Schweizerische Grönlandexpedition 1938
Mit 6 Bildern.Von Karl Baumann.
Mont Forel und Lauperbjoerg.
Schon der 2. August sieht uns unterwegs zum Mont Forel, dem alpinistischen Hauptziel unserer Expedition. Bisher haben wir ihn nicht zu Gesicht bekommen können, da die unseren Anmarschgletscher nördlich begrenzenden, gegen 1000 m hohen Felsmauern keinen Einblick in das Massiv gestatteten. Wir sind deshalb zunächst über die zu ergreifende beste Zugangsroute durchaus im unklaren. Ja, trotz längerer Beratungen können wir uns nicht einmal über den genauen Standort unseres Lagers einigen, da uns das sehr summarische Kartenbild im Stich lässt.
Um alle Chancen zu wahren, greifen wir den Berg gleichzeitig von zwei verschiedenen Seiten an. Die Bergsteigergruppe Coninx, Landolt, Wyss umgeht den Berg bis an seinen Nordfuss und versucht über die vom englischen Himalajamann Wager erkundete Route den Gipfel zu erreichen. Wir andern gehen direkt vom Lager aus über die steile und zerklüftete Südseite los.
André Roch, der Leiter unserer Seilschaft, wird die Besteigung des Mont Forel in einem ausführlichen Bericht schildern. Ich kann mich deshalb auf einige knappe Angaben beschränken.
Unser Weg führt zunächst über einen steilen Gletscher auf die Höhe der vorgelagerten Felsbarriere. Ganz unvermittelt stehen wir hier plötzlich dem Gipfelaufbau des Mont Forel gegenüber. Die Formation dieses Berges ist typisch für die an der Grenze des Inlandeises gelegenen Gipfel. Ein steilwandiger Felsquader ist von einer flachen Eishaube gekrönt. Die Hauptschwierigkeit der Besteigung besteht in der Überwindung des allerseits äusserst steilen, teilweise sogar überhängenden Abbruches dieser Eishaube. Eigentliche Gräte, die den Zutritt erleichtern würden, besitzt der Berg kaum.
Zu unserer Freude können wir feststellen, dass von unserem Standort ein wenn nicht leichter so doch allem Anschein nach bestimmt gangbarer Weg zum Gipfel führt. Über einen Sekundärgrat gelangen wir fast horizontal in etwa halber Wandhöhe an den nur schwach ausgeprägten Südgrat des Mont Forel heran. Ein steiler, plattiger Felsturm kann nur durch Abseilen überwunden werden. Der Südgrat selbst bereitet keine besonderen Schwierigkeiten mehr, sondern führt uns in mittelschwerer Kletterei in grobblockigem, griffigem Gneis bis über die Höhe des Abbruchs der Eiskalotte. Es ist dies wohl die einzige Stelle am ganzen Berg, wo dieser Verteidigungsgürtel eine Lücke aufweist. Durch einen schwierigen, vereisten und griffarmen Stemmkamin erzwingen wir uns den Austritt auf das topfebene Gipfelplateau.
Nach achtstündigem Aufstieg hisst die Dreierpartie Roch-Pidermann-Baumann auf dem Gipfel des Mont Forel 3360 m die Schweizerflagge. Unsere Freude über den schönen Sieg ist gross. Wir queren das Gipfelplateau bis zu den Abstürzen der Nordseite, um Ausschau nach der anderen Gruppe zu halten, können aber wegen aufsteigender Nebel nicht viel sehen.
Leider hat sich im Laufe des Tages das Wetter verschlechtert. Nebelkappen verhüllen die Gipfel der umliegenden Berge, auch vor dem endlosen weissen Wellenmeer des Inlandeises fällt bald der graue Vorhang. Langsam beginnt es zu schneien.
Ohne uns lange aufzuhalten, treten wir den Rückzug an. Wenn die Sturmbraut vom Inlandeis her über uns kommen wollte, so wäre es hier oben zweifellos alles andere als gemütlich. Unaufhaltsam fällt Schneeflocke um Schneeflocke, und ein weisses Leichentuch breitet sich über Fels und Eis. Gespenstische Stille herrscht, der frisch gefallene Schnee erstickt jeden Laut. Unwirklich grau in grau tauchen die Felsen aus dem Nebel auf.
Der Abstieg ist mühsam. Scheinbar zahllose Male müssen wir die Eckensteiner wechseln. Der Neuschnee pappt zwischen den Zacken zu gefährlichen Klumpen zusammen. Endlos dehnen sich die steilen Eishänge über unserem Skidepot. Erst die letzten 500 m können wir in sausender Abfahrt zurücklegen. Direkt neben den Zelten endet unsere Schussfahrt.
