Martinsmaad
Mit 1 Bild.
Von Ernst Attinger
( Stein a. Rh., Sektion Winterthur und Randen ).
Was ich berichten will, soll ein Ruf sein an die, welche wissen, wie das ist, wenn man die Wochen zählt und die Tage, in denen man auf den Fels wartet. Ihnen gehört mein Bericht von der Martinsmaad. Denn die Wege, die ich beschreiben möchte, sind ihre Wege.
Wer aber kann mit armseliger Feder wiedergeben, was er im Fels erlebt?
Wir Kletterer sind wie die Tiere dieser Berge. Wir fühlen das animalische Glück unserer Hand, den Griff zu erfassen im Fels, und unseres Auges, geblendet zu sein von der Flut dieses Lichts.
Im reichen geologischen Bau der Martinsmaad und ihres Exkursionsgebietes wird der Mann der Dolomit- oder Schnürsohlen Ausschau halten nach den hellen, massiven Wänden und Schichten des Hochgebirgskalkes. Aus diesem herrlichen Material sind denn auch die Routen und Wege gebaut, die ich anschliessend beschreiben will. Mögen diese letztern dazu beitragen, die Martinsmaad denjenigen nahe zu bringen, die um das heimliche und dennoch grosse und leuchtende Glück dieser Kletterwege wissen.
Der Gietscherhorngrat des Vorab. 5. September 1940.
Immer werden diese zwischen Schatten und Licht aufsteigenden Ost- und Westgrate der Alpen die Phantasie des Wanderers mächtig erregen. So ging es auch mir mit dem Schwung der gewaltigen Gratlinie, die sich vom Gletscherhorn ostwärts über die Wand von Hochgebirgskalk hinausbaut und hinuntersenkt.
Eigentlich war es ber Peter Marti, der alte Pionier der Tschingelhörner, der den Plan eines Angriffes auf diesen Gietscherhorngrat in mir reifen liess. Er wusste zu berichten, dass schon die ältesten Freunde der Martinsmaad das Fehlen einer grosszügigen Felsroute auf den Vorab bedauerten. Und er vertraute mir, dass er schon längst überlegt, ob nicht doch dieser in seinem unteren Drittel mit spie gelnden Gendarmen, in seiner obern Hälfte mit einem eindrucksvollen Aufschwung gewappnete Grat Möglichkeiten des Aufstieges offen Hesse.
Wissend um diese Probleme verbrachte ich die letzte Kletterfrist des Sommers 1940 ( Anfangs September ) mit meinem Kameraden und Führer Niklaus Kohler {Willigen, Oberhasli ) auf Martinsmaad. Selbstverständlich musste auch Peter Marti von der Partie sein.
Die Route selbst gestaltete sich folgendermassen: Von der Martinsmaad führt sie südlich über das sogenannte « Wändli » in den oberen Talkessel, der direkt unter der h^hen Wandstufe des Hochgebirgskalkes liegt. Dann über Moränenschutt zum Einstieg in den ostwestlich verlaufenden Grat. Der Fels wird am Fusse d,s schroff aufschiessenden, blockartigen ersten Gendarmen ( der aus hellem, massivem Jurakalk besteht ) angepackt. Die Kletterei ist von Beginn an sehr anregend, mehr als mittelschwer und verlangt ungeteilte Aufmerksamkeit. Man verfolgt die scharfe Schneide über mehrere Grattürme hinweg.
Gegen Ende des ersten Gratdrittels erscheint vor uns ein scheinbar völlig glatter, senkrechter Aufschwung, den wir schon aus der Ferne kritisch betrachteten. Wider Erwarten aber wird auch dieser unter Nikiaus Führung ohne jede Abweichung direkt genommen. Nun wird die Schneide selbst etwas zahmer, obschon die Plattenschüsse links und recht sich glatt in die Tiefe senken. Wir klettern längere Zeit alle gleichzeitig. Langsam rücken wir so dem letzten Drittel entgegen, wo die glatte Gratschneide in den breiter werdenden, sich steil aufrichtenden Teil übergeht. In senkrechter, kleingriffiger Kletterei wollen wir den Beginn dieser Stufe über prächtige Gendarmen weiter verfolgen. Der erste dieser Türme bricht aber auf seiner Rückseite glatt und haltlos in eine tiefe Scharte ab, was uns zwingt, ihn seitlich ( nordwärts ) durch einen interessanten Kamin abwärtskletternd zu verlassen. Wir gelangen so nördlich dieser Gendarmen in eine ziemlich breite, wenig ausgeprägte Rinne, die uns, entgegen unserer Erwartungen, an dieser dritten steilern Stufe ohne eigentliche Schwierigkeiten rasch in die Höhe bringt. Diese Rinne liegt ungefähr in der jetzt nicht mehr sehr ausgeprägten Gratlinie und schliesst direkt an die vorher begangene Schneide an. Die stark überhängende, glattwandige oberste Ecke des Grates wird nach Durchsteigung der Rinne auf abschüssigem Schneeband etwa 20—30 Meter in die Nordwand hinaus umgangen, worauf wir von Norden her kletternd eine Scharte erreichen. Aus dieser Scharte über eine kleine Wand ostwärts auf das Gipfelplateau des just umgangenen Eckturms, von dem aus wir einen eindrucksvollen Tiefblick gemessen. Zurück zur Scharte geht 's und sofort anschliessend durch eine hohe Verschneidung, schwierig und interessant, über den letzten senkrechten Abbruch zur flachen schneebedeckten Fortsetzung des Grates. Die letztere führt uns in 10—15 Minuten zur Spitze des Gletscherhorns.
