Mit Bergschuhen und Seil im Unterland (Zulgenschlucht)
( DIE ZULGSCHLUCHT BEI THUN ) VON RICHARD HOPF, THUN
Mit 1 Bild ( 53 ) Nach den herrlichen Sommerferien mit den vielen ausgeführten und nicht ausgeführten Bergfahrten hielt es schwer, wieder dem Alltag nachzugehen. Der Drang, sich in den Bergen, in der Natur überhaupt, zu bewegen, war da, und es fehlte nur die Zeit zu grösseren Taten. Auch die Buben sassen bei dem schönen Wetter verdrossen auf den Schulbänken und warteten auf Gelegenheiten, sich auszutoben. Es musste etwas « laufen »!
Nun, wir wählten in unserer Umgebung ein halbtägiges Unternehmen, das in eine überaus romantische, einsame Gegend führt und dazu noch Gelegenheit zum Klettern, Abseilen und Schwimmen bietet:
Die Zulg ist ein etwa 25 km langes Flüsschen, das im Vorgebirge entspringt und etwas unterhalb Thun in die Aare fliesst. In seinem mittleren Lauf zwängt es sich einige Kilometer weit durch eine tiefe Sandstein- und Nagelfluhschlucht. Diesen Teil flussabwärts zu durchklettern war unser Ziel. Wenn du Lust hast, uns zu begleiten, so folge mir nun auf unserem anspruchslosen Unternehmen.
Das Auto führt uns in etwa 25 Minuten auf kurvenreichem Strässchen über Homberg und Teuffenthal zum Schulhaus Horrenbach. Auf steinigem Pfade steigen wir an der düsteren und unheimlichen Horrenbachmühle vorbei steil hinunter zur Koppisbrücke über die Zulg. Ein Blick flussabwärts zeigt uns für die nächsten paar 100 m keine Hindernisse, da seitlich immer mehr oder weniger schiefe Nagelfluhplatten oder sogar Kiesbänke das Wasser flankieren. Die Socken werden im Rucksack verstaut, da man bald rechts, bald links vom Fluss besser vorwärts kommt und von einer auf die andere Seite wechseln muss. So gehen wir mit blossen Füssen, in gut genagelten Bergschuhen, abwechslungsweise auf grobem Kies stolpernd, dann wieder auf hartem, glattem und schiefem Nagelfluhgesimse Adhäsion suchend oder im Wasser watend.
Nach einer kleinen Biegung wird das erste Hindernis sichtbar, ein etwa 5 m hohes Nagelfluh-wändchen. Ein entwurzeltes Bäumchen ohne Äste, das dort im Wasser liegt, wird hervorgezerrt und an den Fels gelehnt. Mit seiner Hilfe können wir die unterste Zone, die steil, glatt und fast grifflos ist, erklimmen und weiter oben mittels vieler, doch schlechter Griffe ganz hinaufkommen ( Diese Stelle könnte auch auf der andern - linken - Flußseite umgangen werden. ) Gleich nach diesem Hindernis kommt ein zweites: Ein Wasserfall muss auf seiner linken Begrenzung über einen senkrechten Riss hinunter überwunden werden.
In der Folge bietet der Fluss immer ähnliche Bilder: Friedliche Strecken mit Uferstreifen, plötzlich unterbrochen von Felsquerriegeln. In diesen zwängt sich das Wasser zwischen hohen, oft senkrechten Wänden hindurch, zuweilen einen Wasserfall bildend. Diese Querriegel zu überwinden gilt nun unser besonderes Interesse. Und wir haben zu diesem Zwecke 30 m Seil und 30 m Reepschnur mitgenommen, dazu Badehose und wasserdichten Kleidersack. Wie wir später sehen, sind 30 m Seil ausreichend, da keine Stelle mehr als 15 m Doppelseil erfordert und Bäume, das Seil darum zu legen, immer vorhanden sind. An einer Stelle allerdings diente uns eine Baumleiche als einzige Befestigungsmöglichkeit für das Seil. Sie könnte mit der Zeit faul und unbenutzbar werden. In diesem Fall würde dann nur noch die Badehose weiterhelfen.
Bis zum sogenannten Schafdeeristeg sind nun keine erheblichen Hindernisse mehr anzutreffen; wir kommen ordentlich vorwärts und entleeren fleissig die Schuhe vom Wasser durch Hochheben der Füsse, wenn wir jeweils den Fluss gequert haben.