In unserer Abwesenheit hat ein Eisbär unserem Lager einen kleinen Besuch abgestattet. Die andere Bergsteigergruppe wird für ihren alpinistischen Misserfolg ( die Nordroute erwies sich wegen der überhängenden Eiskalotte als ungangbar ) durch das ungewöhnliche Erlebnis einer Eisbärenjagd wenigstens einigermassen entschädigt. Mit Hilfe der Hunde gelingt es ihr zusammen mit Larzi und Perez nach stundenlanger Verfolgung den Bären in der Ostwand des Mont Forel zu stellen, und mit sechs Schüssen aus unserer einzigen Waffe, einem kleinen Trommelrevolver, zu erlegen. Das frische, nahrhafte Eisbärenfleisch bildet eine hochwillkommene Nahrung für Menschen und Hunde.
Am 4. August verlassen uns Perez und Wyss mit einem Schlitten, um auf der Suche nach der höchsten Region des Inlandeises weiter nach Nordwesten vorzustossen. Das bisher recht beständige Wetter wird in den folgenden Tagen leider unsicher. Unsere Zelte biegen sich unter der Last des Neuschnees, Lawinen donnern und von Gipfeln und Graten wehen gewaltige Schneefahnen. An eine Wiederholung der Forelbesteigung ist bei diesen Verhältnissen nicht zu denken. Immerhin setzen wir unseren Fuss noch auf zwei jungfräuliche Dreitausender: Nunatak Perfekt und Fruebjoerg. An der rauhen Grenze des Inlandeises auf über 3000 m Höhe blicken uns aus den Felsnischen des Perfekt Blumenaugen an: leuchtend gelbe Polar-anemonen sind Boten aus einer Welt, die dem Leben freundlicher gegenübersteht als unsere in eisiger Umklammerung erstarrte Gletscherregion.
Unsere Rationen werden knapp und knapper. Schon mehrmals hat uns eiserne Notwendigkeit an Ruhetagen nur halbe Kost erlaubt. Ein Biskuit, ein Zucker, ein Täfelchen Schokolade gewinnen ungeahnten Wert. Langsam wird der Rückzug zu den nächsten Nahrungsmitteldepots unvermeidlich.
Am 7. August verlassen wir unser gastliches Forellager und richten unsere Schritte talwärts. Da die Inlandeisgruppe erst später wieder zu uns stossen wird, hat unser einziger Schlitten eine gewaltige Last zu tragen. Harte Arbeit für die Hunde, denn der schwere Schlitten bricht immer wieder durch die nur schlecht gefrorene Kruste des tiefen Neuschnees hindurch. Glücklicherweise haben sie sich in den letzten Tagen bei Bären-schinken und wenig Arbeit gut von den Strapazen der Hinreise erholen können.
Ein fahler Morgen dämmert, als wir auf dem Fem-Stjernen einfahren. Tiefhängende Nebel schleichen herum, die Luft ist schwül und drückend. Immer wieder zwingen uns Bäche zu grossen Umwegen. Unser Schlitten bricht in heimtückische Gletschersümpfe ein, und nur der vereinten Kraft von Hunden und Menschen zusammen gelingt es, ihn wieder aus der nasskalten Umklammerung zu befreien.
Kaum haben wir unser Lager aufgeschlagen, so beginnt es zu regnen. Vierzig Stunden lang trommeln die Regengüsse auf unsere Zelte. Grau in grau lastet die düstere Himmelsglocke auf einem engen Gesichtskreis, denn schon nach wenigen Metern verlieren sich unsere Blicke im formlosen Nebel. Der ruhende Gletscherwassertümpel zu unserer Seite verstärkt noch den Eindruck trostloser Öde. Erstaunt betrachten wir unsere bereits etwas bärtigen Häupter, die in dem kraftlosen Lichte doppelt gealtert erscheinen. Wie lang sind solche tatenlose Schlechtwettertage. Kaum je haben wir stärker empfunden, was es heisst, Hunderte von Kilometern von der bewohnten Welt abgeschieden zu sein.
Noch einmal, am Fusse des P. 2580, werden wir zwei Tage lang vom schlechten Wetter in unsere Zelte gebannt. Bei dichtem Nebel ziehen wir schliesslich los, nur um einmal die Last der nachgerade chronischen Untätigkeit abzuschütteln. Zwei kleine Gipfel, Trabanten des mächtigen P. 2580, sind unsere Ziele.
