Reiseerinnerungen aus dem Clubgebiet
Professor Schiess-Gemuseus ( Sektion Basel ).
Von Schon im Winter 1898/1899 hatte ich das wahrhaft erschöpfende Itinerar von Herrn Imhof studiert, und hatte die Beschreibung mir gänzlich unbekannter Gegenden das Wasser in meinem Munde zusammenlaufen lassen. Als daher in meinem aus Mexiko zum Besuche heimgekehrten Sohne ein heiterer und leistungsfähiger Reisebegleiter gegeben war, machte ich in zwei Etappen Kreuz- und Querzüge in dem mir immer lieber werdenden Lande Graubünden, die mir vielen Genuß und reiche Belehrung gewährten. Das Unterengadin hatte ich vor bald 40 Jahren auf einem raschen Zug über Fittela nach Süs und Schuls etwas gesehen, dann mehreremal das Oberengadin von St. Moritz aufwärts en passant besucht, endlich im Jahre 1895 einige Wochen in Sils-Maria zugebracht, und so interessierte es mich denn sehr, auch vom Mittelengadin und von dem, was ostwärts davon liegt, etwas zu sehen.
In Davos-Dörfli erwarteten wir am 31. Juli, nachmittags, meine Tochter, die mit ihrem Sohne an diesem Tage Basel verlassen hatte. Wir waren schon mittags von Chur hierher gefahren und hatten einige Nachmittagsstunden benutzt, um an dem stattlichen Basler Sanatorium vorbei bis zum nördlichen Ende des Sees zu wandern, von wo man gegen das Dörfli und das hier himmelstrebend aussehende Tinzenhorn einen schönen Blick hatte. Mein Sohn verstieg sich sogar zu einem Bade in den kühlen Fluten. Als der Zug unsere beiden Reisenden, meine Tochter und den dreizehnjährigen Enkel, der seinen kleinen Rucksack auf der ganzen Reise unentwegt getragen hat, brachte, gaben wir nur einiges Gepäck nach Zernetz auf und machten uns gleich auf den Weg nach dem Fittela. Die Straße, jetzt von den unzähligen Post- und andern Wagen Tag für Tag durchfurcht, da der Radschuh auf dem Fittela eine erhebliche Rolle spielt, war an vielen Stellen mit centimeterhohem Staube bedeckt, und wir waren recht froh, als endlich bei bereits eingebrochener Nacht das Wirtshaus, das etwas jenseits der Paßhöhe liegt, erreicht war. Es war ziemlich angefüllt, doch ging es nicht lange, bis wir ein ganz gutes Essen bekamen. Aus den Gesprächen der recht zahlreichen Gesellschaft vernahmen wir, daß auch noch andere den verwegenen Gedanken hegten, morgen das Schwarzhorn zu besteigen.
Wir hatten den Plan überlegt, am andern Tage das Horn zu traversieren und auf dem Scalettawege das Engadin zu erreichen; doch erschien uns das des Gepäckes halber unpraktisch, und begnügten wir uns des andern Tags, beim schönsten Wetter das Schwarzhorn zu besteigen. Dieses ist zwar 3150 Meter hoch, da aber das Bergwirtshaus bereits 2389 Meter hoch liegt, so kann auch ein Schwerbeweglicher diesen schönen Berg ohne zu große Mühe erreichen. Wir hatten keinen Führer genommen und diesen Mangel nicht empfunden, da an der einzigen zweifelhaften Stelle ein freundlicher Wegweiser angebracht ist. Die Aussicht ist schön und belehrend. Über den Scaletta kann man sich auf dem Gipfel gut orientieren, und obschon der Wirt uns noch auf dem Berge sagte, daß es sehr steil hinuntergehe, kann ich nicht annehmen, daß erhebliche Schwierigkeiten bestehen.
Zum Mittagessen waren wir wieder unten und beschlossen, wieder weiterzugehen, denn wir wollten eine Fußtour machen. Der Staub war aber teilweise so infam, und bei der geringen Breite der Straße und der rasenden Eile der großen, vierspännigen Posten und der ebenfalls vierspännigen Bagagefourgons war es zuweilen unangenehm auszuweichen. Auch ist das Wandern in dem heißen Straßenstaub für die Füße sehr angreifend, und wir waren alle recht froh, als wir endlich, nachdem wir den Susascabach überschritten und schon längere Zeit die gegenüberliegende Thalseite zu unsern Füßen gesehen, auch die Türme des altertümlichen Süs zu unserer Hechten liegen sahen. Auch ein Heuwagen der Eingebornen hatte uns zuletzt noch überholt, und wir sahen eben bei unserem Einzuge, wie seine Insassen in den verschiedenen Gassen sich verteilten. Überall stand: „ Offenes Davoserbier ", und der Genuß desselben weckte bald die etwas gesunkenen Lebensgeister. So wurde denn auch der Gedanke fallen gelassen, auf die Post zu warten, und der Weg nach Zernetz mutig unter die Füße genommen. Der Weg führt zum Teil durch Wald, und schon von weitem sieht man die hochgelegene Kirche von Zernetz mit dem schmalen, hohen Turm, der bei dem großen Brande stehen geblieben ist. Das Dorf, aus würfelförmigen, schmucklosen Häusern bestehend, die in ihrer Einförmigkeit einen ungemein langweiligen Eindruck machen, hat nur gegen den Ofenpaß zu noch einige alte Häuser, die den Engadinercharakter zeigen. Das große Thor, das in den weiten Vorplatz geht, in welchem die Wagen und Schlitten stehen und von welchem aus nach vorn die Wohnräume liegen, hat eine mittlere Thür, die als gewöhnlicher Eingang für Personen dient. Das ganze Thor wird nur für die Wagen geöffnet. Nach vorn ist gewöhnlich auch der Heuboden. Der Kuhstall liegt ein Stockwerk tiefer und ist oft heizbar. Es stehen auch Tische und Bänke darin, und scheint man hier oft sich aufzuhalten, auch Nachbarn zu empfangen.
