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Von der Eigenart des Bergells

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von Fred Bertschi

( Zürich ).

Mit keiner mir sonst bekannten Hochgebirgsform lässt sich das Bergell vergleichen. Nicht mit dem wuchtigen Bau der Zentralalpen, nicht mit den weitgeschwungenen Formen des Oberengadins. Es hat sein eigenes Baugesetz, seinen eigenen Stil. Man verwundere sich nicht, dass Begriffe der Architektonik zur Beschreibung landschaftlicher Grossformen angewendet werden. Es geschieht mit Recht, denn je nach Art der Gesteine, nach der Wölbung der Decken, nach der Kraft der Erosion hat das Gebirge seinen ganz bestimmten Bau. Das steinerne Antlitz: über bleibt der Grundbau der Landschaft wie die zunächst glatten und rohen Mauern eines Gebäudes. Dort ergeben Verzierungen, Ornamente, Verputz erst ein Ganzes, hier treten zum geologischen Bau Klima, Vegetation, Siedelung hinzu und schaffen erst die Landschaft.

Was ist nun im Bergell so anders? Zunächst der Ba a. Schmal und tief eingeschnitten ist das Tal. Steil streben die Hänge nach oben. Die Häupter der Berge bildet glatter, oft filigranartig getriebener Fels. Alles strebt mit einem Schwung zur Höhe, steiler, als wir es vom Berner Oberlande in Erinnerung haben, aber nicht mit jener breiten Wucht. Wohl ist der Körper des Berges zunächst massig, aber sein Felsenhaupt ist eher fein und bizarr in seinen Formen.

Statt diese Formen nur mit dem Auge zu erfassen, fühle man sie als Bergsteiger! Man klettere die steilen Halden hinan, man versuche sich am harten, aber fast grifflosen Felse; man versuche seine Künste an den Spitzen und Nadeln. Dergestalten Fels finden wir sonst nirgends mehr in unserer Heimat. Vielleicht erinnern wir uns an Bergfahrten in den Dolomiten. Dort ist ähnlicher Fels. Aber nur der Fels hat Ähnlichkeit; die Landschaft ist grundverschieden.

Die Bergeller Architektur zu umschreiben ist schwer. Ein Gleichnis vermag es besser auszudrücken. Das Oberengadin ist romanischer Stil, das Bergell dagegen ist Gotik. Dies der Bau. Das milde und südliche Klima aber gibt in einer üppigen Pflanzendecke diesem erst Leben und Farbe.Vieles von der Schroffheit, die in gewissem Masse jedem Hochgebirge eigen ist, wird durch eine an den Süden gemahnende Pflanzenwelt gemildert. Nirgends in unseren Alpengebieten finden wir eine ähnliche reiche und vielgestaltige Vegetation. Wir ziehen zunächst Vergleiche mit dem Tessin, aber wir finden, dass zu den Laubwäldern, den lichten Kastanienwäldern doch noch die eigentliche alpine Vegetation hinzutritt. Nur ist sie reicher als irgendwo sonst in den Alpen. Keine dürftigen Alpweiden finden wir, sondern hohes, saftiges Gras. Die Tannen sind nicht verkrüppelt, sondern kräftig wie in den Mittelgebirgen. Und gross ist die Reihe der Nadelholzarten. Die Siedelungen fügen sich in das Bild der Landschaft. Die Bauart der Häuser ist ein Zwischending von alpinem Stile und jenem Stile des Südens, den wir im Tessin antreffen. In den Palästen der von Salis findet er vollendeten Ausdruck. Sie sind breit und ernst wie die Berge, aber in ihrer feinen Gliederung doch wieder von jenem Ebenmasse italienischer Bauwerke, so wie die üppige Vegetation das Hochgebirge weicher macht, zur Gewalt den Reiz der Lieblichkeit zaubert.

Malerisch ist das Bergeil wie kaum eine andere Landschaft. Aber das ist vielleicht nicht richtig gesagt; denn selbst die ödeste Landschaft hat malerische Punkte. Es ist eher so, dass das Auge selten auf einen toten Punkt trifft. Immer schieben sich Vordergrund und Hintergrund zu einem reizvollen Bilde. Bald ist es eines der malerischen Häuser, bald eine Tannengruppe, bald hohes blütenübersätes Gras und dahinter immer wieder die Zacken des Felses und die Gletscher als Ergänzung zum gigantischen Hintergrund. Wir selbst wähnen uns in einer friedlichen Landschaft, empfinden kaum jene bedrückende Aufschau zu den Bergen, denn Firn und Fels thronen zu erhaben und freundlich über den Tälern.