Gross ist die Freude, als sich nach einigen Stunden langsam die Nebel lichten. Zuerst zaghaft, dann immer strahlender und sieghafter bricht die Sonne durch. Die wogenden Nebel verändern ständig das Bild, immer neue Ausblicke auf den weiten Fem-Stjernen und den gewaltigen, wildzerrissenen Midgaardgletscher erfreuen unser Auge. Unzählige, vielgezackte Gipfel grüssen von nah und fern. Allen voran aber zieht immer wieder der benachbarte P. 2580 unsere Blicke in seinen Bann. In letzter Harmonie streben seine schwindligen Grate empor zur Spitze, die sich im klaren Blau des Äthers badet. Einsam und allein überragt er die ihn umfliessenden riesigen Gletscher um volle 1500 m, keine auch noch so geringe Nachbarschaft neben sich duldend. Unberührt und erdenfern gleissen seine Firne im klaren blauen Licht des Nordens. Es gibt nur einen Berg in den Schweizeralpen, mit dem ein Vergleich gewagt werden könnte: das Walliser Weisshorn. Aber auch hier hinkt noch die Gegenüberstellung, so weltenfern, so rein sind keine Berge bei uns.
Der 13. August sieht uns unterwegs zum P. 2580. Bald nach Mitternacht brechen wir auf. In mildem Lichte steht der Vollmond am wölken- losen Himmel Zum ersten Male seit langer Zeit sehen wir ihn nicht nur als bleiche weisse Scheibe, sondern als leuchtendes Gestirn. Der kurze arktische Sommer geht seinem Ende entgegen, bald, bald werden wieder richtige Nächte kommen.
Wir sind ausgezeichnet in Form und kommen auf dem beinhart gefrorenen Firn rasch voran. Nach zwei Stunden lassen wir unsere Ski am Fusse der sich in gewaltigen Plattenschüssen über 1000 m hoch auftürmenden Südwand zurück. Wir folgen einer nur schwach ausgeprägten Felsrippe, die etwa in halber Höhe des Berges in einer schmalen Schneezunge ihre Fortsetzung findet. In dem eisenfesten rauhen Gneis ist das Klettern eine Lust, wenn auch manchmal Griffe und Tritte nur spärlich vorhanden sind und kirchturmhohe Plattengürtel von unverschämter Steilheit und Kompaktheit die ganze Wand durchreissen. Immer wieder finden wir Risse und Stemmkamine, die die Überwindung der manchmal verzweifelt aussehenden Stellen ermöglichen. Die steile Schneezunge führt uns ohne Schwierigkeiten, aber in mühsamer Schneestampferei auf eine Schulter des schneeigen Südostgrates. Über seine ausgesetzte Himmelsleiter steigen wir geradenwegs zur leuchtenden Firnhaube des wächtengekrönten Gipfels, wo wir nach neunstündigem Aufstieg unsere Schweizerfarben hissen.
Keine Wolke trübt das klare Blau des Himmels, nicht der leiseste Schleier setzt der erhabenen Rundsicht Grenzen. Vier volle Stunden sitzen wir hemdärmelig auf dem Gipfel, wunschlos glücklich. Rings umströmen riesige Gletscher unsere stolze Pyramide. Kein Nachbar kann sich auch nur entfernt an Höhe mit unserem Gipfel messen. Einsam und stolz überragt er das Getümmel der Kleinen. Vollkommen ungehindert schweift der Blick ins Grenzenlose, über die unzähligen Gipfel und Gletscher des Schweizerlandes hinweg zum Inlandeis, ja bis zum Meer. Wir beschliessen, für den einzigartigen Berg zu Ehren unseres hervorragenden Schweizer Alpinisten und lieben Clubfreundes Dr. Hans Lauper die Benennung Lauperbjoerg vorzuschlagen.
Der Abstieg erfordert wegen des vielen Neuschnees grosse Vorsicht. Steile Blankeishänge unter einer unsicheren, rutschigen Schneeauflage nötigen zu längerer Hackerei. Dann versinken wir wieder bis zum Bauch in grundlosem Sulzschnee. Schwierige Stellen der Südwand überwinden wir leicht mit mehrmaligem Abseilen. Warmfarbige Blumenpolster bilden einen prächtigen Kontrast zu den rotbraunen Felsen und erfreuen Herz und Auge. Im milden Abendsonnengold führen uns unsere treuen Bretter zu guter Letzt in sausender Fahrt zum Lager zurück.
Weitere Fahrten.
