Tage in den kanadischen Rocky Mountains
VON FELIX LARGIADÈR, ZÜRICH UND MINNEAPOLIS
Mit 2 Bildern ( 94/95 ) Es gibt im Leben des Bergsteigers Momente, die für immer in der Erinnerung haften bleiben, als strahlende, rasch verklärte Höhepunkte im Erleben unserer so unerklärbaren Leidenschaft. Es können dies bedeutsame Momente sein: der Ausstieg aus einer schweren, lang ersehnten Wand, oder kleine unscheinbare Begebenheiten, ein kurzer, dem Alltag abgestohlener Nachmittag in den heimatlichen Bergen. Und mir scheint es, dass die erste Begegnung mit einem fernen, unbekannten Gebirge auch zu diesen Höhepunkten gehöre, die Begegnung mit Bergen, die man noch nie gesehen und von denen man vielleicht noch nie gehört hat, die man aber trotzdem sofort erkennt. Wie sagte damals Helene in der Sierra Nevada, als wir nach dem Besuch der grossen Naturwunder Utahs und Arizonas und tagelanger Fahrt durch die Wüste am Mount Whiney kampierten, damals, als das, was hoch über uns im Nachthimmel weiss leuchtete, keine Wolken waren, sondern Felswände: « Jene Wunder bestaunt man, dieses erlebt man. » Und dies wiederholte sich später wieder, als wir durch Alberta westwärts fuhren, und plötzlich in der Ferne eine Mauer auftauchte, ohne Übergang am Rande der Ebene aufgebaut, eine Mauer, die sich beim Näherkommen in Zacken und Gipfel auflöste: die kanadischen Rocky Mountains! Dies war der Auftakt zu einem unvergesslichen Bergabenteuer, ein Auftakt, der seinen Höhepunkt erreichte, als uns der Helikopter am nächsten Tag, kurz vor Eindunkeln, nach langem Suchen vor dem verhüllten Ziel, durch eine wolkenfreie Lücke ins Basislager am Clemenceau-Gletscher brachte. Was geblieben ist? Einige Tagebuchblätter, einige Bilder, abgeschabte Kleider und ruinierte Schuhe - und strahlend unvergessliche Erinnerungen.
8. August 1964 4.30 Uhr: Tagwache im Hochlager am Mt. Clemenceau, nach gewitteriger Nacht. 3 Stunden später am ersten Eisbruch des Tigre-Gletschers im dicken Nebel. Die Kameraden wollen die weitere Wetterentwicklung abwarten, wir spuren aufwärts, ohne Sicht, durch den Eisbruch, über das Plateau, den zweiten Eisbruch hoch. Die Schneefälle der vergangenen Tage haben jede Verharschung verhindert.
11.00 Uhr: Die Sicht ist wieder klar. Tief links unter uns haben die Kameraden das Schneeband der Normalroute erreicht. Wir sind hoch oben in der Westflanke, in steilem Firn, der Steigeisengehen ohne Stufenschlagen erlaubt. Eine Schrägtraverse, eine Horizontaltraverse, der Bergschrund, darüber eine Eiswand. Einige Stufen, einige gehackte Handgriffe, zwei Schrauben - nach drei Seillängen stehen wir auf dem noch nie begangenen Südgrat.
12.30 Uhr: Wieder ohne Sicht. Im Vertrauen auf die auf dem Gipfel anzutreffenden Spuren steigen wir weiter. Grat stark gewellt, verwächtet. Der eisige Wind wird stärker, die Grenzen der Wächten werden undeutlicher und trügerisch, Seilsicherung. Plötzlich ein Knall - die ganze Wächte neben mir bricht ab. Instinktiv springe ich weg, obwohl mein Stand sicher ist. Weiter, aufwärts. Später sondiert Helene den Wächtenrand mit dem Pickel - abermals ein Knall, und mit dumpfem Rollen verschwindet ein Stück in der jäh abfallenden Ostwand. Weiter, kalter Sturm, leichter Schneefall.
