sie überhaupt je begangen wurde? Es braucht nur wenige Worte, und wir sind uns einig. Probieren geht über Studieren! Wir haben uns für den direkten Abstieg durch die Westwand in der Gipfelfallinie entschlossen. Die ersten 150—200 m sind übersichtlich, nachher scheint jedoch die Wand in senkrechten, wenn nicht gar überhängenden Abstürzen zum Trümmerfeld ob der Wytenalp abzufallen. Was verschlägt 's?
Zu guter Letzt haben wir Hammer und einige Haken bei uns. So oder so werden wir uns einen Ausgang aus dem Gefels erzwingen. Frisch gewagt ist halb gewonnen! Wir haben allerdings eine objektive Gefahr in Rechnung zu setzen, die nicht zu bannen ist und der gegenüber wir macht- und schutzlos sind: fallende Steine.
Jean nimmt jetzt den Vortritt. Immer leicht links haltend, kommen wir Seillänge um Seillänge tiefer. Die Bedienung des Seiles erheischt äusserste Sorgfalt. Wir sind in unbegangenem Gelände. Loses. Geschiebe liegt massenhaft auf den abschüssigen Bändern. Ab und zu pfeift 's und poltert 's in der Wand. Steine sausen durch die Couloirs und schiessen weit unten in hohem Bogen hinaus in die Luft, um irgendwo in der Firnzunge, die sich zur Bergflanke hinaufzieht, zu versinken. Also doch überhängend! Das kann ja schön werden! Vorderhand finden wir aber immer noch hinreichende Sicherungsmöglichkeiten. Es ist fast, als hätte der Weltenbaumeister an unserer Route eigens einige feste Zacken und Zäckchen angebracht, damit wir zur Erhöhung unserer Sicherheit unser Seil darum legen können. Wir müssen noch mehr nach links. Rechts dehnen sich glatte Plattenschüsse, unter uns gähnen senkrechte Abstürze. Ein äusserst steiles Eiscouloir versperrt den Weiterweg. Nun muss die Sache eben ohne Hilfsmittel gemacht werden. Während ich Jean oben sichere, beginnt er langsam in der Rinne abzusteigen, vorsichtig mit der Schuhspitze Tritt um Tritt ins harte Eis schlagend. Ich stehe exponiert. Nur äusserst langsam kommt Jean voran. Endlich kann er aus, der Rinne queren, hat wieder Fels unter den Füssen und kann mich nachnehmen. Wir haben aber wertvolle Zeit verloren. Ein Blick die Eisrinne hinunter zeigt uns, dass sie sich in einem überhängenden Couloir verliert. Die vorherige Richtung beibehaltend, gelangen wir zu einer Rippe im unteren Drittel der Wand. Hier müssen wir kehrt machen und nach rechts absteigend aus der Wandflucht hinaus zu kommen suchen. Immer mehr nähern wir uns der Schneezunge. Noch ist ein Steilabsturz zu überwinden. Rasch entschlossen wird eine Schlinge um einen hervorspringenden Felszahn gelegt, und schon baumeln wir am Doppelseil über die senkrechte Wandstufe zur Höhe des Ausstieges hinunter. Es folgt ein kurzer Quergang, und wir stehen im Schnee auf ca. 2600 m Höhe. Es ist 2 Uhr nachmittags. Vier Stunden hat uns also der Wanddurchstieg gekostet.
Wir sind glücklich der Wand entronnen, und in stiebender Fahrt sausen wir nun zum gewaltigen Trümmerfeld hinab, und über endloses Blockgewirr stolpern wir zur Wytenalp. Noch sind wir auf 2000 m Höhe. Tief unten glitzert der Etzlibach. Wie bequem und wegverkürzend wäre ein direkter Abstieg. Doch lotrecht abfallende Flühe verunmöglichen dies. Es bleibt nichts anderes übrig, als dem schmalen Pfad zu folgen, der ob den Flühen zur Culma hinunterführt und wieder auf den Weg ins Etzlital, der uns mit ausgiebigem Schritt gen Bristen ziehen lässt. Der Berg, der so wenig begangen wird, der so recht das Stiefkind der Maderaner Alpen ist, hat uns ein unvergessliches Erlebnis geschenkt.
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