Wer aber einmal vom Mairatal abgezweigt ist und das Albignatal hinaufwanderte, weiss von einem anderen Gesichte dieser Landschaft zu berichten, das dem flüchtig Reisenden nicht offenbar wird: Verheerung und Zerstörung kennzeichnen es. Dieses Gerinnsel, das sich um die mächtigen Granitblöcke windet, ist zur Zeit der Hochflut ein Wildbach von unvorstellbarer Heftigkeit. Jetzt zeugt nur sein Bett von der Kraft der Zerstörung. Wo hätte man je ähnliche Gerolle gesehen, von der Grosse eines Tisches, eines Schrankes, eines ganzen Hauses. Die steilen Gehänge erlauben keine breite Entwicklung der Bäche. Sie stürzen in der Fallirne zu Tale, sich tief einschürfend und unglaubliche Gesteinsmassen mit sich reissend. Und so wie die Bäche krachen auch die Lawinen hernieder. Wie mit einem riesigen Messer abrasierte Wälder sind Zeugen davon.

Unten im Tale überquert man plötzlich ein scheinbar ausgetrocknetes Bachbett. Es ist das Flussbett der Maira. Als sie über ihr eigenes Bett hinaustrat und den kürzesten Weg zu Tale nahm, schuf es dieses in wenigen Stunden. Ein ruhiger Fluss braucht im Vergleiche Jahre, bis er sich so tief eingeschürft hat, die wilde Maira grub sich das Bett während eines Tages. Wie zwingt uns dies, anders über das Bergeil zu denken: auch hier Zerstörung und Gewalt, nur nicht so offensichtlich wie in anderen Hochgebirgslandschaften. Im Tale finden wir an den Häusern Marken, die den Stand des Hochwassers vom Jahre soundso anzeigen. Hier also, wo man wandert, schoss einst ein Wildbach dahin und hätte einem noch die Hüften bespült.

VON DER EIGENART DES BERGELLS.

Wir haben vom Bau gesprochen, als jenem Grundelemente, das der Landschaft ihr eigenartiges Gepräge gibt. Dass es eine eigenartige und mit keiner anderen Form unseres Hochgebirges verwandte Landschaft ist, wurde beschrieben. Ist nun der Bau wirklich von den übrigen Baustilen verschieden Ja, und zwar grundlegend In den schweizerischen Alpen ist das Bergell der einzige junge Eruptivköri er. Als das Deckengebäude der Alpen in seinen Grundformen bereits da s nì r, brach durch die Schichten der übereinandergelagerten Sedimente dies* r magmatische Stock, schmolz durch die Gesteine, stieg über die Oberfläche und erstarrte langsam. Wir kennen in den Alpen ein zweites derartiges Geschehen: das Adamello, gleiche: °art entstanden wie das Bergell. Diese ganze Bergmasse besteht aus jungem frischen Granit, mit grossen, prächtig ausgebildeten Feldspäten. Der Baustil wird somit verständlich. Nicht ursprünglich horizontal gelagerte, dann gefaltete, zu Decken überschobene Schichten bilden das Gerüst der Berge, sondern ein einziger hochgetriebener Stock. Deshalb die auffallende Steile, der breite Anhieb, das spitze Auslaufen. Und dann ist es noch der Baustein selbst, der im Felse eine besondere Architektu r schafft. Granit ist es, hartes nur wenig den zerstörenden und abtragende l Kräften willfähriges Gestein. Durch seine Härte befähigt, bizarre, getriebene Felsformen zu schaffen, die von Wind und Wasser schwer zu weicheren Formen umgearbeitet werden. Betrachten wir das Gestein und suchen wir nac r Verwitterungsspuren: sie sind da, aber spärlich; nirgends lockerer Fels, die Griffe für den Kletterer sind meist die widerständigen und deshalb heraus gewitterten Feldspäte. Man wird einwenden, das Gotthardmassiv, der Moni Blanc, das Aarmassiv bestünden auch aus Granit und müssten demnach ähnliche Bauformen aufweisen; aber dort finden wir gerundetere Formen. Diese granitischen Massive gehören jedoch einem Gebirge an, das schon vor unseren Alpen bestand und sind um Jahrmillionen älter als das Bergell und deshalb schon viel mehr eingeebnet. Das Bergell aber ist, in geologischen Zeiträumen gesprochen, ein junges Gebirge.

Die Entstehungsgeschichte des Bergells ist in das Gestein geschrieben. Dort, wo die magmatischen Massen als heisses Gestein mit angrenzendem Gesteine in Berührung kamen, wo sie es durchbrachen, dort finden wir Spuren dieses Vorganges. Das angrenzende Gestein ist verändert in seiner Struktur, durch die Hitze haben sich neue, seltene Mineralien gebildet und zeigen so noch heute, nach Hund( rttausenden von Jahren, die Brandspuren. Die Kontakthöfe gehören zu den Fundgruben der Mineralogen. Hier vollzog die Natur selbst eines der grossartigsten Experimente und bewies die Veränderlichkeit und Umwandelbarkeit des Gesteins durch Hitze und Druck.

So erklärt sich die Architektonik des Bergells und weitgehend auch seine Eigenart. Denn der geologische Bau der Landschaft ist das Gerüst, in das sich ergänzend das Bild des Lebens fügt.

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