Streifzüge im Säntisgebiet
3Von Wolfgang Schwab
Mit 1 Bild ( 131).Zürich, Sektion Uto ).
« Ihr Berge des Herrn, Benedeiet den Herrn 1 » So sprach Ekkehard, als er am Wildkirchli stand und in das Herz des Alpsteins schaute.
Das Säntisgebiet, auch Alpstein genannt, ist der nördlichste Abschnitt der Schweizer Alpen und wird vom Appenzeller Vorland und dem sanktgallischen Rheintal umgrenzt. Die Eintrittspunkte sind im Norden und Westen Appenzell, Weissbad, Urnäsch und Rietbad, im Süden und Osten Unterwasser, Wildhaus und Sax. Das Säntisgebiet ist eines der schönsten Faltengebirge der ganzen Erde, und darauf beruht auch die reiche Gliederung seiner drei Ketten und die Vielgestaltigkeit seiner Formen. Die Verwitterung schuf bei weicherem Gestein lange Felsmauern und flachere Gebilde, während sie bei steiler Lagerung der Schichten fast nicht einzuwirken vermochte. Der widerstandsfähige Schrattenkalk hat die schroffen, trotzigen Türme gebildet.
Zur Zeit Ekkehards gehörte der grösste Teil des heutigen Kantons Appenzell, « des Abtes Zelle », dem Kloster St. Gallen. Im Jahre 1597 fand die Zweiteilung in Halbkantone statt. In Ausserrhoden bildet hauptsächlich die Textilindustrie die Erwerbsquelle der Bevölkerung, während in Innerrhoden, dem gebirgigen Teil, noch Käserei und Viehzucht betrieben wird.
Die Alpen - 1943 - Les Alpes.24 STREIFZÜGE IM SÄNTISGEBIET.
Im Appenzellerland hat sich dank seiner Lage vor dem abschliessenden Bergwall des Alpsteins viel Volkstümliches erhalten. Das. Volk ist frohmütig und heiter und wegen seines träfen Witzes weithin bekannt. Von welcher Richtung wir auch ins Land kommen, überall fallen uns die blitzblanken Häuschen auf, die die saftgrünen Matten schmücken. So bildet die hügelige Landschaft mit den vielen Tälern und Tälchen ein Kleinod sondrer Art. Von allen Gipfeln aber schauen wir zum Silberspiegel des Bodensees, weit hinein nach Vorarlberg und Tirol, zum Bernina, zum Ortler.
Der Säntis ( 2504 m ) ist der höchste Gipfel und trägt die Wetterwarte, die den Bergsteigern Jahr für Jahr so wichtige Dienste leistet. Die schönsten Anstiegsrouten gehen von Appenzell aus.
Von Appenzell fahren wir mit der Bahn bis Wasserauen, wandern empor zum still-heiteren Seealpsee. Über eine hohe Felswand leitet der Pfad hinauf zur Meglisalp. Nachher stehen wir am Firnhang des Grossen Schnees, und zum Schluss führt ein Steig zum Säntisgipfel.
Eine romantischere Route, von welcher man die erstere überblicken kann, beginnt in Weissbad. Durch lichten Bergwald zieht sich der Pfad zum Äscher an der hohen Felswand, über der die Ebenalp thront. An der Wand führt ein Holzsteg aufwärts zu den beiden Ebenalphöhlen, zum Wildkirchli. Dort lebte in der Urzeit der Homo primigenius und betrieb die Bärenjagd. Nach Durchschreitung der Höhle bei Laternenlicht stehen wir bald auf der Hochfläche der Ebenalp. Nun vorbei an den Altenalptürmen. Über breiter Mauer bilden die drei Türme rassige Klettergrate. Wir erreichen den Öhrlisattel neben dem leicht erklei terbaren Riesenzacken des öhrli und schauen nun den Säntis, an den sich das Firnfeld des « Blauen Schnees » schmiegt. Von der Scharte zwischen Girenspitz und Säntis führt eine 120 m lange, versicherte Felsentreppe über den Nordgrat zum Säntisgipfel.
Von Urnäsch-Schwägalp bringt uns die Säntis-Schwebebahn in nur 10 Minuten Fahrtdauer über seine Nordwand zum Gipfel, die als 1100 m hohe Riesenmauer das Urnäscher Gelände überragt.
Der alpine Skifahrer wählt vorzugsweise die Abfahrt vom Säntis nach Weissbad. In Schuss und Bogen fahren wir über den Grossen Schnee hinab und durch schmales Tal auswärts zur Meglisalp, die färben- und sonnenfroh hereinblitzt. In einer Stunde steigen wir zum Bötzelsattel auf und sausen dann ins Widderalptal hinab, bis wir im lachenden Sämbtiser Tal Auslauf finden. Über die Eisdecke des Sämbtiser Sees gleiten die Bretter. Noch führt uns kurze Gegensteigung durch Bergwald zu ein paar Alphütten, dann rundet sich unsere Spur in weitem Bogen nach Brülisau, wo die brausende Fahrt stoppt. Vom Höhepunkt der Strasse nochmals kurze Abfahrt nach Weissbad. Lawinensichere Verhältnisse sind für eine winterliche Durchquerung des Alpsteins Bedingung.
Dem Säntis am nächsten ist sein « Kanzler und Busenfreund », der Altmann ( 2438 m ). Vom Säntis her wandern wir zu ihm auf dem gangbar gemachten, prächtigen Lysengrat, erreichen dann in leichter Kletterei über seine Nordflanke den Gipfel. Freunde schwierigerer Felsfahrten gehen ihn über den Ost- oder den Westgrat an. Der Altmann wurde bereits im Jahre 1825 erstmals bestiegen.
Verfolgen wir die vom Girenspitz nach Westen streichende Kette, so kommen wir über die Gratsenke der Tierwies an die Silberplatte, die uns durch die riesige, glänzende Kalkplatte auffällt, die ihre Nordabdachung bildet. Das Weglein verläuft weiter entlang den Silberplattenköpfen. Diese sechs Türme und Türmchen, die sich dicht an die Silberplatte anschliessen, werden von geübten Kletterern gerne überschritten und besitzen im besondern einen hübschen Kamin und einen Hangelriss. Wir können noch einen Abstecher auf den leicht ersteiglichen Sioss machen und stehen dann in der nächsten Grateinsenkung, dem Lauchwiessattel. Nun wird der Grat schärfer, und seine Begehung erfordert einige Klettergewandtheit. Wir steigen zuerst auf den Gamskopf und überqueren dann in leichter Kletterei den Schwarzkopf, um nunmehr über begrasten Grat zu den Stollen aufzusteigen. Über Grashang fällt der Pfad in schmale Mulde, dann gewinnen wir wieder den Grat, der zum Lütispitz zieht. Als ebenmässig geformte Pyramide bildet er den westlichsten Endpunkt des Alpsteins gegen das Toggenburg. In kurzer, leichter Kletterei wird sein Gipfel erreicht; wie ein aufgerollter, buntbarbener Teppich liegt die weite Landschaft vor uns. Über blumigen Rasen pilgern wir hinab zum Windenpass, um uns ins Toggenburg nach Unterwasser oder Alt-St. Johann zu wenden oder auf der Nordseite des Passes nach Rietbad abzusteigen.
Etwa in der Mitte des ganzen Gebiets liegt der Hundslein. Um zu ihm zu gelangen, wandern wir von Brülisau durchs Brültobel hinauf ins liebliche Tal des Sämbtiser Sees. Am Talschluss führt uns rauher Felspfad höher zum ernsten, geheimnisvoll anmutenden Fählensee. Keiner der beiden Seen hat, wie man meinen sollte, seinen Ablauf im Sämbtiser Tal; vielmehr besitzen sie unterirdische Wasserläufe, die unter der südlichen Bergkette durchfliessen und erst im Rheintal bei Sennwald wieder als Quelle zutage treten. Hoch über dem Fählensee wird auf malerischem Aufstiegsweg der Gipfel des Hundsteins erreicht. Einen Steinwurf weiter die Freiheit weist uns einen kurzen, luftigen Klettergrat, dann träumen wir einsam auf dem Rasenplätzchen ihres Gipfels. Dann und wann sichten wir ein Rudel Gemsen, ein Murmeltier oder hören die Alpendohlen krakeln. Auch der Steinadler ist hier noch zu Hause.
Sind wir vom Hundstein oder der Freiheit zum Widderalpsattel herabgestiegen, so können wir eine genussreiche Höhenwanderung über die Marwies und den Alpsiegel anschliessen. Der Pfad windet sich über die Rasenhänge der Marwies hinauf, wo wir bunten Blumenschmuck treffen. Die Flora ist im ganzen Säntisgebiet überreich und hat wesentlichen Anteil am Gestehen reizvoller Landschaftsbilder. Auch bei Kletterfahrten sehen wir immer wieder im Gefels eine Nische, eine Ritze, wo ein Pflänzlein gedeiht, ein süss duftendes Fluhblümchen, ein tiefblauer Enzian oder die farbigen Sternlein des Manns-schilds. Vom Gipfel der Marwies geht es weiter über die auf- und absteigenden Wellen des grünen Gratkammes. Wandern und schauenDie nun folgende Felsmauer des Bogartenfirstes umgehend, treten wir auf den Alpsiegel über. Legföhren und duftender, lichter Arvenwald säumen den Pfad, der hoch STREIFZÜGE IM SÄNTISGEBIET.
überm Sämbtiser Tal dahinzieht. Von den Alpsiegelhütten wenden wir uns zum grossen Alpsiegelplateau, das rings in hohen, schroffen Wänden zum Vorland abbricht. So ist die Schau in lotrechte Tiefe, wo Häuser und Hüttlein wie Spielzeug erscheinen, unvermittelt und berückend. Ein gutangelegter Steig führt in einer Steilschlucht inmitten des Felswalls hinab, dann über Rasenhänge auf die Strasse zwischen Brülisau und Weissbad.
Ein anderer, sehr reizvoller Höhenweg führt vom Hohenkasten, dem nördlichsten Eckpfeiler des Alpsteins, zur Saxerlücke, die den Übergang ins Rheintal vermittelt. Immer ist unser Auge gesättigt. Nach der riesigen Staubernkanzel, auf die Kletterwege führen, kommen wir an das Massiv der Häuser. Nur kahle, pralle Wand tritt, uns vor Augen, oben aber überrascht uns ein üppiges, grünes Plateau, das reich mit Legföhren und Alpenrosen geschmückt ist.
Last not least! Stehen wir einmal in der Saxerlücke oder, von Wildhaus kommend, im Roslensattel, so schauen wir das zauberhafteste Bild, das uns der Alpstein schenkt. Denn über dem schmalen Hochtal der Roslenalp recken sich nebeneinander acht wilde, kühne Türme in silbergrauem Fels, fremdartig und lockend. Es sind die acht Kreuzberge, die uns wähnen lassen, im Märchenland der Dolomiten zu sein. Sie sind ein Kletterparadies; von allen ihren Gipfeln fällt der Blick, über einen Absturz von 1500 m, weit und tief hinab ins Rheintal, auf das Glitzerband des Rheins.
Am leichtesten ist der Anstieg durch den Westkamin des 3. Kreuzbergs; als mittelschwer gelten die Normalrouten auf den 2., 4., 7. und B. Turm. Am schönsten ist wohl der 5. Kreuzberg. Wir erklettern ihn über seinen prächtigen Westgrat, den Grat der Gräte im Kreuzbergrevier; zum Schluss schreiten wir auf langem Band zum Gipfelblock, den eine knarrende Wetterfahne krönt; über Rinne, Band und Kamin der Nordwand steigen wir ab. Für Freunde schwerer Wandklettereien sind die Nordwände des 2., 3. und 4. Kreuzbergs da. Eine heikle Sache ist die Überquerung der 8 m breiten Gratscharte am 1. Kreuzberg; sehr schwierig sind die Anstiege auf den 6. Turm. Am allerschönsten ist natürlich die Überschreitung sämtlicher Kreuzberge vom ersten bis zum achten.
Vom Roslensattel steigen wir auf den grünen Dreikant des Mutschen, erfreuen uns bei der Gipfelrast an dem Vielerlei, das die Natur ringsum zu plastischem Gemälde vereinigt. Wir sehen das Antlitz des Alpsteins ausgebreitet und aufgelöst in Gipfel, Gratrücken, grüne Wälder und klare Seen. So bietet sich uns Schau in zweifaches Erlebnis: hier Kletterfreude an wechselnder Felsform, Beglückung im Äther — dort beschauliches, besinnliches Wandern und Geruhsamkeit. Beides führt uns zum Herzen der Natur.