Wir hatten den graugrünen Inn, der hier ein ansehnlicher Strom ist, auf einer eisernen Brücke überschritten und kamen nun zu dem Hotel Bär, das mit den großen Fenstern seines Speisesaals einen wenig behaglichen Eindruck macht. Von Wirt und Wirtin sah man nichts mehr, nachdem man seine Zimmer angewiesen bekommen. Das Wetter war prächtig, und die Sonne schien uns recht unbescheiden in die Stuben. Da am andern Tage, den 2. August, die Post erst um zehn Uhr abfuhr, entschlossen wir uns, dieselbe zu benutzen, und hatten am Morgen Zeit, die Kirche und das Dorf gründlich anzusehen. Auch das altertümliche, etwas vernachlässigte Stammschloß der Planta-Wildenberg ist in einem Hofe, vom Feuer unversehrt, zu sehen. Gegen das Ofenthal sieht man gewaltige Wälder sich ausdehnen, die der Gemeinde Zernetz gehören. Auf der Post wurden wir verteilt; ich kam mit meiner Tochter ins Coupé. Man fährt fast immer den Ufern des Inn entlang. Nach rechts öffnet sich das Scalettathal. Über Brail vor Cinuskel kommt man zum Punt ota, der die Grenze zwischen Ober- und Unterengadin bildet. Ich habe die Stelle mehreremal passiert, ohne sie mir zu merken, da sie sich wenig markiert. Dann kommt Scanfs und dann Zuz oder Zuoz, wie es sich jetzt offiziell schreibt, wo wir in der Konkordia bei Herrn Grilli gute Unterkunft fanden. Das mächtige Haus Planta, das sich über die Straße spannt, und verschiedene andere gewaltige Häuser machen einen angenehmen, behäbigen und behaglichen Eindruck. Das Thal ist bei Zuoz ganz schmal und existiert eigentlich nur als sanft zum Inn niedersteigende Berghalde. Gerade gegenüber hat man den Piz Mezaun ( 2965 m ) und ganz im Hintergrund des Thales die wohlbekannte Margna. Nach links schließt der respektable Piz d' Esen die Aussicht ab, der hier von einem gewissen Nimbus bekleidet zu sein scheint. Am Abend kam noch der dritte Bestandteil der Reisegesellschaft, mein Jüngster; so waren wir denn fünf. Der Abend brachte uns ein wenig Regen, aber der Morgen des 3. August war wieder ganz klar. Der Tag wurde zu einer Fußwanderung nach Samaden und zu einer Wagenfahrt nach St. Moritz und Umgebung benützt, wobei wir gewahr wurden, wie St. Moritz immer vollständiger international wird. Was das heißt, wissen alle Besucher der Riviera im Winter und der großen französischen und deutsch-österreichischen Bäder im Sommer. Auch am 3. August sollte es wieder ein wenig regnen. Von der Margna her und vom Julier waren die schwärzesten Gewitterwolken über die Berge immer mehr gegen uns zugerollt. Gerade unter Samaden, als wir uns wieder als Fußwanderer aufspielten, trafen uns mäßige Schauer; aber als wir in Zuoz einrückten, waren die Tropfen im Straßenstaub kaum mehr zu sehen.
Für den andern Tag wurden Pläne gemacht, Erkundigungen eingezogen und auch Kaffee bestellt. Der Casanapaß, unsere Aufgabe, war früher sehr besucht und wird auch jetzt noch besonders von den Bewohnern des Livignothales begangen, die sich Zucker und Kaffee in der Schweiz holen. Im 17. Jahrhundert sind bündnerische und österreichische Heere mit Sack und Pack und mit Kavallerie hier hinübergezogen. Auch Kanonen marschierten im Livignothale auf, und Rohan und Jenatsch haben sich dort mit den Österreichern geschlagen. Rätselhaft erscheint es, wie man den für größere Truppenmassen nötigen Proviant hinüberbrachte. Wir waren ungefähr um 5 Uhr aufgebrochen. Das Wetter war, wie gewöhnlich dieses Jahr, schön. Wie gerne gewöhnt sich der Mensch an das GuteAls gütiges Geschenk des Himmels nahm man jeden Morgen den blauen, strahlenden Himmel entgegen, und wahrlich, wenn es einmal regnete, so war es immer so eingerichtet, daß es erst kam, wenn das Hauptgeschäft des Tages bereits hinter einem lag. Man muß zuerst nach Scanfs hinunter, dann steigt man zum Inn hinab, überschreitet denselben, verfolgt wenige Zeit seinen Lauf und wendet sich dann ganz rechts und bleibt nun mehr oder weniger dem Thalbach nahe, bis man zu der Stelle gelangt, wo das Thal in zwei Äste sich spaltet, das Trupchumthal und das Casana-thal. Der Casanabach wird dann überschritten; man steigt ziemlich steil an seiner rechten Seite empor und erreicht die ziemlich große, nach hinten sich ganz langsam hebende Casanaalp.
