Überschreitung des Verstanklahorns
VON GEORG CALONDER, CHUR
« La haute montagne est un monde au-dessus du monde » RÉBUFFAT Mit 3 Bildern ( 54-56 ) Jeder Bergsteiger weiss von Touren, die ihm durch Zufall, glückliches Zusammentreffen der wesentlichen Voraussetzungen, mutiges Zupacken und raschen Entschluss bei sich bietender günstiger Gelegenheit oder sonst irgendwie « auf Anhieb » gelungen sind. Andere Fahrten fordern oft jahrelanges Zuwarten. Aufkeimende Hoffnungen werden schon im Tal oder dann in der Hütte immer wieder durch schlechtes Wetter, ungünstige Verhältnisse oder andere Gründe zerstört, um schliesslich mehr oder weniger zu gelingen oder auch ganz aus Abschied und Traktanden zu fallen.
Das Verstanklahorn, nach dem Bündner Clubführer « einer der grossartigsten und rassigsten Gipfel des ganzen Silvrettagebietes », mit seinem Nordostgrat, der nach der gleichen Quelle « auch den anspruchsvollen Bergsteiger begeistert » stand schon seit Jahren in unserem Programm. Es war uns aber bisher nie gnädig gewesen, hatte uns aber andererseits auch nie bis in die Hütte gelockt und dann genarrt. Der Wunsch blieb indessen lebendig.
Was Wunder, wenn wir denn trotz nachmittäglicher Julihitze freudig bewegt von der Alp Sardasca zur Silvrettahütte aufsteigen, laufend aber lange vergeblich bemüht, unser morgiges Ziel zu erspähen. Der eines Segantini würdige Sonnenuntergang überzeugt uns von der Sicherheit der Schönwetterlage und zugleich auch von der Richtigkeit unseres Entschlusses, den Regenschutz für einmal zuhause zu lassen. Damit ist ein weiterer Beitrag an unseren Grundsatz « federleicht » geleistet, nach welchem wir in Anbetracht der doch beachtlichen Länge unserer geplanten Fahrt die Säcke gepackt haben.
Keiner unseres Quartetts ist je im Sommer von der Hütte zum Silvrettapass aufgestiegen, so dass wir in der Dunkelheit der sich allerdings bald in die Täler zurückziehenden Nacht sehr bemüht sind, peinlich genau dem Weglein zu folgen, bis es sich in den vielen Steinen verliert und trotz eifriger Suche unsererseits nicht mehr zum Vorschein kommt.
Man hat uns angeraten, den Gletscher hoch genug über dem ersten Bruch, auf etwa 2700 m, nach Süden und Südwesten zu queren. Brav sind wir dem Ratgeber gefolgt und - dabei sogar ausgezeichnet gefahren. Es könnte in solchen Fällen schlimmer gehen.
Während wir in der steinigen Gegend der Krämerköpfe herumstolpern, spielen eben die ersten Sonnenstrahlen rotgolden an den Gipfeln des Verstanklahorns und der Torwache. Eigenartig kontrastiert dieses froh stimmende Aufglühen des jungen Tages über den düstern, in schattig-dunkle Tiefen abfallenden Nordwänden der beiden Berge. Erneut wird uns bewusst: Gegensätze sind wesentlichste Reize des Hochgebirges.
Im Verstanklator stehen wir heute erstmals in der Sonne. Gleissendes Gegenlicht glänzt am vornehmen Hermelin des Piz Fliana, eines schönen, etwas steilen Skiberges.
Das Problem der Bildung der Seilschaften hat inzwischen Erwin auf denkbar einfachste Weise gelöst. Ohne ein Wort zu verlieren band er sich an das Ende meines Seils und überliess seinen Strick unseren Freunden Paul und Max, die sich zunächst noch per Sie miteinander zusammenknüpften. Nachdem wir zwei bereits eine prachtvolle Bergwoche hinter uns haben und entsprechend eingespielt sind, war das wohl die richtige Lösung.
Vom Verstanklator liesse sich die Torwache über die Nordwand direkt erreichen. Das nach Westen hinaufführende Band mit seinen brüchigen Absätzen und den vielen herumliegenden Steinen zieht uns aber nicht an. Da wenden wir uns lieber dem Fusse des Südostgrates zu. Dieser Weg ist zwar etwas länger, aber dafür erheblich schöner. Des Bergsteigers Ziel ist ja auch der Weg und nicht nur der Gipfel.
Während unserer Rast am Einstieg haben wir alle Musse, den Blick auf die beiden Piz Buin zu geniessen. Von diesen Gipfeln hatte man uns in den Bubenjahren schon gesagt, sie seien wie vielfach die Menschen: der grössere der beiden harmlos, der kleinere etwas giftiger. Ganz besonders anziehend ist aber der Blick ins tiefe Val Lavinuoz. Es liegt noch zwischen hohen Hängen eingebettet im blauen Morgenschatten und erinnert irgendwie an das Val des Etançons im Dauphiné, wie man es am frühen Morgen im Aufstieg zum Grand Pic de la Meije zu seinen Füssen erblickt.
