Macchia und Granit: Klettern in Südkorsika
Alex und Hans-Peter Reber, Basel
Samstag, 9. April 1983: Um zwei Uhr morgens erreicht ein grauer Fiesta das südlich warme Livorno. Hat uns bis jetzt die kurvige Apenninautobahn wachgehalten, so übernehmen dies nun lärmende Demonstranten und brummende Motoguzzis. Irrfahrten durch die nur schlecht signalisierte Stadt - die überbe-schilderte Schweiz liegt seit Stunden hinter uns - dann der schwach erleuchtete Hafen, das bereits unter Dampf stehende Fährboot ( Corsica Viva>. Wir versuchen im Auto zu schlafen.
Stunden später das Meer, sein unverkennbar feuchter Duft, Vögel, die gierig dem schwimmenden Stahlungeheuer folgen. Elba, kahl, menschenleer, gleitet an uns vorbei, von den meisten nur durch die angelaufenen Scheiben erkannt. Auf dem Wasser liegt jener Spiegel, in dem jeder Ferienreisende wohl die kommenden Tage zu schauen versucht: Was wird uns Korsika dieses Mal bringen? Einige Passagiere photographieren, versuchen schon jetzt auf dem Schiff jedes Detail zu bannen, die Zeit anzuhalten, jeden schönen Augenblick für den grauen Alltag zu konservieren. Mittag ist schon vorbei. Lautsprecher mit frischer Musik und eingestreuten Menüvorschlägen locken die Reisenden unter Deck. Nur wenige bleiben oben und erleben jenes Schauspiel, das uns jedesmal aufs neue fasziniert: In der Ferne taucht ein Gebirge aus den Fluten, wird eine Welt geboren, die uns Kletterer immer wieder anzieht.
Schnell verlassen wir Bastia, entziehen uns dem Rummel, dem Tourismus der Ostküste. Im Hintergrund schneeweisse Höhenzüge, vor uns blühende Orangenhaine — welch ein Gegensatz! Doch dann die erste Enttäuschung:
trockneter Schlamm zeigen, dass der Winter sein Regime erst kurze Zeit abgetreten hat. Mit leuchtenden Farben und stechenden Düften empfängt uns die Gebirgswelt des Mittelmeeres: Bei uns noch im tiefsten Winterschlaf, schwelgt die Natur hier bereits in unbeschreiblicher Schönheit.
Was uns zuerst auffällt, sind grosse, namenlose Granitdome, Plattengebilde, die wohl nur durch den langen Anstieg einer Erschliessung durch das moderne Klettern entgangen sind. Der breite Kessel zwischen dem Col de Larone und dem Bavellapass erscheint uns ideal als Ausgangspunkt. Rasch steht unser Kuppelzelt inmitten grösser Felsblöcke, die zum Bouldern geradezu einladen. Grobkörniger Granit, vorzügliche Haftung der Schuhe -unsere Erwartungen für die nächsten Tage sind hoch. Erst am Abend finden wir Zeit, in Ruhe unser Panorama zu entschlüsseln. Vieles ist uns schon bekannt: im Süden die Ferriate-Türme, die Paliri-Gruppe, im Nordwesten die Cornes d' Asinao, die Pargulu, Punta di San Gio Agostino. In greifbarer Nähe die Punta Rossa und jener Granitdom, dessen Verschneidungen, Risse, Schuppen und Platten uns begeistern. Erst das abendliche Nebel-spiel gliedert die vielen namenlosen Kanten und Pfeiler und zeigt neue, nie geahnte Dimensionen. Welch eine ungewohnte Ruhe!
Der frühe Morgen ist empfindlich kühl, der Himmel sternenklar. Wie grosse Wächter um-lauern die dunklen Felszähne unsere bescheidene Gasflamme. Die gefrorenen Autoschei-ben zeigen uns eine Wirklichkeit, der wir mit gemischten Gefühlen gegenüberstehen. Noch steckt uns die schlaflose Reisenacht in den Knochen, als die ersten Morgennebel zu steigen beginnen und uns wie aus einem Schlund von der Ferriate-Gruppe entgegengeworfen werden. Minuten später tauchen wir wie benommen aus dieser verwobenen Blässe auf. Über uns beginnt es zu dämmern: Alle Schwärze weicht einem matten, frischen Grün, und über allem wachen die Asinao- Türme, die im ersten Sonnenlicht wie mahnende Finger in die Höhe schiessen.