Um 8 Uhr 5 Min. waren wir daselbst. Der Weg führt vor den Hütten vorbei in den Hintergrund des Thales. Nach links, gegen den Grenzkamm, heben sich verschiedene Spitzen mit dazwischenliegenden Einsattelungen, und man könnte leicht sich verführen lassen, schon hier emporzusteigen, wobei man in die Val Trupchum oder gerade zum Piz Casana käme. Wir mußten also eine ganze Stunde unten bleiben und dem Wasser folgen; dann kommt man zu einem steilen Stutz, wo der Weg im Zickzack aufwärtsführt. Die Herren, die mit uns auf dem Schwarzhorn gewesen und nach dem Scaletta hinübergegangen waren, waren heute vor uns aufgebrochen; bei den Hütten hatten wir sie hinter uns gelassen, jetzt hatten sie uns wieder überholt, und trafen wir sie oben etwas auf der andern Seite des Casanapasses ( 2692 m ) gelagert, den wir um 10 Uhr 5 Min. erreicht hatten. Wir setzten uns und erfreuten uns der prächtigen Aussicht auf die Ortlergruppe. Man hat oben eine ziemlich ebene, mit Steinen besäte Fläche. Nach links hinüber sieht man den Piz Casana, den man von hier leicht erreichen kann. Zu Füßen liegt das Federiathal und gegenüber der trotzige Felsberg Monte del Ferro mit seinen nackten Seiten. Es war warm und windstill, und wir verweilten längere Zeit auf dem Plateau. Der Weg führt ungemein steil abwärts. Nach rechts hinüber lagen einige Schneeflecke, die von Onkel E. und Neffe K. aufgesucht wurden, um sich das Vergnügen des Rutschens zu verschaffen, das man bereits am Schwarzhorn gekostet hatte, freilich auch dort auf Kosten eines beträchtlichen Umweges; doch was macht das der Jugend? Weiter unten kam man auf Wiesen, wo die Leute mit Heuen beschäftigt waren, dann geht es, nachdem man das Kirchlein von Federia passiert hat, nochmals etwas aufwärts, durch ein kleines Gehölz, und jetzt sieht man die etwa eine halbe Stunde lang ausgestreuten Häuser von Livigno vor sich liegen, mit seinen zwei Kirchen. Weiter nördlich ist noch eine Kirche, die auch zu Livigno gehört, auf der Karte mit Sta. Maria bezeichnet. Wir hatten gebraucht: Zuoz bis Scanfs 30 Minuten, von Zuoz bis Casanaalp 2 Stunden 35 Minuten, zum Stutz eine Stunde, zur Paßhöhe eine Stunde, Niederstieg 1 Stunde 45 Minuten, zusammen 6 Stunden 50 Minuten. In Livigno ist nur ein einziges Wirtshaus, „ Pensione alpina ", ein Rohbau aus schwarzen Steinen, eher einen ( lüstern Anblick gewährend. Der Signor Silvestri findet einen Verputz nicht nötig und einträglich. Er hat übrigens auch Pensionäre, englische Damen, die überall an solchen abgelegenen, ganz billigen Orten angetroffen werden. Aber es guckten schon Onkel und Neffe lachend aus den Kerkerfenstern, und so entschlossen auch wir uns, die Dante'sche Pforte zu betreten, die uns, wenn auch nicht zum Himmel, doch auch nicht zum Fegfeuer leitete. Eine klösterlich aussehende Jungfrau brachte uns Brot und Wein, was wir uns trefflich schmecken ließen. Der Speisesaal gleicht dem Refektorium in einem Kartäuserkloster, ist weiß getüncht, und der Sattler und Tapezierer haben sich im Zimmer nie zu schaffen gemacht; aber der Wein ist gut, und wir bekamen auch ein einfaches Essen. Der schönere Teil der Reisegesellschaft schien von dem heute Geleisteten befriedigt. Über die Weiterreise waren wir etwas im unklaren. Von der Exkursionskarte hatte ich nach sorgfältiger Scheidung heute morgen richtig den nördlichen Teil mitgenommen, der sich mit dem Muttier und Lischanna abgiebt. So waren wir auf eine einfache Routenkarte mit Angabe von Entfernungen angewiesen. Unsere Absicht war, nach dem Münsterthal vorzudringen; das ging aber nur über uns ganz unbekannte Pässe. Ich hatte Heft 40 des Alpine Journal bei mir, in dem W. A. B. Coolidge über diese Thäler referiert, und daraus sah ich nur, daß der Alpisellapaß an einer Stelle Möglichkeit des Verirrens darbietet. Das Wetter war auch unsicher geworden. Der Wirt wollte nicht recht heraus mit der Sprache, ob wir wohl noch zur rechten Zeit das Nachtlager in San Giacomo erreichen könnten, und so wurde beschlossen, heute hier zu bleiben. Wir wußten zwar, daß man über die Forcola an die Berninastraße gelangen könne, was die beiden Herren im Sinne hatten. Das lag aber ebensowenig in unserem Plane, als über den Trepalle- und Foscagnopaß nach Bormio zu wandern. Die Post, ein Mann mit einem Maultier, macht täglich diesen Weg, da Livigno nach Italien gehört, und nur wegen seiner Abgelegenheit und schweren Zugänglichkeit befindet es sich außerhalb des italienischen Grenzcordons. Ich bemerkte dem Postboten, der uns diese Auskunft gab, sein Thal sei in solitudine, was er lachend bestätigte. Herr Grilli in Zuoz hatte uns auch gesagt, daß seine Gäste, wenn sie einen Ausflug nach Livigno machen, sich dort das Vergnügen bereiten, Briefkarten zu schreiben und sich der raschenBeförderung nach dem so nahen Zuoz zu freuen. Signor Silvestri hatte uns in seinem sprudelnden Italienisch auch mitgeteilt, daß mau sogar auf einem Sträßchen, das freilich „ molto stretta " sei, nach Forno, d.h. Fuorn oder Ofenpaßwirtshaus, gelangen könnte. So waren wir denn über die Möglichkeit, aus diesem Bergthal wieder herauszukommen, ziemlich genau unterrichtet. Der Himmel hatte sich verfinstert, und ich hatte doch Gelegenheit, meinen schönen, großen, roten Regenschirm aufzuspannen, der immer mitgewandert war. Er besitzt die Dimensionen von vier sogenannten „ Nadelschirmen ". Ich wandelte mit meiner Tochter gegen den Hintergrund des Thales, wo noch eine vierte Kirche sich findet. Man muß sich wirklich in diesen katholischen Thälern verwundern, was für Geld und Mühe diese Leute für kirchliche Zwecke aufwenden. Die Leute waren überall beschäftigt, ihr Heu vor dem Regen zu bergen. Sie tummelten sich, die Gestelle zu füllen, die sie anfangs am Abhänge schleiften wie einen Schlitten und dann unten im Thale in eine „ Hutte " verwandelten, die sie auf die Schultern nahmen und zu den Ställen trugen. Das Gestell verschwindet dann ganz unter dem vorstehenden Heu, und ebenso verschwindet der obere Teil des Menschen, und man sieht nur ein wandelndes, zweibeiniges Heubündel sich schreitend vorwärts bewegen.