Über sonnenwarme Platten und kleine Stufen gelangen wir in leichter Kletterei auf den östlichen Vorgipfel der Torwache.Verdutzt schauen wir jetzt auf den unter einem Überhang ansetzenden scharfen Verbindungsgrat zum Hauptgipfel hinunter. Schwarz grüssen die tiefen Spalten des fast senkrecht unter uns gähnenden Maisasgletschers herauf. Unser Grundsatz « federleicht », den wir beim Rucksackpacken so hochhielten, rächt sich jetzt. Um Gewicht zu sparen, haben wir den Clubführer zuhause gelassen und uns nur jene Teile des Weges herausgeschrieben, die für die Kletterei problematisch erschienen. Dafür wissen wir jetzt schon zu Beginn der Überschreitung zufolge unserer « raffinierten Massnahmen » nicht mehr weiter. Prompt steigen wir denn auch auf der Nord- statt auf der Südseite von diesem Kopf ab, ohne allerdings durch diesen Lapsus sehr viel Zeit einzubüssen. Wir sind froh, nach der locker aufgebauten Nordflanke wieder den festen Grat in unseren Händen zu haben. Die nun folgende sehr abwechslungsreiche Kletterei über Türme und scharfe Scharten bringt unser Quartett in ausgezeichneter Stimmung auf den ersten Gipfel des Tages.
Da wären wir also auf der Torwache. Wie der Name sagt, hat sie wohl in erster Linie das Verstanklator zu bewachen. Darüber hinaus ist sie aber auch der kleine Hüter des grossen Verstanklahorns, als dessen verkleinertes Ebenbild sie vom Silvrettagletscher aus erscheint.
Immer noch ist der Chapütschin, unser drittes heutiges Ziel, mit seiner glänzenden Firnkappe noch recht weit entfernt. Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt aber dem Nordostgrat des Verstanklahorns. Die verlockende Kante ist von der Morgensonne in allen Einzelheiten durchleuchtet, erscheint aber von unserem erhöhten Standort aus in ihren unteren Partien wie üblich steiler, als sie in Wirklichkeit ist. In der Begeisterung der Vorfreude steigen wir am kurzen Seil über rauhe, warme Platten in den Verstanklasattel hinab.
Für das, was jetzt kommt, ist man versucht, bei den heutigen idealen Verhältnissen ein Modewort zu verwenden: Genusskletterei! Der Granitgneis des Grates ist eisenfest, bietet genügend gute Griffe und gestattet ein zügiges Klettern. Nachdem wir drei oder vier Seillängen konsequent der Kante gefolgt sind, lassen wir uns durch einen Wächter auf die übliche nördliche Umgehung abdrängen. Es wäre, wohl mit etwas mehr Mühe, auch über den Gendarm gegangen. Den Abstieg in die nächste Scharte kann man ohne Abseilen leicht bewerkstelligen. Es gilt unter einem ganz kurzen, aber nach auswärts drängenden Überhang durchzuschlüpfen. Mit Vergnügen wird festgestellt, dass hier einmal die ausgleichende Gerechtigkeit den grösseren Kletterern Nachteile bietet. Dann ist aber schon der letzte Aufschwung da, der in direktem Zuge beim Gipfelsteinmann des Verstanklahorns endet. Unversehends sitzen wir mitten in der Sektion Prätigau, die ebenfalls den Nordostgrat heraufgestiegen ist.
Innert Minuten ist das Gespräch schon so lebhaft, wie wenn wir uns seit Jahren kennen würden. Die mit vereinten Kräften an die Hand genommene Vervollständigung der weiten Sicht überzeugt uns von neuem davon, dass das Verstanklahorn auch in dieser Beziehung sehr dankbar ist. Besonders beeindrucken indessen die steilen Tiefblicke auf die umliegenden Gletscher und die ebenmässige Gestalt des uns mit seiner Nordseite zugewendeten Piz Linard. Es gefällt uns hier oben so gut, dass die vorgesehene Raststunde kräftig überschritten ist, als wir endlich die Seilschlingen für den Abstieg über den Südwestgrat aufnehmen.
Diese Route kenne ich von einer Besteigung im Dezember her. Es zeigt sich aber erneut, dass die gleichen Felsgrate mit und ohne Schnee recht verschieden aussehen können. Also geht es nicht ohne etwas Suchen ab. Überdies macht uns hier die Hitze zu schaffen. Die von Nordosten kommende Bise vermag hier nicht einzuwirken. Staub wirbelt auf, das lose Gestein erfordert Vorsicht. Wir sind alle froh, nach dieser unangenehmen Passage im Vernelasattel zu stehen.