Gewöhnlich führt die Zulg nicht gerade viel Wasser. Man findet immer Stellen, die nie mehr als knietief sind. Bei Hochwasser, welches überraschend schnell bei Gewittern und Regengüssen im Quellgebiet kommen kann, wird die Begehung der Schlucht schwierig, wenn nicht unmöglich.
Um vom Schafdeeristeg die Sohle der Schlucht zu erreichen, müssen wir zum ersten Male abseilen, etwa 10 m geht 's hinunter über ein senkrechtes Wändchen mit Landungsstelle im dort etwa 50 cm tiefen Wasser.
Bald taucht ein weiteres Hindernis auf, und die Folge lehrt uns, dass die meisten und interessantesten Hindernisse in diesem Teilstück konzentriert sind. Auf einer stark geneigten Nagelfluh-platte kriechen wir über dem Wasser dem Fluss entlang, überall Adhäsion suchend. Mein junger Begleiter kommt ins Rutschen, und ich sehe ihn schon unten im Wasser landen. Doch im letzten Augenblick kann er noch Halt finden, und als Andenken trägt er gehörige Bremsspuren in Form einer ausgedehnten Knieschürfung davon.
Gleich kommt ein weiterer Felsriegel mit seitlich hohen Wänden, und hindurch sieht man eine zweite Schlucht, sowie anschliessend einen Wasserfall. Diesen hört man allerdings besser, als man ihn sieht.
Zur Abwechslung, und um Zeit zu sparen, entledigen wir uns der Kleider, und mit Seil, Bergschuhen an den Füssen und dem aufgeblasenen Kleidersack mit Inhalt durchschwimmen wir die beiden Schluchten. ( Ein späteres Mal, als das Wasser zu kalt war, überwanden wir diese Stellen mittels Abseilen auf der linken Seite, wobei die oben erwähnte Baumleiche als Seilbefestigung dienen musste. ) Es geht ganz gut. Die Schuhe ziehen allerdings gehörig nach unten, doch wagen wir nicht, sie auszuziehen, da man unter sich spitzige Steine und Holzknebel vermutet, aber nicht sehen kann. Als Kompensation zu dem Zug nach unten gibt der luftgefüllte Kleidersack sehr willkommenen Auftrieb. Wir erreichen gut und mit Hühnerhaut vom kalten Septemberwasser die Stelle ob dem Wasserfall.
Im weissen Gischt sieht man nun nicht, wie tief oder vielmehr wie wenig tief das Wasser ist. So wagen wir den ursprünglich vorgesehenen Sprung über den Wasserfall hinunter nicht.
Über eine Felsplatte hinauf erreichen wir hoch oben ein Tännchen, von wo aus ein Abseilmanöver gestartet wird. Über eine meist überhängende Stelle geht es unterhalb des Wasserfalles in ein schönes Bassin hinein ( siehe Bild ).
Zum Glück ist das Wasser nicht tief, und nach Überklettern einiger Blöcke gelangen wir zum Keistlisteg oder vielmehr der Stelle, wo er sein sollte. Er liegt nämlich zusammengestürzt im Flussbett.
Die nächste Etappe bis zum Eselsteg bietet keine besonderen Schwierigkeiten. Es geht immerzu hochromantisch flussabwärts, ab und zu über ein neckisches Wändchen hinunter. Doch mit dem Seil lassen sich diese immer gut bewältigen. Unterhalb des Eselsteges ändert sich langsam der Charakter der Schlucht: Nach Abstieg über ein glattes, kleines Wändchen, wo man wirklich überall Adhäsion suchen muss, und einer leicht exponierten, ansteigenden Traverse über ein Felsband, füllen nun zimmergrosse Nagelfluhblöcke das Flussbett aus. Eine lustige Turnerei geht an, über, neben und unter den Blöcken hindurch klettert man abwärts - und plötzlich ist das Vergnügen zu Ende! Immer friedlicher fliesst die Zulg weiter zu Tal und wird zum Weiterverfolgen nicht mehr interessant.
Wir verschnaufen ein wenig, sind froh, die trockenen Socken anziehen zu können, und richtig müde steigen wir in den schrägen Strahlen der Abendsonne auf steilem Pfade zur Schwarzenegg hinauf.
Hochbefriedigt von dieser überaus reizvollen Exkursion fahren wir zu Tal.
Die Alpen - 1957 - Les Alpes129