Pico Humboldt (4942m) und Pico Polivar (5007m) in den venezolanischen Anden
VON FRITZ AEBERLI, CARACAS ( VENEZUELA )
Mit 1 Bild ( 99 ) Venezuela ist ein dem Bergsteiger wenig bekanntes Land. Es locken nicht unerstiegene, eisgepanzerte Gipfel wie in Peru oder Ecuador, und die Leute im Land selber sind der Ansicht, Bergsteigen in den Tropen strenge zu sehr an und sei deshalb zu meiden. So wurde ich informiert, ehe ich hieher reiste; resigniert liess ich also Seil und Pickel zu Hause und begann mich damit abzufinden, Wandern und Bergsteigen für einige Jahre lassen zu müssen.
Nachdem ich dann in Caracas - in einem Tal auf 1000 Metern Höhe gelegen - angekommen war, schaute ich dennoch oft sehnsüchtig zur Küstenkordillere auf, die dort bis fast 3000 Meter ansteigt. Und als ich gar wenig später Gelegenheit hatte, nach Mérida zu fahren, zogen mich die Gipfel der Sierra Nevada in ihren Bann. Ich begann neue Hoffnung zu schöpfen, aber trotzdem vergingen drei Jahre, ehe ich sie besteigen konnte.
Zuerst galt es, Kameraden zu suchen, und nach langem fand ich unter den Pfadfindern einige junge Venezolaner, die gleich mir Freude am Wandern und am Aufenthalt draussen in der Natur hatten.
Ihre Ausflüge beschränkten sich zwar meist auf die Umgebung von Caracas, wo sie zur « Siila » oder zum Pico Naiguata aufstiegen. Oft zogen wir miteinander los, und als ich überzeugt war, dass sie begeistert und widerstandsfähig waren, begann ich sie für meinen Plan - eine Tourenwoche in den Anden - zu interessieren. Obwohl die wenigsten jene Region kannten, waren sie für die Idee bald Feuer und Flamme.
Frühzeitig begannen wir mit den Vorbereitungen; die Ausrüstung wurde zusammengetragen, wobei ich meine ganze Überzeugungskraft aufbieten musste, um meinen Begleitern, die die Kälte nicht kannten und noch nie Schnee gesehen hatten, den Nutzen von Steigeisen, Handschuhen und Mützen zu erklären!
Endlich war es so weit: Am frühen Morgen des Fastnacht-Samstages 1963 fuhren wir weg und erreichten noch am gleichen Tag « La Mucuy », eine Forschungsstation der Universität Mérida, auf 2000 Metern und am Fusse der Sierra Nevada gelegen. Dort stellten wir die Autos ein und trafen uns mit Nicolas Sanchez, dem einheimischen Führer. Am folgenden Tag nahmen wir den Weg aufwärts unter die Füsse, wobei uns ein Maulesel wertvolle Hilfe leistete und zwei Esskisten und ein Zelt in die Höhe trug.
Die Vegetation gehört hier zum Typ des tropischen Regenwaldes, üppig, mit hohen Bäumen und dichtem Unterholz, aus welchem hie und da ganz unerwartet eine leuchtende Blume in bizarren Formen heraussticht. Nach vier Stunden Marsch erreichten wir das Tagesziel, die Laguna Coro-moto ( 3300 Meter ), wo wir in einer Schutzhütte Unterkunft fanden. Mit Absicht hatten wir die ersten Etappen nicht zu lang gewählt, um uns langsam und gleichmässig an die Höhe zu gewöhnen. Da von dort an der Weg für Maulesel nicht mehr gangbar war, liessen wir das Tier mit Bedauern zurückkehren und verteilten auch noch den Rest der Last auf die schon genügend schweren Rucksäcke.
Am Montag stiegen wir langsam im engen Tal höher; die Vegetation wurde spärlicher, und gegen Mittag kamen wir zur Laguna Verde, auf 4000 Metern gelegen. Darüber, fast 1000 Meter höher, der weisse Gipfel des Pico Humboldt, vor uns seine Flanke, die der schwindende Gletscher kahl-gelassen hatte. Die Ufer waren nur noch mit harten Gräsern bewachsen, die damals in der Trockenzeit dunkelgelb leuchteten.
Die Sonne brannte kräftig, als wir durch ein offenes, leicht ansteigendes Tal weitermarschierten. Am späten Nachmittag gelangten wir zur Laguna del Suero, einem kleinen, milchig-grünen Bergsee. Auf der Moräne stellten wir die Zelte auf und machten uns gleich ans Holzsuchen. Wir beeilten uns, denn die Nacht fällt jahraus, jahrein um sechs Uhr ein; die Dämmerung ist nur kurz, und rasch wird es dunkel. Mit der Dunkelheit kam auch die Kälte, und bald krochen wir in die Zelte.
Tagwache war vor Sonnenaufgang; noch schlotterten wir. Das Thermometer zeigte -4 Grad, die Lagune war mit einer dünnen Eisschicht bedeckt, und sehnsüchtig erwarteten wir die wärmenden Strahlen der Sonne. Kurz nach sechs Uhr begann sie die ersten Gipfel zu bescheinen; wie an den vorhergehenden Tagen war der Himmel wieder wolkenlos.
Mit leichtem Gepäck marschierten wir los, dem Gipfel des Pico Humboldt entgegen. Nach einer Stunde kamen wir zum Gletscher, der sich bis fast zum höchsten Punkt hinaufzieht. Zwei Stunden später hatten wir es geschafft: Wir betraten den Gipfel und bewunderten die Rundsicht, im Nordwesten den Pico Bolivar und die langgestreckten Grate der auslaufenden Andenkette, vor uns der wenig niedrigere Pico Bompland, im Osten ein Nebelmeer, das die Sicht in die Llanos, die unermesslichen Ebenen des Orinoco-Beckens, verdeckte, und im Westen, schon fast nicht mehr sichtbar in der blauen Ferne, die Sierra Nevada de Cocuy in Kolumbien.
Nach einer kurzen Gipfelrast stiegen wir ab und folgten im untern Teil dem Rande des Gletschers, wo geheimnisvolle Eishöhlen uns begeisterten.
Am Mittwoch wurde unsere Widerstandskraft auf die Probe gestellt, als wir von der Laguna del Suero hinüberwechselten zum Fusse des Pico Bolivars. Acht Stunden Marsch, wiederum mit dem gesamten Gepäck, durch Geröllhalden auf 4600 Metern, bei einer alles austrocknenden Luftfeuchtigkeit von 13% und gebeugt unter den schweren Säcken, wurde dieser Tag zu einer richtigen Härteprüfung. Doch auch diese fand ihr Ende, und vor dem Einnachten stellten wir die Zelte neben den Ruinen des Refugios « Albornoz » auf. Der Schlaf war unruhig, denn der nächste Tag sollte ja das grosse Ereignis bringen, die Besteigung des höchsten Gipfels Venezuelas, der nach dem Befreier Simon Bolivar heisst und schon deshalb jedem Venezolaner heilig ist.
Noch vor dem Morgengrauen waren wir auf den Beinen, schlugen das Eis vom Gletscherbach, liessen uns den heissen Kaffee munden und begannen bald darauf den Aufstieg. Während einer Stunde marschierten wir entlang der Randmoräne des Glaciar de Timoncito, bis wir dann, der Route Weiss folgend, im Couloir zusehends an Höhe gewannen. Obwohl wir keinen Schwierigkeiten begegneten, kamen wir nur langsam vorwärts, denn auf dieser Höhe steht man nach jedem Schritt still, um zweimal tief zu atmen! Gegen elf Uhr erreichten wir den Grat, der den Blick hinunter ins Tal von Mérida erlaubt, und nach kurzer, luftiger Kletterei standen wir auf dem Gipfel neben der Statue des « Libertadors ».
Schweigend genossen wir die Gipfelrast, dankbar dafür, das lange ersehnte Ziel erreicht zu haben.
Der Abstieg bot keine Probleme und beim Lagerplatz angekommen, fühlten wir uns noch so frisch, dass wir gleich die Zelte abbrachen und den eine Wegstunde entfernten Pico Espejo ansteuerten, wo eine Hütte bequemere Unterkunft versprach. Vierzehn Stunden schliefen wir tief und selig, und erst gegen elf Uhr weckten uns Touristen, die von Mérida heraufgekommen waren. Wie wir hörten, dass die Seilbahn in Betrieb sei ( normalerweise fährt sie nur Samstag und Sonntag ), packten wir rasch unsere Rucksäcke, um noch am gleichen Tag ins Tal fahren zu können.
Wir verbrachten eine letzte Nacht in Mérida und fuhren dann zurück in die Hauptstadt, alle zufrieden und stolz über die Erlebnisse in hohen Bergen.