Schon nach wenigen Stunden Schlaf brechen wir unser Lager ab und ziehen talwärts, dem riesigen Midgaardgletscher zu. Unsere Proviantvorräte gehen wieder einmal zur Neige. Erst das grosse Depot bei P. 1410 wird uns ermöglichen, unsere Bestände wieder aufzufüllen. Mehr als 800 m Steigung haben wir vom tiefen Midgaard bis zu P. 1410 mit unserem schweren Schlitten zu bewältigen.
Wir wählen diesmal die direkteste Route. Die grossen Steigungen verlangen die Aufbietung aller Kräfte von Menschen und Hunden. Vier mit Bergseilen vor den Schlitten gespannte Skifahrer und zwei Fussgänger dahinter verstärken die Zugkraft des sein Äusserstes hergebenden Hunde-gespanns. Nur zentimeterweise kommen wir an den steilsten Stellen vorwärts.
Als wir fast oben sind, scheint uns eine riesige, kirchturmtiefe Spalte, die den Gletscher in seiner ganzen Breite durchreisst, um den Erfolg unserer Anstrengungen zu bringen. Nur eine einzige Brücke, kaum breiter als unser Schlitten, überbrückt den gähnenden Abgrund. Bange Sekunden verstreichen, während Hunde und Schlitten über der fürchterlichen Tiefe schweben.
Gletscher und Berge leuchten im rosigen Licht der ersten Sonnenstrahlen, als wir den Sattel nördlich P. 1410 erreichen. Unser grosses Depot in greifbarer Nähe, können wir es uns nun gestatten, aus unseren letzten Vorräten eine Extrabelohnungsration « für gute Arbeit » zu verteilen. Eine Strecke, die uns im Hinweg fast drei Tage gekostet hat, haben wir in einer einzigen Nacht zurückgelegt.
Alle Verpflegungssorgen sind nun vorbei. Für mehrere Tage schlagen wir unser Lager am Südwestfuss des Rothorns auf. Ein Wettersturz überrascht uns gleich nach unserer Ankunft. Heulend fährt der Schneesturm über den Pass und droht unsere leichten Zelte zu zerreissen. Als die Gewalt des Unwetters nachlässt, müssen wir unser Lager aus metertiefem Neuschnee ausgraben.
Dann folgen wieder herrliche Tage voller Sonne und Klarheit. Wir besteigen verschiedene der umliegenden Berge. Was diesen Gipfeln an Höhe abgeht, das ersetzen sie durch Kühnheit der Formen und abschreckende Steilheit der betonglatten Gneismauern. Der Fels ist von einer bei uns ganz ungewohnten Kompaktheit. Zahlreiche Gürtel von haushohen, griff- und trittlosen Gneisplatten beherrschen das Bild. Nur mit grosser Mühe lassen sich Ritzen zum Eintreiben von Abseilhaken finden.
Den Felsgürtel des edel geformten Rothorns ( P. 2140 ) überlisten wir in einer steilen Eisrinne, um darauf der schmalen luftigen Firnkante des Nordgrates bis zum Gipfel zu folgen. Unvergesslich ist der Blick auf die schaurig düstere Nordflanke des P. 2264, die auch dem gewiegten Fels- und Eisgänger kaum eine Durchstiegschance bietet. Eine einzige ungebrochene Plattenflucht schiesst vom Gipfel in bodenlose Tiefen. Leider erlaubt die knappe uns zur Verfügung stehende Zeit keinen Angriff dieses Berges von der weniger hoffnungslosen Südseite aus.
Der dem Rothorn benachbarte Silberbjoerg ( ca. 2050 m, ohne Quote ) ist ein gemütlicherer Geselle, einer der ganz wenigen Berge des Schweizerlandes, wo die Ski bis hoch hinauf benützt werden können. Ein leichter, grobblockiger Grat führt uns vom Skidepot in anregender Kletterei in einer guten Stunde zum breiten wächtengekrönten Gipfel. Die ganz grossartige Aussicht steht in keinem Verhältnis zu der geringen Aufstiegsmühe. Kaum können wir uns trennen von all der Schönheit, die vor unsern Augen aus- gebreitet liegt. Ein langer Schuss lässt uns im Rückweg eine Aufstiegsstrecke von gut drei Stunden in zehn Minuten zurücklegen.
Am 19. August stösst die Inlandeisgruppe wieder zu uns. Sie hat die vermutlich höchste Region des Inlandeises erreicht, bestimmt und vermessen. Eifrig obliegen wir wissenschaftlichen Feststellungen. Schneeprofile werden gegraben, Rammversuche und Schneewägungen vorgenommen Es wird interessant sein, die Ergebnisse dieser Schnee- und Gletscherforschungen mit denjenigen von Weissfluhjoch zu vergleichen. Mehrere Gebirgsgruppen werden photogrammetrisch aufgenommen. Schwer beladen mit Gesteinsproben kehren wir von den Türen zurück.
In einer langen Etappe verlegen wir unser Lager in die Gegend des Rytterknoegtens. Dieser stolze Gipfel, der, noch vom Forel aus sichtbar, alle seine Nachbarn um mehr als Haupteslänge überragt, ist unser letztes grosses Ziel. Leider sind die hellen Polarnächte vorbei, während mehrerer Stunden ist es bereits wieder richtig dunkel. Gespensterhaft gleiten Schlitten und Skifahrer durch die in nächtlichem Schweigen erstarrte Eiswelt. Auch nicht der leiseste Strahl des Mondes beleuchtet unsern Weg, dunkle Wolken verhüllen den Himmel Glücklicherweise hat der flache Gletscher nur wenig Spalten. Trotzdem beschleicht einen ein unheimliches Gefühl, wenn man sich an der Spitze der Kolonne ins nächtliche Dunkel hineintastet. Den Steilhang, der uns im Hinweg so schwere Mühe gekostet hat, überwinden wir diesmal mit Hilfe unseres bewährten Seilbahnsystemes ziemlich rasch. Erstens haben wir nur noch zwei Schlitten an Stelle von sechs, und zweitens geht es diesmal hinunter anstatt hinauf!
Nach einigen kleineren Gipfeln besteigen wir am 24. August die kühne Pyramide des Rytterknoegtens 2020 m. Scheinbar unnahbar türmt sich der kühne Felsgipfel auf. Zu allem Überfluss prophezeit uns Larzi, unser Eskimo, einen Misserfolg, was er bisher noch nie getan hat. Mit grösster Skepsis gehen wir den Berg an. Der Geselle erweist sich dann aber als zugänglicher, als er zu sein vortäuschte. Die Felsen sind viel kleinblockiger und stärker verwittert als bei den Bergen um P. 1410. Tritte und Griffe sind reichlich vorhanden. In grossartiger, neunstündiger Kletterei ( alles in Kletterschuhen ) über den messerscharfen Nordwestgrat bezwingen wir die stolze Pyramide, die Voraussage Larzis zuschanden machend. Überwältigend ist der Tiefblick in den blauen, von Eisbergen übersähten Sermiligakfjord, grossartig die Rundsicht auf die unzähligen Gipfel des Schweizerlandes.
Letzte Etappe.
Den Rytterknoegten noch in den Knien brechen wir nach nur wenigen Stunden Schlaf frühmorgens mit dem Bewusstsein auf, noch am gleichen Abend im 40 km entfernten Basislager am Sioralikfjord eintreffen zu müssen. Verspäten wir uns, so laufen wir Gefahr, überwintern zu müssen.
Es ist gut, dass wir nicht mehr weit von der Küste entfernt sind, unsere Aluminiumschlitten sind bös mitgenommen und werden wohl nicht mehr manche Tagreise aushalten. Schon bald hält uns die Reparatur einer völlig entzwei gebrochenen Kufe fast zwei Stunden lang auf. Während wir uns langsam die Rampe des letzten, etwa 700 m hohen Gletscherpasses, der uns noch vom Meer trennt, hinaufbewegen, wird es heiss und heisser. Der Schnee beginnt weich zu werden, Schlitten und Hunde sinken tief ein. Wir müssen schieben. Die Kolonne zieht sich in die Länge. Endlos dehnen sich die letzten Kilometer vor der Passhöhe. Endlich um 9 Uhr erreichen wir sie und gestatten uns eine tüchtige Rast.
Wir blicken zurück auf die weiten Gletscher, über die wir nun während vieler Wochen gezogen sind, auf die unzähligen kühnen Felsnadeln, die Wände und Türme, die sich in zahllosen Ketten und Gräten bis zum Horizont erstrecken. Einige der schönsten unter ihnen haben wir bestiegen und unvergessliche Feierstunden erlebt. Hunderte und aber Hunderte von Gipfeln hat noch nie eines Menschen Fuss berührt. Der Abschied von dem herrlichen Schweizerland, das uns Wochen und Wochen reinsten und stärksten Lebens und Erlebens geschenkt hat und uns so lieb geworden ist, stimmt uns nachdenklich.
Wir sind der Meinung, dass wir nun ohne grössere Mühe die Küste erreichen werden. Nur ein sanft abfallender Gletscher und einige Kilometer Moräne und Delta trennen uns noch vom Basislager. Aber die wenigen Kilometer Gletscherlauf sollten uns noch zu schaffen machen!