Das einzige Produkt des Thales ist eben das Heu; kein Korn, keine Kartoffeln werden mehr gepflanzt. Das Wirtshaus in Livigno liegt 1819 Meter hoch. Das Thal zieht sich langsam dem Spöl nach aufwärts, ist sanft aus-gemuldet und weist keine Felsen auf. Die Hänge sind links mit Gras bewachsen; rechts streut sich etwas Wald hinein. Es hat viel Ähnlichkeit mit dem Mittelengadin, nur sind die Berge hier nicht so hoch. Die Achse des Thales läuft von Süd-Südwest nach Nord-Nordost. Nach Süden schließt der schneeige Gipfel des Monte Vago das Thal, nach Norden der Monte del Ferro und der Munt la Schera. Die Bauart der Häuser ist anders als im Engadin, und man trifft nicht so stattliche Gebäude wie dort. Manche Häuser sind nicht verputzt, was immer einen unfreundlichern Eindruck macht; man sieht, daß die Leute weniger wohlhabend sind, als die Engadiner. Eigentümlich ist diesem Thal die fast konstante Vergitterung der Fenster des Erdgeschosses. Es fällt einem das in dieser einsamen, ursprünglichen Gegend auf, und stammt diese Einrichtung offenbar aus der Zeit, wo hier allerlei Raubgesindel herumzog, dessen man sich erwehren mußte. Der Spöl ist lange nicht so eingeschnitten wie der Inn und macht sich dadurch landschaftlich wenig geltend.
W. A. B. Coolidge ( Alpine Journal, vol. 19, pag. 232 ) sagt: „ Die Mitte des Livignothales ist am meisten charakteristisch und sonderbar. Ich möchte es beinahe als eine verbesserte Form des Rhonethales zwischen Martigny und Brig bezeichnen. Die Sümpfe fehlen allerdings und die Bleichgesichter der Bewohner; aber auf beiden Seiten sind einförmige, grasige Hügel, die prachtvolle Matten einschließen, durch welche der Spöl still dahinfließt, während an seinem linken Ufer die Wohnhäuser und die drei Kirchen den Karrenweg einschließen, fast wie eine Straße. An den grasigen Hängen steht man einige Schöpfe, nach Süden ist das Bild abgeschlossen durch " die Masse des Monte Vago, des einzigen Schneegipfels, und nach Norden durch Munt la Schera und den Monte del Ferro. "
Meine Tochter und ich schlenderten der Bernina zu auf dem hübschen StrXßchen, das bald hinter der obersten Kirche, San Rocco ( 1857 m ), aufhört. Von dieser Kirche, einem von ferne mit seinem hohen Turme imponierenden Gotteshaus, das aber in dem kleinen Innenraume nichts von Bedeutung aufwies, kehrten wir langsam wieder abwärts. Vor den Häusern waren fiberall Gärten mit einigen spärlichen Blumen und Küchengewächsen. Auch die bescheidene Schenke fehlte nicht, und wir statteten dem Gallo einen kurzen. Besuch ab. Besonders erregten unsere Neugier die offenen Fenster, die ja in Alpendörfern gewöhnlich hermetisch verschlossen zu sein pflegen. Noch vor wenigen Tagen hatten wir im Valserthale in einer Stube hinten in Zervreila einen Brodem in einem verschlossenen Zimmer gerochen, der einem Reinluftschnapper das Herz im Leibe umdrehen mußte. Diesmal war nicht nur die Luft gut in der kleinen Kneipe, sondern auch der Wein nicht übel, und die junge Frau gab uns auf unsere Fragen verständige Antworten.