Kaum eine Stunde später stehen wir am Fuss jener Wand, deren Eckpfeiler seit kurzem unser Favorit geworden ist - erst gestern, auf dem Tour de l' Oiseau uns von anstrengender Kletterei erholend, haben wir den Entschluss zur Begehung gefasst. Schnell sind die Schuhe gewechselt, ist die Route in ihren gröbsten Zügen bestimmt. Dann das gewohnte Zittern am Einstieg, die Kontaktnahme mit dem Fels, die ersten Meter, wachsende Freude, Begeisterung. Ein guter Stand lässt den ersten Rausch vergessen, denn er bedeutet Abgabe der Führung, für die nächste Länge Seilzweiter zu sein. Der anfänglich kegelförmige Pfeiler steht nun als steile Granitnadel an der Wand. Das stetige Gleiten des Seils vermittelt dem Sichernden den Eindruck von Ruhe. Da gibt es keine ruckartigen Bewegungen, kein Zerren und Reissen, da atmet alles den Rhythmus des freien, sauberen Kletterns. Dreissig Meter höher wird eine dürftige Nische unter hängenden Tafonis erreicht. Für kurze Zeit erlischt jede Bewegung, liegen die zwei Seilstränge ruhig an der beinahe senkrechten Wand. Sekunden werden zu Minuten, die Spannung steigt: Ist die Grenze erreicht? Wagt er den ausgesetzten Schritt in den Riss, der überhängend den Augen entschwindet? Das Seil gerät in Bewegung, erst nur langsam, dann wieder gleichmässig. Erst beim Nachklettern entdeckt man die wahren Dimensionen einer Seillänge und am Standplatz blicken wir uns stumm an, nicken einander zu, ein stilles Anerkennen der Leistung. Hätte der Seilzweite an dieser Stelle gewusst, dass zwei Seillängen höher ein ebensolches Problem auf ihn wartet - aber eben: gerade diese Ungewissheit und dieser immer wieder neue Kampf mit sich selbst sind es ja, die uns Kletterer begeistern, uns zeigen, dass die Grenzen der Belastbarkeit niemals da liegen, wo wir sie vermuten.
Um uns herum scheint die Natur mehr und mehr dem Spiel des Frühlings zu erliegen. Überall verwandeln kleine weisse Blüten die zwergbuschige Macchia in einen blühenden Teppich, in dessen Muster sich dunkelgelbes Strauchwerk mischt. In den kleinsten Felsrinnen treten Blumen an den Tag, deren Schönheit nur dem aufmerksamen Berggänger auffällt, der hier die weglose Einsamkeit Korsikas durchbricht. Oft bilden rauschende Bäche die einzige Kerbe in dieser Wildnis, und obgleich das Schmelzwasser die Läufe noch immer gewaltig anschwellen lässt, ist es am einfachsten, sich von Block zu Block hüpfend seinen Weg zu bahnen. Dann plötzlich staut sich der Wasserlauf zu kleinen Seen, deren dunkelgrüne Spiegel den Durchgang versperren, uns zum Erklimmen der steilen Uferböschungen und zum Kampf mit der dichten Macchia zwingen. Fern von jeder Zivilisation, nur das Rauschen des Wassers im Ohr, über einem die felsigem, namenlosen Granittürme — wem kämen da nicht die phantastischsten Gedanken?
Und jeden Abend der Nebel, der mit fortschreitender Dämmerung und zunehmender Kühle in wattigen Fetzen zu steigen beginnt. Wie oft geniessen wir diese Stimmung, auf Felsen liegend, deren Wärme jetzt gänzlich aufgesogen wird. Die Berge um uns herum verlieren ihr bräunlichrotes Aussehen, erscheinen zunächst hellviolett, später grau, und werden schliesslich zu schwarzen, leblosen Kulissen vor einem seltsam erleuchteten Sternenhimmel. Es ist dies meistens der Zeitpunkt der tiefsten Ruhe, der erst nach Überschreiten des kältesten Moments der Nacht, kurz vor Sonnenaufgang, neues Leben freigibt.
Dann, zu Beginn der zweiten Wochenhälfte, die linke Plattenwand des grossen Asinao-Tur-mes, eine Kletterei, die wir mit dem oberen sechsten Grad bewerten. Als Schlüsselstelle erscheint die eigentliche Platte zwischen zwei markanten Tafonibarrieren, deren rötlicher Fels an einigen Stellen von hellgelb-grünli-chen Flechten überwachsen ist. Risselos, bietet sie keine Möglichkeit zum Legen von Keilen, so dass nur eine unscheinbare Sanduhrschlinge die Seile in die Wand entlässt. In solchen Augenblicken zählt nur noch das absolute Erlebnis, das Alleinsein mit sich und dem Kletterpartner, Vertrauen auf Können und Trittgefühl. Alles unter den Füssen wird leicht, schwebend bewegt sich der Kletterer in jener harten Wirklichkeit, die sein Leben ausmacht. Jetzt gewinnt jede kleine Schuppe, jede Unebenheit an Bedeutung, werden Kleinigkeiten wichtig, für die der Alltag kein Auge besitzt. Für Momente tritt gar die herrliche Kulisse zurück, in der man sich gerade bewegt, um am sicheren Standplatz tausendfach erlebt zu werden. Welch ein Gefühl, an herrlichen Tafonis hängend, am obersten Rand der Platte zu queren, die Füsse auf Reibung, mit den Augen das überhängende Labyrinth nach einem Ausstieg abtastend!
Himmelsleiter im korsischen Granit.
Eine Stunde später stehen wir auf dem Gipfel, einander kurz die Hand schüttelnd, zufrieden. Niedrig fliessende neblige Wolkentürme treiben auf uns zu, dumpfes Donnergrollen zerschneidet die Stille. Minuten darauf die ersten Regentropfen, rasch abkühlende Winde, Interessenten für diese Neutouren ( mit Stellen im VI. