Über die Jungfrau mit Ski
Von Otto Gerecht.
Die grossen klassischen Fahrten im Fels und Eis sind es auch heute noch, die auf den jungen ernsthaften Bergsteiger einen eigenartigen starken Reiz ausüben. Man wandelt in den Spuren der Pioniere, der alten grossen Bergsteiger. Ihr Vermächtnis bleibt gewahrt.
Es war einer jener Sommerabende am Fusse der Jungfrau. In stiller Andacht sitzen wir vor der Guggihütte. Sanft scheinen die steilen Gletscher im Zwielicht. Das Abendrot nimmt den Konturen die Härte. Hier fassten wir auch den Entschluss, die Nordflanke der Jungfrau, die Guggiroute, im nächsten Winter auf Ski zu versuchen. Als wir uns am nächsten Morgen einen Weg durch den zerrissenen Eisbruch des Kühlauenengletschers bahnten, um auf der Ostroute Hans Laupers den Gipfel zu erreichen, kehrten die Skipläne wieder in das Reich der Phantasie zurück.
Zwei Jahre später! Wiederum hatten wir ein paar prachtvolle Maitage im Oberland verlebt, hatten Schreckhorn, Agassizhorn und Grosses Fiescherhorn bestiegen. Als Abschluss unserer Urlaubszeit und gleichzeitig als Krönung unseres Bergwinters wollten wir am nächsten Tage nun doch noch die tollste Skiabfahrt des Oberlandes, die Jungfrau über das Guggi, wagen.
Wir verlassen um halb 6 Uhr das Berghaus am Jungfraujoch und laufen, nur mit dem Nötigsten beladen, über die Hänge zum Rottalsattel. Der Schnee ist hart; wir stehen 755 Uhr auf dem Gipfel der Jungfrau. Nach einer halbstündigen Rast machen wir uns an die Abfahrt in die schaurig kalte Nordflanke. Zuerst verschneite Felsen, dann ein Sprung über den Bergschrund, und schon rutschen und zirkeln wir den Hochfirn hinab. Der Schnee ist beinhart, kaum greifen die scharfen Metallkanten unserer Ski. Wir fahren am Seil, der letzte mit dem Pickel in der Hand.
Ein Ruck — jäh bricht das steile Firndach ins Silberlauitobel ab. Von Zeit zu Zeit lösen sich Eis- und Schneemassen von der hängenden Gletscherzunge und donnern ins Rottal hinab. Wir müssen nach rechts auf den Grat, welcher zur Silberlücke hinunterführt. Dieser Gang ist heikel. Wächten lauern über der Ostwand; die Felsen der kleinen Türme sind noch tief verschneit. Unbändige Steigerlust erfüllt uns, schneller pulst das Blut durch die Adern. Der alte Kampfgeist kehrt wieder. Längst haben wir die Ski mit den Steigeisen vertauscht und turnen über die Gratzacken. Unsere langen Bretter sind oft lästig; zusammenlegbare wären j etzt besser, aber für uns arme Schlucker immer noch zu teuer und auch zu schwer. Wir warten immer noch auf die Ideallösung.
Tief unter uns lockt die Silbermulde. Eine steile Schneezunge zieht zu ihr hinab. Aber wir denken an die Wächten, an den klaffenden Bergschrund unterhalb der Silberlücke und steigen in die Ostwand ein. Der Schnee ist trittsicher. Zwei Seillängen kommen wir ohne Stufen vorwärts, doch dann wird die Schneeauflage dünner, und darunter ist hartes, blankes Eis. Wir hatten zu früh triumphiert. Jetzt heisst es eben hacken, alle 10 m auch eine Stufe für die Ski, die wir vorsichtshalber an ein Seilende angebunden haben. Am Bergschrund müssen wir sehr vorsichtig sein, damit die riesige Oberlippe nicht zusammenbricht. Bald stehen wir drüben. Es war doch die günstigste Stelle, stellen wir fest.
Viereinhalb Stunden nach Verlassen des Gipfels fahren wir durch führigen Sulz über die Silbermulde. Erst der Gletscherabbruch zwischen Klein Silberhorn und der Jungfraunordwand hemmt den rasenden Lauf. Um einen Einblick in diese Eiswildnis zu bekommen, besteigen wir einen Serac und können so von hoher Warte den Schlachtenplan entwerfen. Im Sommer kann man selten durch diesen Bruch, ohne mit grossen Schwierigkeiten zu kämpfen. Meistens zieht man den Weg über die messerscharfe Schneide des Silberhornostgrates vor. Fast senkrecht sticht die Sonne in die Gletscher-kesseL Der Schnee wird weich. Überall drohen einsturzbereite Eistürme und Schneebrücken. Noch ist es fahrbar. DaEine vier Meter hohe senkrechte Eiswand und darunter ein klaffender Schrund. Ski zusammen, ein Sprung ins Leere, dann ein scharfer Christiania und ein harter Ruck am Seil. Der Rest ist wunderbar: schöne, steile Hänge im prächtigen Sulz.
Langsam trotten wir dahin, das Seil scheint aus Blei zu sein, so schwer ist es. Auf dem Schneehorn halten wir Rast. Kämpften wir bis dahin immer mit Schwierigkeiten, so können wir uns jetzt ganz dem Genuss des Schauens hingeben. Vor allem ist es der ungehinderte Blick in das weite, jetzt schon grüne Land, das unsere schneegewohnten Augen suchen.
Nachmittags 3 Uhr schlagen wir die Wächte am Schneehornsattel ein. Dann beginnt das schwierigste Stück der ganzen Fahrt. Hatte es damals im Sommer dreiviertel Stunden für den Aufstieg gekostet, so brauchten wir jetzt zweieinhalb Stunden hinab. Die Rinnen waren voll tiefen, faulen Schnees und die Felsen mit Wassereis überzogen. Darüber flössen lustig plätschernd die Schmelzwasser. Während der nächsten Stunden konnte ich nicht froh werden. Wie ein Damoklesschwert hing drohend die riesige Wächte über uns, bereit, uns mit in die Tiefe zu reissen. Es war wie einst an der Aiguille Blanche de Peuterey, als einer meiner Freunde haarscharf dem sausenden Geschoss entging. Wir Bergsteiger brauchen trotz all unserem Mut und Können auch Glück, und ich bin dem Schicksal jedesmal dankbar, wenn wieder solch eine brenzlige Situation gut abgelaufen ist.
Tropfnass landen wir endlich um 6 Uhr auf dem Firnplateau des Kühlauenengletschers. Kaum sind wir im Eisabfall des Gletschers, bricht der Nebel ein. Vorsichtig tasten wir abwärts. Plötzlich wird es rings um uns lebendig. Krachend stürzen Eistürme zusammen. Es wird unheimlich. Keuchend hasten wir aufwärts, fliehen aus der grauen Hölle. Wieder auf dem Firnfeld, bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten, und sollte es Morgen werden. Dann sitzen wir unter der wärmenden Hülle des Zeltsacks auf unseren Ski. Über uns die senkrechten Eiswände des Jungfrau]ochs. Es kracht! Mit einem Ruck fahren wir hoch, versuchen das graue Dunkel mit unseren Blicken zu durchdringen, aber es kracht drüben am Mönch. Über uns bleibt es ruhig. Es scheint Stunden zu dauern. Hier und da schimmert der Nollen durch, dann sehen wir wieder unsere Abstiegsspuren über die Schneehornostwand. Aber unter uns bleibt es grau.
Es wird warm und gemütlich. Mattes Licht schimmert durchs Zelt-fenster. Draussen wallen die Nebel, lecken an den Bergwänden empor und lösen sich langsam auf.
Es ist spät, schon 830 Uhr. Wie ein glühender Feuerball geht fern im Westen über den Höhen des Jura die Sonne unter. Schnell sind wir auf den Brettern, fahren über schmale Schneebrücken, schwingen durch tiefe Mulden und stürmen wie besessen unter phantastisch geformten Eistürmen dahin. Frei und ungehindert fahren wir mit dem sinkenden Tag um die Wette. Jetzt löst sich die Spannung der letzten Stunden. Ein wrahrer Rausch hat uns gepackt. Schnell, immer schneller rasen die Ski über den Guggigletscher. Spalten werden übersprungen und steile, lange Hänge im Schuss genommen. Mit jagenden Pulsen und bebenden Knien stehen wir vor der alten Guggihütte. Es war einfach herrlich!
Im Halbdunkel schieben wir uns vorsichtig über die nördlichen Ausläufer des Mönch. Schon auf dem Eigergletscher ist es finstere Nacht. Ich sehe nur hin und wieder etwas Schwarzes ( Spalten ), dann schwinge ich ab. Abends 10 Uhr betreten wir das Hotel Eigergletscher. Wir möchten schlafen, ausruhen. Doch morgen ist Montag, Arbeitstag. Noch in der Nacht torkeln wir nach Grindelwald, rattern über den Brünig nach Zürich. Nach vierzig Stunden dürfen wir ruhen, schlafen den tiefen, traumlosen Schlaf des Wunschlosen, des Menschen, dessen Sehnsucht wieder einmal in Erfüllung gegangen ist.