Als wir in die Pensione zurückkehrten, sahen wir, daß neue Gäste eingerückt waren, ein junges Ehepaar von der Berninastraße her, das über den völligen Mangel an Wirtschaften auf der langen Wanderung klagte. Es muß ja zugestanden werden, daß die Anzahl der Wirtschaften bei uns in der Schweiz eine recht ansehnliche ist, aber ich finde auch, daß die Möglichkeiten, Defekten im Gleichgewicht der Ernährung jeden Augenblick begegnen zu können, viel zu der freudigen Zuversicht beitragen, die uns bei Touren in der Schweiz erfüllt. Ich bin im Falle, darüber zu urteilen. In Sardinien zum Beispiel wäre ich kolossal froh gewesen, beim Niederstieg vom Genargentu nur eine Wirtschaft anzutreffen, wie sie der Signor Silvestri in Livigno führt. Da wir die Forellen mittags dummerweise unsern Mitreisenden über die Casana überlassen und dafür den etwas harten Arrosto gegessen hatten, so beschlossen wir am Abend, unsern Zähnen Ferien zu geben, indem wir uns einen währschaften Risotto bestellten. Wir waren allerdings erstaunt, als wir die fünf Portionen des wohlschmeckenden Gerichts erscheinen sahen. Eine riesige Suppenschüssel wurde hereingebracht, und, wunderbar! als die Löffel und Gabeln beiseite gesetzt wurden, war auch der letzte Rest der Speise verschwunden.
Am 5. August wurden wir um 5 Uhr geweckt. Die Zimmer waren äußerst einfach, doch die Betten gut, und jeder fand ein Gefäß, um sich das Gesicht am Morgen zu waschen. Ganz genau wurde geweckt, auch der Kaffee war schon bereit, als wir unsere Toilette beendigt. Die eine Tochter, die uns abends bediente, sprach perfekt deutsch. Sie hatte uns auch am vorhergehenden Abend noch allerlei erzählt von dem langen Winter und den Schneemassen, welche sie oft von der übrigen Welt völlig abschließen.
Ein strahlender Morgen lachte uns wieder entgegen. Gegrüßt sei uns, herrlicher Gott, Phöbus Apollo, der du uns Tag für Tag mit deinen leuchtenden und wärmenden Strahlen die Berge und Thäler mit deinem zauberischen, seelenbethörenden Licht verklärst! Wir hatten einen kräftigen, jungen Burschen als Führer über den Alpisellapaß engagiert. Man geht thalabwärts bis zu den äußersten Häusern von Livigno und noch etwas weiter, bis man das von Trepalle herkommende Thal gegen sich streichen sieht. Nun geht man bis zu seiner Ausmündung, verfolgt es aber nicht, wie man eigentlich versucht ist, zu thun, sondern steigt steil und auf kaum sichtbarem Pfade, der sich oft ganz verliert, bis hinauf zu den Felsen des Monte del Ferro. Erst hier oben wird der Weg etwas praktikabler und folgt, immer ziemlich auf gleicher Höhe sich haltend, den Felswänden des Monte. Man überschreitet dabei eine Anzahl steiler Schluchten, die gegen das oben erwähnte Thal hinabziehen, und scheint die Passage manchmal à distance sehr prekär, in Wirklichkeit kommt man aber immer ganz leicht hinüber, obwohl der Pfad zuweilen recht schmal wird. Endlich steigt man nochmals recht erheblich und sagt dem Trepallethal gänzlich Adieu, kommt hinauf zu den Alphütten von Alpisella. Wenn wir uns fragten, ob wir gestern das noch hätten machen können, so ist darauf mit Ja zu antworten, aber bei dem zweifelhaften Wetter wären wir in beständiger Besorgnis gewesen, es werde noch schlechter, und von Genuß wäre keine Rede gewesen.
Hier oben finden wir schönes Edelweiß, ganz nahe am Wege, und weiter oben kommt man in ein reizendes Bergthal mit einem Seelein und betritt dann die Wasserscheide ( 2285 m ) zwischen Schwarzem und Adriatischem Meere. Man kommt wieder zu einem kleinen See ohne Abfluß; weiter unten zu einem schwachfließenden, kleinen, klaren Bächlein, das aber rückwärts gegen den Col zu läuft und hier in der Erde verschwindet. Das ist die Quelle der Adda, aus der wir trinken, erst weiter unten kommt die Adda dann als kleiner Bach zum Vorschein; es muß also der Abfluß des Sees sich mit jenem rückläufigen Bächlein vereinigen und eine Strecke weit unterirdisch verlaufen. Unser Führer bemerkte, daß von hier es nur noch eine halbe Stunde nach unten sei und daß man den Weg nicht verfehlen könne. Ich glaube auch, daß wir ohne Führer nach San Giacomo gekommen wären, aber ein guter Weg war nicht da, im Gegenteil, der Weg war durch Lawinen und Steinschlag völlig unkenntlich ge- worden. Bald sahen wir San Giacomo zu unsern Füßen in einem schönen, grünen Thale vor uns liegen, nach Osten ein geräumiges, grünes Thal sich daran anschließend, ein Kirchlein und ein Wirtshaus, diese in und außer den Alpen häufig vorkommende Kombination. Nach Westen fängt bald der Wald an. Da wir das Wirtshaus in Sicht hatten, war beim Führer keine Rede mehr von Umkehr. Coolidge lobt das Gasthaus auch wegen seiner Billigkeit. Wir fanden einen vortrefflichen Wein und einen prima Ziegenkäse, wie er als rara avis nur in wenigen Winkeln der Alpen mir vorgekommen ist.
Der Alpisellapaß ist 2285 Meter hoch. Wir hatten von Livigno bis zur Paßhöhe 3 Stunden 10 Minuten, von da bis Giacomo eine Stunde gebraucht, also 4 Stunden 10 Minuten.
Hier steht man nun am Scheideweige. Man kann zum Ofenpaß oder nach Bormio, dem Gallo oder der Adda folgend, doch muß man in beiden Fällen den Fluß verlassen und auf die Höhe steigen, da der Fluß eine Strecke weit ungangbar ist. Wir wollen aber weder den Fraële- noch den Buffalorapaß machen, sondern unser Sinn steht nach dem Münsterthal, und zwar über die Münsteralpen und den Dösradondpaß.
Wir hatten keine Karte dieser Strecke, da dieselbe außer der Schweiz liegt, nur die Beschreibung von Coolidge und was wir so von den Leuten erkunden konnten. In Giacomo hatte unser Träger die Frauen veranlaßt, uns zu sagen, daß wir einen Mann mitnehmen müßten, da die Brücke weggerissen. Den Mangel der Brücke erwähnte auch Coolidge, aber dieser sekundäre Bergbach konnte ja nicht groß sein, wir lehnten daher den Führer ab. Draußen sagte uns dann die Alte, wir kennen auf einer Lawine den Bach überschreiten. Man kommt nun zuerst in die Val Bruna, ein einsames Hochthal, nach beiden Seiten von kahlen Felswänden eingerahmt; weiter westlich folgt dann die Alpe del Gallo, wo es nach dem Ofenpaß zu geht. Über Alp Ciasabella und la Schera soll man in 4 Stunden nach dem Ofenpaß gelangen. Wir aber steigen rechts an, durch Föhrenwald nach der engen Val Mora, die eher eine Schlucht, als ein Thal ist. Wir finden an der linken Bachseite einen schmalen Weg, dem wir ruhig folgen. Wir haben dabei Zeit, den Bach zu studieren, der in einiger Entfernung unter uns sich auswärts bewegt. Furchtbar sieht er nicht aus, und jede Besorgnis ist geschwunden. An der Stelle, wo der Weg sich niedersenkt zum Wasser, und die alte Brücke offenbar gestanden hat, befand sich etwas weiter oben eine breite Brücke von Lawinenschnee, die uns sonder Gefährde auf die andere Seite gebracht hätte, aber da der Weg auf unserer Seite sich fortsetzte, verfolgten wir ihn und kamen noch ein schönes Stück aufwärts, bis uns der zum Wasser niedersteigende Fels nötigte, den Bach zu durchwaten, was ohne jede Schwierigkeit geschah, und da die Luft warm, so war das Fußbad nicht einmal unangenehm. Durch diese Val Mora ist früher der Verkehr vom Tirol nach Livigno und auch nach Bormio vor sich gegangen und Coolidge hat noch Spuren von einem gepflasterten Saumpfad gefunden. Man kommt nun gleich zu einer Alp hart am Ufer des Baches, wo eine Lawine eine Anzahl Bäume niedergeworfen hat, zum Teil in den Bach hinein, und man muß über diese Stämme wegklettern. Wir sahen hier viel Vieh und kamen dann über die Münsteralpen, die große Stäfel haben, langsam, zuerst über Alpen, dann wieder durch Wälder am Fuße des steilen Felsberges Piz dellas Palas, Cuder da Jon da d' Ontsch, Forcola und Piz Schumbreida zur Höhe des Dösradondpasses, ein quellenreiches Gebiet mit vielen Wasserläufen, bis man vorn den Mont Praveder erblickt. Man bleibt etwa eine Viertelstunde auf der halbsumpfigen Ebene und steigt nachher zur Paßhöhe ( 2240 m ). Von der Paßhöhe geht es zuerst durch eine kurze Schlucht und überhaupt steil und steinig abwärts. Nach rechts hat man die ganz weiße, gänzlich vegetationslose Trümmerhalde des Mont Praveder, durch einen hübschen Wasserfall unterbrochen, der vom Lai da Rims herkommt. Man kann hier herunter auch vom Umbrail kommen. Weiter unten gelangt man zu der kleinen Alp Clastra, dann, weiter unten, wo das Gelände schon den montanen Charakter annimmt, zur Alp Vau, wo früher ein ansehnliches Wirtshaus soll gestanden haben, zu der Zeit, wo der Weg aus dem Münsterthal nach Livigno, nach Puschlav und Oberengadin hier durchführte.Von hier an ist auch ein ziemlich breites Sträßchen vorhanden, während man weiter oben nicht mehr viel von einem bessern Weg zu spüren vermag. Wenn man übrigens sieht, was Lawine und Steinschlag in wenigen Jahren an den Wegen ruinieren, so muß man sich darüber nicht wandern. Hier öffnet sich auch der Blick ins Münsterthal, und bald haben wir die große Poststraße erreicht, die uns nach Sta. Maria hineinführt, wo uns das heimelige Gasthaus Umbrail gerne aufnimmt.
Eb sind noch zwei Wirtshäuser da und, wenn man vom Umbrail herunterkommt, so sind vor dem Dorfe draußen drei Tafeln angebracht, die einen berichten, daß drei Ruhestätten für den Wanderer bereitstehen. Reklame kann man das kaum nennen, denn die Tafeln deuten nicht etwa in verschiedener Art der Ausstattung einen höhern oder geringern Grad von Komfort an, so daß höchstens der Name einen nach dem einen oder andern Hause hinziehen könnte.
Zeiten: Von San Giacomo nach den Münsteralpen 3 Stunden, von dort zur Paßhöhe 1 Stunde 15 Minuten. Abstieg bis Sta. Maria 2 Stunden, also im ganzen 6 Stunden 15 Minuten. Rechnen wir dazu die 4 Stunden 10 Minuten über die Alpisella, so kommen wir auf 10 Stunden 25 Minuten für diesen Tag. Das war ja eine ganz nette Leistung.