Hier erhebt sich die Frage, ob man den Chapütschin noch einbeziehen oder dem direkten Abstieg auf den Vernelagletscher den Vorzug geben will. Da Erwin und ich zu kneifen nicht bereit sind, wollen sich unsere Freunde auch nicht lumpen lassen. Gemeinsam machen wir uns wieder ans Werk. Dabei ist für den stillen Beobachter immerhin etwas auffällig, dass bei der Besteigung dieses Nordgrates im Schatten liegende Standplätze von allen ganz eindeutig bevorzugt werden. Die im Clubführer angegebenen Schwierigkeiten dürften noch aus der Zeit des Bergsteigens mit Nagelschuhen stammen und sind für die heutigen Begriffe übertrieben. Der Aufstieg ist aber unterhaltsam und stellt einen geeigneten Ausklang dieser mit zwei zusätzlichen Gipfeln ergänzten Überschreitung des Verstanklahorns dar. Der von Osten her auf den Grat führende Kamin mit den « minimen Griffen » erscheint uns etwas harmlos, bleibt aber zweifellos die schönste Kletterstelle an dieser Seite des Chapütschins.
Vom Gipfel sehen wir weit unten unsere Prätigauer auf den weichen Matten des Vernelatals nach Vereina hinaus wandern. Bald werden wir ja auch dort sein! Da ist ja nur noch dieser lapidar einfache Abstieg zur Fuorcla Zadrell. Selbstverständlich wurde im Clubführerauszug auch dieser simple Routenteil « zwecks Gewichtseinsparung » grosszügig übergangen. Wir stehen indessen bald einmal über abwärtsgeschichteten, wasserüberronnenen Platten. Eindrucksvolle Steilstufen trennen uns von den ausnahmsweise ersehnten Geröllhalden, und keiner weiss, wo es durchgehen könnte.Verschiedene Vorschläge tauchen auf. Fast lassen wir uns durch eine Gemsspur zu einem Unsinn verleiten. Schliesslich finden wir nach reichlicher Auskostung unangenehmer Unsicherheitsgefühle den richtigen Schlupf. Nachdem eine kleine Stufe am Südostgrat überwunden ist, führt eine nach Südwesten sich öffnende Rinne leicht abwärts. Leider ist das Gestein sehr locker, und jeder Schritt erzeugt eine eklige Staubwolke, die durch den Steigwind die Rinne heraufgetragen wird und unseren « hygienischen Verhältnissen » sehr unzuträglich ist.
Wer einen ganzen Tag im Fels geklettert ist, sehnt sich nach Rasenpolstern. So ist denn auch die Taktik unserer weiteren Wegführung darauf ausgerichtet, unsere Schritte möglichst bald in weiche Alpweiden zu lenken. Das Vernelatal bietet uns zum Abschluss unserer Fahrt seine Schönheiten: einen noch kräftig rauschenden Bergbach, im Gegenlicht der tiefstehenden Sonne glänzende Seelein, die schroff aufsteigenden hohen Wände der Platten- und Unghüürhörner und weite saftige Weideflächen, auf denen die Rinder friedlich nach saftigen Kräutlein suchen. Der Weg selbst dagegen streckt sich nach unserem Empfinden immer mehr und wird steinig und steiniger. Wir haben gut Zeit, um über den Namen der Fuorcla Zadrell nachzudenken. Nach der Überlieferung soll ein offenbar bergsteigerisch sehr streitbarer Pfarrer Zadrell diesen Übergang benützt haben, um gleichentags in Lavin im Unterengadin und in Klosters im Prätigau predigen zu können. Nach dem Clubführer kommt man für diesen Übergang auf 9 bis 10 Stunden Marschzeit. Rechnet man noch Rasten und Predigten dazu, dann muss dieser Herr Pfarrer wirklich auf ein gesegnetes Tagewerk gekommen sein.
In Vereina bietet sich bald Fahrgelegenheit nach Klosters. Ohne lange Besprechungen kann unser Quartett den Drang, dem bisher heute ohnehin schon 15 Stunden dauernden Tagewerk noch drei weitere Stunden Strassenmarsch anzufügen, « schmerzlos » unterdrücken — und es steigt ein.
Die Überschreitung des Verstanklahorns mit Einschluss der Ost—West-Traverse der Torwache und unter Hinzunahme der Nord—Süd-Überkletterung des Chapütschin ist wohl eine der schönsten Gratfahrten des Silvrettagebietes. Wie auf den meisten derartigen Touren überraschen auch hier die immer wechselnden Ausblicke und die stets wieder andersartigen Kletterstellen. Es ist keine Steinschlaggefahr zu befürchten, und der Gratfels ist normalerweise solid. Einzelne herumliegende lose Brocken wären schon längst an einem tieferen Standort gelandet, wenn diese schönen Berge mehr begangen würden. Jeder wird aber am Abend nach dieser Dreigipfelfahrt in « der Welt über der Welt » glücklich erkennen, wie reich er durch die eigene Tat am Berg beschenkt wurde.