Die reine Kletterarbeit nimmt gut vier, die ganze Fahrt von der Martinsmaad zum Gipfel des Gletscherhorns sechs Stunden in Anspruch. Der Stein ist mit geringen Ausnahmen solid. Die Route ist wegen ihrer idealen Linienführung, der Exponiertheit, der meist anregenden, häufig nicht leichten Felsarbeit und dem höchst eigenartigen Amphitheater, in dem letztere sich abwickelt, sehr zu empfehlen. Sie bietet den herrlichsten Zugang zum Bündnerbergfirn und ist die Vorabroute des Felsenmannes.
Die Gruppe der Zwo 1fihörner.
Der Glarnerführer weiss vom grossen und vom hintern Zwölfihorn zu berichten, unbekannt aber sind die dreissig oder fünfzig Meter niedrigeren, herrlich steilen Klettertürme, die ostnordöstlich direkt an das grosse Zwölfihorn anschliessen.
Das hintere Zwölfihorn besteht aus bröckligem, stark verwittertem Gestein, braunem oder schwarzem Jurakalk, der für den Kletterer wenig angenehme Eigenschaften besitzt. Auch das grosse Zwölfihorn ist nur ungefähr in seiner untern Hälfte aus dem massiven Kalk des weissen Jura aufgebaut.
Die Alpen — 1941 — Les Alpes.34 MARTINSMAAD.
Dies fühlen auch Niklaus Kohler und ich, als wir am 7. September 1940 seinen Ostgrat begingen ( sieh 2 die hohe, sozusagen lotrechte Kante auf dem beigegebenen Bild ). Von der direkten Gratkante, die im untern Teil scharf und schön ist, wichen wir nur oberhalb der nahe der Ostkante aufgestellten Platte für eine kurze Strecke und nur um einige Meter in die Südwand ab, um die Gratkante d inn in wenig zuverlässigem Gestein ( brauner oder schwarzer Jura ) rascr wieder zu erreichen und bis zur Einmündung des Grates in die Norma route zu begehen. Diese Route über die Ostkante würde als sehr schön zu bezeichnen sein, wenn das Gestein auch in der oberen Hälfte fest une sicher wäre. So aber muss die letztere mit Vorsicht begangen werden.
Eine ungeteilte Freude aber ist die Begehung der obgenannten hellen Kalkzacken, die ostnordöstlich an das grosse Zwölfihorn anschliessen. Man könnte sie die vorderen Zwöl/ihörner oder die Türme nennen. Obwohl sie, wie oben gesagt, etwas niedriger als das grosse Zwölfihorn sind, ist die Höhe der zu erkletternden Grate und Wände eher grösser als am grossen Zwölfihorn.
Am Südfusse der Scharte, zwischen den beiden Hauptgipfeln, steigen wir ( 7. September 1940 ) in eine nicht sehr ausgeprägte Rinne ein, die uns in schöner Kletterei ( die )ersten Meter schwierig, da keine Griffe vorhanden ) in die Scharte führt. \on hier über den prächtigen Grat ( er erinnert an den Westgrat des fünften Kreuzberges ) nach Osten bis zum senkrechten Gipfelturm des östlichen Zackens. Dieser Gipfelturm kann nördlich durch eine Rinne, südlich aber auf schmälstem Band und in herrlicher, lotrechter Kletterei an exponierter Wand erstiegen werden. Zurück zur Scharte und Abstieg des obersten Drittels im Aufstiegskamin. Dann Hinaustraversieren in die Südwand des westlichen Turmes, längs einer griffarmen Platte ( nahe der Ostkante des Turmes ) steil zum obern Rand dieser Platte, Überwindung eines kurzen, aber schweren Überhangs an der Ostgratkante; dann wieder Zurück-traversieren in die Südwand zu einem Stemmkamin, der den Gipfel durchreisst. Durch diesen zur Spitze.
Die Arbeit in diesen hellen, festen und steilen Fels ist wahrhaft herrlich und erinnert uns in ihrer Schönheit an die Silberplattenköpfe. Sie ist den Klettereien am grossen und hintern Zwölfihorn bei weitem vorzuziehen. Die Routenführung ist auch viel eindrucksvoller und zeitweise von kaum zu überbietender Expositie n. Eine Ahnung von der Felsromantik dieser Türme mag das Bild wiedergeben. Eine Ahnung auch davon, wie das Licht des Bündnerbergfirnes in diese Kletterzacken hinüberzündet.