Zunächst geht zwar alles gut. Der weiche Schnee dämpft die Unebenheiten des Geländes, so dass die Schlitten sanft über Buckel und Löcher hinweggleiten. Aber bald tritt Blankeis an die Stelle des Schnees. Der Gletscher zeigt sich von seiner schlimmsten Seite. Nichts als Löcher, Gräben, Spalten, Bäche, Höcker und Buckel. Alle paar Meter müssen wir die 200 kg schweren Schlitten wieder aus irgendeinem Loch herausziehen, in dem sie sich verklemmt haben. Riesige Spalten zwingen uns zu grossen Umwegen. Nach Stunden härtester Arbeit sind wir kaum vorwärts gekommen.
Mehrmals sausen die Schlitten, die auf dem glatten Eis kaum mehr zu meistern sind, in offene Spalten hinein. Glücklicherweise verklemmen sie sich immer wieder irgendwie im letzten Moment, so dass wir sie mit vereinten Kräften wieder flott machen können. Schliesslich, um das Mass voll zu machen, brechen sie kurz nacheinander in der Mitte entzwei. Wir versuchen, sie mit Hilfe von Ski und Bergseilen wieder notdürftig zusammen-zuflicken. Es gelingt aber nicht, sie so starr zu machen, dass nicht jeder Teil nach einigen hundert Meter seine Selbstherrlichkeit wieder zurücknimmt.
So kann das nicht weiter gehen. Bereits hat uns die tolle Fahrt einige Eispickel und Ski gekostet. Es grenzt an ein Wunder, dass unsere Schlitten nicht schon längst mit Sack und Pack in einer Spalte verschwunden sind. Zudem ist es schon ziemlich spät am Nachmittag, und wir sind todmüde von der anstrengenden Schlittenführerei. In einem improvisierten Kriegsrat kommen wir nicht um die unerfreuliche Feststellung herum, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als sämtliche Lasten auf unseren Rücken ans Meer hinunter zu tragen. Das bedeutet, dass wir einige Tage lang zwischen Basislager und Depot werden Kulidienst tun müssen.
Während wir noch ratschlagen, tauchen drei Punkte auf, die sich rasch nähern. Es sind drei Eskimos, die ersten Menschen, die wir seit fünf Wochen zu Gesicht bekommen Die braven Kerle wussten, dass wir heute zurück sein sollten. Sie sind zum Basislager gefahren, haben uns auf dem Gletscher bemerkt und sind uns entgegengeeilt. Die gegenseitige stürmische Begrüssung wächst zum Begeisterungsorkan, als sie unser Eisbärenfell entdecken. Erst als sich nach geraumer Weile der Sturm der Wiedersehensfreude gelegt hat, erfahren wir die Nachricht, die uns brennend interessiert: nämlich, dass die « Gertrud Rask », der Dampfer, der uns nach Europa bringen soll, erst in etwa acht Tagen in Angmagssalik erwartet werde. Also haben wir Zeit, unseren Transport in Ruhe zu Ende zu führen und uns vor der Überfahrt noch etwas auszuruhen.
Bereitwillig legen die Eskimos mit Hand an und laden sich gewaltige Packungen auf. Dann ziehen wir in feierlichem Gänsemarsch den Gletscher hinunter. Endlos geht es noch über Spalten, Buckel, Wasserlöcher und was der Herrlichkeiten auf einem ausgeaperten Grönlandgletscher mehr sind. Endlich kommt der letzte Steilhang der Gletscherzunge, dann Moränen, Gletscherbäche, Geröll, festes Land. Automatisch setzen wir Fuss vor Fuss, kaum bemerken wir, dass wir zum erstenmal seit fünf Wochen wieder grüne Vegetation unter den Füssen haben. Dann ein letzter kurzer Anstieg, und dicht unter uns liegt hart am Rande des Meeres, friedlich, wie wir sie verlassen haben, unsere kleine Zeltstadt.
Der von Eisbergen übersähte Fjord leuchtet im letzten Lichte des erlöschenden Tages. So müde wir sind, der Schönheit dieses Anblicks können wir uns nicht entziehen. Ohne der Zeit zu gedenken, staunen wir in das Wunder des arktischen Abends.
Im Lande der Eskimos.
