Obergabelhorn-Nordgrat
VON WERNER GLANZMANN, PRATTELN
Mit I Bild ( 135 ) Seit drei Tagen sitzen wir, meine Kameraden Sepp Schmid, Albert Denz und ich, hier in der Mountethütte. Ich kann ruhig schreiben, denn das Wetter scheint sich weder nach unseren Wünschen noch nach dem Tatendrang einrichten zu wollen. Lautlos und gleichmässig fallen die schweren weissen Flocken zur Erde. Die Sicht ist auf wenige Schritte beschränkt. Unser umfangreiches Schönwetter-Tourenprogramm haben wir bereits tief im Rucksack versorgt und uns an die alte Lebensweisheit erinnert: « Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt. » Ein einzigartiges Erlebnis ist es aber immer wieder, wenn nach solchen Tagen die Nebel sich teilen und die umliegenden Berge in kristallner Klarheit vor uns stehen: hier dominieren vor allem die mächtige Dent Blanche, das Zinalrothorn und das Obergabelhorn mit seinem steil abfallenden Nordgrat. Dieser Grat lockt uns zur Kletterfahrt!
Um 2 Uhr leuchtet uns der Hüttenwart mit dem unruhig flackernden Kerzenlicht in die schlaftrunkenen Gesichter. Anderthalb Stunden später stehen wir bei dem dreieckigen Einstiegfelsen, im Clubführer « Cœur » genannt, wo wir uns auch anseilen und die Steigeisen anschnallen. Vor vier Jahren, als ich meine Ferien ebenfalls in dieser Gegend verbrachte, war das nun folgende Wegstück noch ein riesiges Geröll- und Felsbollwerk, heute aber ist es von Firn und Eis bedeckt. Wir queren nun auf dem ausgeprägten Schneeband etwas nach links und steigen durch ein trichterförmig verengertes Couloir auf das anschliessende grosse Schneefeld. Mit den Steigeisen gewinnen wir in dem leicht gefrorenen steilen Hang rasch an Höhe. Die letzten Seillängen vor dem Ausstieg zum Firngrat bereiten uns etwelche Schwierigkeiten, da die eigentliche Schneeschicht sehr dünn und mit der Eisunterlage nicht verbunden ist. Wir ziehen es deshalb vor, auf der rechts von uns liegenden Felsrippe das Glück zu versuchen. Kaum ist Sepp, unser Vordermann, um eine Ecke verschwunden, bemerkt er auch schon eine alte Abseilschlinge und ein verwittertes Seil, das wohl jemand beim Abstieg hängen lassen musste. Noch einmal werden wir gezwungen, über ein kurzes Stück emporzuhacken, dann aber stehen wir am Anfang des majestätischen Grates.
Während der wohlverdienten Pause, die wir nun einschalten, zieht Sepp seine lederne Mallorca-flasche hervor und reicht sie grosszügig herum.
Unvergleichlich schön ist von hier der Blick in die Nord wand, und wir sind nicht wenig erstaunt, eine Partie, die, von der Wellenkuppe kommend, in die Wand eingestiegen ist, beobachten zu können.
Inzwischen ist es 10 Uhr geworden. Der Himmel hat sich gleichmässig mit leichten Wolken überzogen: eigentlich ideal für uns, da die Sonne den Firn nicht so stark aufweichen kann! Vor einem markanten Aufschwung, den man auch von der Mountethütte aus gut sehen kann, wird der Grat buchstäblich messerscharf. Rittlings und gut sichernd bringen wir das kurze Stück hinter uns. Zwei Partien, die von der Rothornhütte über den « Grossen Gendarm » heraufgestiegen sind, haben den Gipfel bereits erreicht und jauchzen uns zu, von den Mühen des Aufstiegs erleichtert. Auf dem Grat gewinnen wir rasch an Höhe, und unversehens stehen wir vor dem letzten Stück des Nordgrates: der etwa 90 Meter hohen Schlusswand. Der Schrund wird einem im Spätsommer ab und zu ein kleines Problem aufgeben, heute aber ist er fast vollständig zugeschneit. Nach kurzem Suchen findet Sepp einen geeigneten Übergang, und zwanzig Minuten später reichen wir uns auf dem Gipfel glücklich die Hand. Ich kann mir vorstellen, dass man von hier aus eine wundervolle Rundsicht auf die Zermatter Berge haben kann. Leider müssen wir es aber mit dem « Vorstellen » be- wenden lassen: dichter Nebel beginnt uns einzuhüllen. Auch die Windstärke hat bedeutend zugenommen Bei diesen « negativen Vorzeichen » müssen wir unsern ursprünglichen Plan, wieder über den Nordgrat abzusteigen, ändern und wählen deshalb für den Rückweg den Arbengrat. Mehr, als wir erwartet haben, geben uns die stark verschneiten Felsen dieses sonst so gutartigen Grates zu schaffen.
Am späten Nachmittag wandern wir auf der mit herrlicher Flora bedeckten Moräne das Arben-tälchen hinunter und schliessen diese trotz dem Wetterumschlag prächtige Bergfahrt.