14.45 Uhr: Wir stehen auf dem Gipfel des Mt. Clemenceau, des vierthöchsten Berges der kanadischen Rockies. Von Spuren ist wirklich kein Zeichen vorhanden; auf allen Seiten verlieren sich steile Firnwände im Unsichtbaren. Wir steigen sofort wieder ab, halten uns absichtlich stark süd- westlich, um das Band der Westflanke nicht zu verpassen, und enden prompt über einem Eisüberhang. Die Lage wird ungemütlich. Wir ziehen alle Reservekleider an, steigen etwas hoch, queren, steigen vorsichtig ab - abermals ein Überhang. Immer noch Sturm, keine Sicht. Aufstieg, Querung, schräger Abstieg: das Band! Abstieg im Zickzack, Abbruch zur Rechten, Eiswand zur Linken, hin und her - und endlich die Spuren; hier sind die Kameraden umgekehrt.
18.30 Uhr: Am Depot. Die Wolken haben aufgerissen, von Südwesten zieht jedoch eine Schlechtwetterfront auf. Wir verständigen die Kameraden oben im Hochlager durch Zuruf, packen auf, marschieren den Gletscher hinab ins Basislager, wo Charly schon die Suppe bereithält.
11. August 1964 6.00 Uhr: Einstieg in den Duplicate-Eisbruch, 3 Stunden nach dem Abmarsch vom Basislager. Wolkenloser, kühler Morgen. Das spröde Eis knirscht unter den Eisen, zerspringt unter dem Pickel. Bald liegt Schnee auf den Spalten. Wir binden uns zu einer einzigen Seilschaft zusammen, mit Joe, dem japanischen Arzt, und Scipio, dem italienischen Ingenieur.
12.25 Uhr: Der knietiefe Neuschnee in der Mulde und in den Flanken hat unserem Fahrplan übel mitgespielt. Wir stehen auf dem Westgrat des Shakleton, und erst die letzten zwei Seillängen, eine steile Eiswand, waren schneefrei. Der Weg vor uns: ein Firngrat, rechts auf Felsen aufgebaut, links in riesigen Wächten die Eiswand dominierend, mit messerschafer Grenze zwischen blendendem Weiss und blauer Wand, wie der Biancograt, nur steiler und schmaler. Die steilsten Aufschwünge haben keine Wächte, erlauben die ideale Spur auf der Kante, frei und exponiert, doch anstrengend.
13.45 Uhr: Auf dem Westgipfel des Mt. Shakleton. Die folgende Traversierung des nur noch wenig ansteigenden Gipfelgrates ist reiner, müheloser Genuss. Links die blanke Eiswand, rechts Firn und Fels, die nahen Berge bereits unter uns, in der Ferne ungezählte Gipfel, darunter die höchsten vier der Rockies: Robson, North Twin, Columbia und Clemenceau.
Der Hauptgipfel. Keine Wolke trübt den Himmel, die Stille ist vollständig. Dies ist der Höhepunkt!
15. August 1964 7.45 Uhr: Aufbruch vom Basislager. Lucio, der Organisator der Expedition, begleitet uns auf dieser letzten Tour. Das schlechte Wetter der vergangenen Tage hat nur gerade die Begehung des Brouillard-Nordgrates erlaubt; für heute steht dafür eine Erstbesteigung auf dem Programm.
10.25 Uhr: Anseilen auf dem Gletscher, der zum Sattel zwischen Chetin und Shipton emporführt. Helene führt, das breite Couloir hinauf, über den hohen, steilen Bergschrund, zum Sattel, auf den Ostgrat, über leichten Fels und später Schnee gegen den Gipfel. Der Aufstieg ist rasch und fast ereignislos. Nur fast; denn Lucios Mütze wird fortgeblasen, so dass sie in der Flanke im Winde tanzt, bald rasch emporstrebend, dann wieder langsam abgleitend.
13.10 Uhr: Auf dem Gipfel des Mt. Shipton. Wir haben Zeit und Laune, es gemütlich zu machen, bauen einen Steinmann, kochen Kaffee, schauen in die Weite, bleiben für eine volle Stunde.
Abstieg trotz Rettungsaktion für die Mütze rasch und bequem. Schon nach einer Stunde rolle ich zum letztenmal das Seil auf; Lucio nimmt eben das zweite Hundert Aufnahmen des Tages in Angriff. Weiter auf dem nun schon vertrauten Wege, die glatte Strasse des Tusk-Gletschers hinab, über die Moräne, durch das Spaltenlabyrinth des Clemenceau-Gletschers, über den Gletscherbach und die Eisbrücke, auf der markierten Spur durch den Randeisbruch und zum letztenmal die üble Gegensteigung hinauf ins Basislager.