Einige Tage bleiben wir in unserem gemütlichen Basislager am einsamen Sioralikfjord, ruhen uns aus und besteigen verschiedene Gipfel unweit der Küste. Gerade diese unschwierigen Berge von 1200 bis 1400 m Höhe sind landschaftlich von hohem Reiz. Die Tiefblicke in die leuchtend blauen, mit weissen Eisbergen anmutig getüpfelten Fjorde, der Ausblick auf das freie Meer einerseits, auf die Türme und Gletscher des Schweizerlandes anderseits, gehören zum Schönsten, was Grönland bieten kann.
Es herbstet fühlbar, die Tage werden kürzer, die Nächte lang und kühl. Am abendlichen Himmel flammen die Lichtbündel des Nordlichts auf. Morgens liegt Rauhreif, und auf den Fjorden bildet sich die erste hauchdünne Neueiskruste. Auch im rauhen Grönland ist Erntezeit. Schwarze « Pubukes », unseren Heidelbeeren verwandte, bittersüss schmeckende Beeren reifen in Menge an den sonnigen Hängen. In den Bächen wimmelt es von laichenden Salmen Mit Hilfe eines selbstgebauten Dreizacks erbeuten wir in kurzer Zeit mehr dieser köstlichen Fische, als wir in Tagen zu verzehren vermögen.
Zwei Umiaks, grosse aus einem mit Seehundsfellen überzogenen Holzgerippe bestehende Eskimoruderboote, holen uns ab. Vorläufig fahren wir nur bis Kungmiut, einer im Angmagssalikfjord gelegenen Eskimowinter-siedlung. Dort soll uns nach Ankunft der « Gertrud Rask », die auf Anfang September in Angmagssalik erwartet wird, ein Motorboot abholen. Durch leuchtende Fjorde geht die geruhsame Fahrt. Lachende Eskimomädchen und -burschen rudern, ein bewährter Jäger steht am Steuer und führt uns sicher über Untiefen und zwischen Eisbergen hindurch. Schon lange vor Kungmiut gibt uns eine grosse Kayakflotille das Ehrengeleit.
Dicht neben den Eskimohütten stellen wir unter lebhafter Anteilnahme der ganzen Bevölkerung unsere kleine Zeltstadt wieder auf. Die nächsten Tage sind ein einziges Fest. Wir sind noch reichlich mit Lebensmitteln versehen und können es uns leisten, fürstliche Gastfreundschaft zu üben. Das ganze Dorf kommt zu Gast in unser enges Küchenzelt. Die Eskimos unterrichten uns in der Kunst des Kayakfahrens und führen uns ihre alten heidnischen Trommeltänze vor. Wir begleiten sie auf Jagd und Fischfang. Sogar unsere von den Strapazen der Klettereien arg mitgenommenen Hosenböden nehmen unter den geschickten Händen der Dorfschönen wieder salonfähige Form an.
Abends sind wir in irgendeiner Eskimohütte zu Gaste. Es ist unglaublich, wieviel Leute in ein solches Haus von wenigen Meter im Geviert hineingehen. Das halbe Dorf strömt zusammen, vom Urgrossvater bis zum Neugeborenen ist alles vertreten. Beim warmen Scheine der Tranlampen spielen, singen und tanzen wir nach Herzenslust. Die Eskimos sind leidenschaftliche Tänzer und haben ein gutes Musikgehör. Bald wetteifern sie mit uns im Singen der Refrains unserer Mundartlieder. Besonderen Erfolg haben immer wieder unsere urchigen « Ramseyers ». Dann singen sie uns ihre schönen vierstimmigen, choralartigen Gesänge. Rasch haben wir auch einige Worte ihrer Sprache los und führen unter Zuhilfenahme der Hände die längsten Gespräche. Kehren wir lange nach Mitternacht zu unseren Zelten zurück, so übergiesst der Mond den Fjord mit flüssigem Silber, und die Feuergarben des Nordlichts steigen zum Zenith.
Das Leben der Eskimos hat etwas Zeitloses an sich. Viele der Einheimischen wissen nicht genau, wie alt sie sind, trotzdem fast alle lesen und schreiben können und den Kalender spielend verstehen. Aber sie sorgen sich nicht um den morgigen Tag, sondern leben wie Kinder allein in der Gegenwart. In ständigem Kampf mit einer kargen und strengen Natur führen sie ein bescheidenes Leben und haben oft kaum das Nötigste, um die nackte Existenz zu fristen. Das hindert sie jedoch nicht, zufrieden und glücklich zu sein.
Auch wir erliegen dem geheimnisvollen Zauber dieses Lebens. Die Tage vergehen im Fluge. Erst gegen Mitte September nehmen wir mit Schrecken wahr, dass unsere Lebensmittelvorräte zur Neige gehen. Stündlich erwarten wir die Ankunft der « Gertrud Rask ». Da bringt ein Kayak alarmierende Kunde: Das Schiff, seit zehn Tagen in Sichtweite der Küste, versucht vergeblich, den dichten Packeisgürtel zu durchbrechen. Die Eis- Verhältnisse werden immer schlechter. Allen Ernstes müssen wir die Möglichkeit einer unfreiwilligen Überwinterung ins Auge fassen. Die Aussichten dafür sind um so weniger entzückend, als in Angmagssalik die wichtigsten Dinge, wie Patronen und Zündhölzer, Zucker, Mehl und Reis fehlen. Was nützen uns die gewaltigen Vorräte der « Gertrud Rask », wenn es ihr nicht gelingt, die Küste zu erreichen!
Mehrere Tage leben wir das Leben des Landes, nähren uns von See-hundsfleisch, Muscheln, Pubukes und Seetang. Einen grossen Sack Haferflocken, der uns noch verblieben ist, hüten wir wie einen Schatz. Rührend ist die Hilfsbereitschaft der Eskimos, die uns mit Geschenken überhäufen, sobald sie bemerken, dass wir etwas in der Klemme sitzen. Vorläufig, in der guten Jagdzeit, besteht keine Gefahr, dass wir hungern müssen. Bei unsern Eskimofreunden sind wir vortrefflich aufgehoben.
Ausklang.
Mit Bedauern nehmen wir Abschied von unsern Freunden von Kungmiut. Am 18. September bringt uns ein Motorboot nach Angmagssalik. Es ist der « Gertrud Rask » endlich gelungen, die Eisbarriere zu durchbrechen und die Kolonie anzulaufen. Fröhlich flattert ein Schweizerfähnchen am Bug unseres stolzen Viermasters, eine nette Aufmerksamkeit des Kapitäns. Mit unseren Barten und schmutzigen Anoraks kommen wir uns an Bord in der kultivierten Umgebung sehr ungemütlich vor. Erst nach und nach gewöhnen wir uns an die veränderte Atmosphäre.
Alles wundert sich, dass es der « Gertrud Rask » überhaupt gelungen ist, die Küste zu erreichen. Die Eisverhältnisse sind ganz aussergewöhnlich schlecht. Vestmar, unser Kapitän, ein alter Polarseebär, erklärt, noch nie so viel Eis gehabt zu haben. Eine ganze Reihe Versuche, den eisigen Kerker zu sprengen, enden erfolglos. Immer wieder müssen wir notgedrungen in den schützenden Hafen zurückkehren.
Am 26. September gehen wir auf Biegen oder Brechen ins Eis. Jetzt wird es ernst. Zwei Tage lang dauert der ungleiche Kampf, Meter um Meter will erobert werden. Vor und zurück, hin und her, zwingen uns die Eisschollen einen unbeschreiblichen Zickzackkurs auf. Riesige Eisberge umfahren wir in respektabler Entfernung, die Packeisschollen dagegen werden erbarmungslos angerempelt.
Aus wolkenlosem Himmel leuchtet die Sonne, an Deck ist es warm und windstill. In vollen Zügen geniessen wir die einzigartige Ruhe, Weite und Reinheit des arktischen Meeres. Nicht der leiseste Wellengang stört unser Wohlbefinden. Die See ist gebändigt unter dem lastenden Eispanzer.
Lange grüssen noch die Küstengebirge in warmen braunschwarzen Tönen über die blauweisse Eiswüste. Zeitweise täuscht eine phantastische Erscheinung unsere Sinne. Ein senkrechter, ungeheurer Eiswall von gewaltigen Zinnen und Kuppen, Pfeilern und Wänden scheint uns ringsum einzuschliessen. Merkwürdiges Trugspiel der schräg einfallenden Sonnenstrahlen, Fata morgana des Nordens.
Die Alpen — 1939 — Les Alpes.9 Gegen Mittag des zweiten Tages entdecken wir im Osten freies Meer.
Brausend und donnernd bricht sich die Brandung am Packeisgürtel, als wir durch letzte Eisschollen in den offenen Ozean fahren. Ein letztes Nordlicht flammt auf. Grönland feiert Abschied. Lichtbündel schiessen zum Zenith, in überirdischen Farbenspielen erglüht das Firmament. Goldene Schleier kreisen zitternd am Horizont, Silberregen perlt hernieder. In einer einzigen Farbensinfonie verschmelzen Meer und Himmel in eins. Plötzlich erlischt die Pracht, alles ist vorbei. Über grauschäumende Wellenberge rollen wir einem gewitterschweren Europa entgegen.