Den Abend benützten wir noch zu einem Spaziergang gegen Münster zu. Das liegt auf einer niederem Thalstufe, und geht das Thal bekanntlich wenig jenseits in das Tirol hinüber. Dort liegt auch die Calven-schlucht, wo die Calvenschlacht im Jahre 1499 geschlagen worden, deren Andenken dieses Jahr in so großartiger und erhebender Weise von den Bündnern und Eidgenossen gefeiert worden ist. Das Land und seine Bewohner haben schon den Tirolercharakter; auch die Gasthäuser haben diesen Stempel. An den Berglehnen sind überall große Getreidefelder, wie etwa in der Nähe von Landeck. In Livigno war der Wein Alleinherrscher gewesen. Hier spielte das Bier wieder eine Rolle. Als wir uns nach dem Wege zum Umbrail erkundigten, hieß es, es werde eine neue Straße gebaut, die aber noch nicht bis zur Stelviostraße fortgeführt sei. So nahmen wir am 6. August diesen Weg in Angriff.
Schon bald ob dem Dorf kommt man auf das erste Stück der neuen Straße über den Umbrailpaß, die das Münsterthal mit dem Veltlin verbinden soll. Das oberste Stück, wo die Straße in den Stelvio mündet, hat zu langwierigen Verhandlungen mit Italien geführt, die aber abgeschlossen sind, wie mich Herr Oberingenieur Moser in Bergün versicherte. Es war wieder ein strahlender Morgen. Vom Thale ertönten die Kirchenglocken, deren Stimme wir heute nicht gefolgt waren. Der Weg zwischen Stücken der alten, nun schon teilweise verschütteten und der neuen Straße bot eine angenehme Abwechslung. Man trifft auf Stellen, wo die alte Straße fehlt und von der neuen nur erst ein ganz schmales Stück, in den Fels gesprengt, vorhanden ist, wo dieselbe von Pelsstücken überlagert ist, wo man nur auf schmalem Baumstamm zwei Enden der neuen Anlage schreitend vereinigen Beiseerinnerungen aus dem Clubgébiet, 1899.
kann. Weiter oben weitet sich das Thal und heißt Val Muranza. Rechts oben sind die Felsköpfe des Piz da Rims, Piz Chazfora und Piz Umbrail. Hier oben bieten sich der Straßenführung keine großen Schwierigkeiten dar. Nach links zeigt sich der Piz Val Grond und geringere Felsköpfe. Wir trafen hier oben eine gewaltige Herde von Bergamaskerschafen. Die Straße bildet in ihrem obersten Teil das Wormserjoch, in einer Höhe von etwas zu 2500 Metern. Es ist die höchste Straße in den Schweizeralpen, und in den Alpen überhaupt wird sie nur von dem unmittelbar daneben liegenden Stelvio ( 2755 m ) noch übertroffen. Der oberste Teil der Straße war noch nicht angelegt, in den Alpen waren es nur einzelne übereinanderliegende Stücke, doch hoffte man, im Jahre 1900 die Straße fahrbar zu sehen. Wir stiegen zur vierten Cantoniera hinab, die aus einer Dogana und einem Wirtshaus mit langen, gewölbten Gängen und steinernen, hallenden Treppen besteht, wie ein Hospiz. Vor demselben stehen Zöllner, aus den Fenstern schauen Touristen und Kellnerinnen, ein reges Leben. Man ist eben hier an der Grenze von drei Ländern. Wir erfrischten uns zuerst an Speise und Trank, und da niemand zurückbleiben wollte, machten wir uns in corpore an die Besteigung des Piz Umbrail.
Man sieht den ganzen Berg mit seinem langgestreckten, nach Westen niederlaufenden Kamm. Zuerst steigt man zum Wormserjoch empor, dann steht mitten auf der Alp ein Wegweiser, dem meine Tochter folgte, während wir uns eben fortgehend an einem steil über die Straße ziehenden Abhänge auf schmalem Pfade vorwärtsbewegten. Wir sahen die Windungen derselben unter uns, mußten uns aber doch bequemen, aus unserem Hange aufwärts in die Alp zu steigen und den Südostkamm anzunehmen, der weiter oben in unregelmäßige Felsköpfe sich auflöst. Wir sahen unsere Dame schon hoch oben in den Felsen ., und der Junge hatte sich der Mama auch schon nachgemacht, so daß die beiden lange vor uns die 3034 Meter hohe Spitze erreichten. Einen so schönen, bequemen Berg habe ich noch selten gemacht. Er sieht doch noch recht anständig aus, hat wilde Felsen, und das Weglein führt so schön zwischen den Felsköpflein durch, daß man recht bedauert, daß die ganze Freude nicht länger dauert. Ein Blick auf die Karte zeigt, was für eine herrliche Aussicht man auf die ganze Ortler- und Adamellogruppe hat; und die Ötzthaler, dann die meisten Gebirge von Bünden, nur die Berninagruppe ist größtenteils verdeckt. Man hat auch den untern Teil des Münsterthales und selbstverständlich « neh den Stelvio vor sich. Es wollte uns nicht in den Sinn, nur den gleichen Weg zurück zu machen; da uns aber der Weg über Lai da Rims zu lang erschien, so wandten wir uns zunächst zu den Schneefeldern an der hintern Seite des Berges und schlugen uns, teils rutschend, teils zwischen Felsköpfen traversierend, später auf rutschendem Geröll bis zu einem Vorsprung durch, der sich über der Alp la Muranza erhebt, und durch steile Grashalden zum Bache hinunter, wo wir zahlreiche Kuhherden antrafen. Von hier war uns der Weg bekannt. Um die Berge thalwärts und gegenüber hatten sich schwarze Wolken getürmt, draußen regnete es in Strömen, von der Seite von Vau her schien noch die Sonne durch die Regenbögen, und obwohl wir eilten, war der Regen doch noch schneller, und etwa zwanzig Minuten lang waren wir demselben schutzlos preisgegeben, was aber unsern Humor nicht verdarb, denn auf der andern Seite schien schon die Sonne wieder, und in Sta. Maria rückten wir bei aufheiterndem Himmel ein.
Zeiten: Von Sta. Maria bis zur vierten Cantoniera 4 Stunden 10 Minuten, zum Gipfel 2 Stunden, bis zur Alp 45 Minuten, bis Sta. Maria eine Stunde 50 Minuten, zusammen 8 Stunden 45 Minuten.
Am 7. August wieder ein herrlicher Morgen. Da wir nur einen mäßigen Tagmarsch vor uns hatten und ein Wagen nach dem Ofenwirtshaus bestellt war, durften wir heute ganz gemächlich wandern. Die Landstraße zieht sich durch Getreidefelder, weiter oben durch Matten und Wald sachte aufwärts durch die Dörfer Valcava, Fuldera und Cierfs. Die Berglehnen und -spitzen sind kahl, links markiert sich der Piz Daint. Von Fuldera aus schon kann man über Lü nach dem Scarlthal gelangen, gewöhnlich zweigt man aber erst bei Cierfs ab. Die Dörfer sind stattlich, aber menschenleer. In Cierfs überholte uns die Post. Hier verengt sich das Thal und steigt die Straße in vielen Windungen, um oben noch eine ganz große Windung zu machen, in der man endlich auf die Ofen- paßhöhe gelangt. Es ist eine einsame Wanderung, und wir freuten uns des in Fuorn zu erwartenden Landauers. Oben auf dem Paß sieht man im Thale ein weißes Gebäude, das aber nur ein Wegerhaus ist, links zieht sich die große Buffaloraalp in die Höhe. Hier unten fanden wir denn auch wirklich die bei Tschudi versprochenen Edelweiß an der Straße, die allerdings nicht first rate waren. In rasendem Tempo fuhr hier ein Einspänner an uns vorbei, der mich beinahe mitgerissen hätte; überhaupt ist der Wanderer auf den Bündnerstraßen in beständiger Gefahr, umge-schmissen zu werden. Es schickt sich nicht, auf der Landstraße zu Fuße zu gehen und muß dies eben den Touristen klar gemacht werden. Bald um eine Ecke zeigte sich das Gasthaus, das ich nach all den Bären-geschichten mir ehrwürdiger gedacht hatte. Der gute Petz scheint glücklich in unserem Vaterland ausgerottet zu sein. Schade, denn der Schaden, den er hie und da anrichtete, war nicht sehr erheblich und nicht zu vergleichen mit dem angenehmen Gruseln, das das Reisepublikum durchschauerte, wenn in abgelegenem Wirtshaus bei Regen und Schneegestöber Bärenabenteuer erzählt wurden. Hätte man das ausgezahlte Schußgeld dazu verwendet, die paar Schafeigentümer zu entschädigen, so hätten wir noch die allerdings unendlich geringe Chance, im freien Walde dieses Wappentier anzutreffen. Unser Fuhrwerk war noch nicht da, und so konnten wir in Ruhe unser Mittagsmahl verzehren. Der Himmel hatte sich inzwischen verfinstert, und als wir etwa eine halbe Stunde auf der ungeheure Windungen beschreibenden Straße gefahren, kam ein Sturzregen. In dieser Gegend, der sogenannten Ova del Fuorn, zweigt das Sträßchen ab, das an den wilden Felsufern des Spöl entlang nach Livigno führt. Die Straße fängt hier an, zu steigen, bis man die Höhe erreicht hat, wo es nun decidiert thalauswärts nach dem Engadin geht. In unermeßlicher Tiefe sieht man unten den Spöl. Hier begegneten wir den Wagen der eidgenössischen Post und hatten die allergrößte Mühe, an denselben vorbeizukommen. So schmal ist hier die Straße, daß die Achse des einen Wagens über die Achse des andern Wagens hinüber-gehoben werden mußte, um durchzukommen. Es muß allerdings zugegeben werden, daß man sich bei einer so langen und so schwer auszuführenden Straße begreiflicherweise auf das Minimum der Breite beschränken mußte. Die Straße datiert aus dem Jahre 1872 und 1873 und ist eine Straße zweiter Klasse. Die Länge von Münster bis Zernetz beträgt 39,25 Kilometer, die Paßhöhe 2155 m.
Auch im Thale draußen hatte es etwas geregnet, und wir trafen eine ganze Reihe von Heufuhrwerken, auf denen die in Tücher eingebundenen Mannslasten übereinander getürmt waren. Wir sahen, daß diese Architektur, vielleicht unter dem Einfluß des Regens, nicht ganz solid sei, da vor unsern Augen eine Frau mitsamt dem Bündel, auf dem sie saß, vom Wagen auf die Straße kollerte. In Zuoz freuten sich die Leute, daß es etwas angefeuchtet und abgekühlt hatte. Zeiten: Von Sta. Maria nach Cierfs 2 Stunden, bis zur Paßhöhe 1 Stunde 30 Minuten, bis zum Forno-wirtshaus 1 Stunde 25 Minuten; Summa 4 Stunden 55 Minuten.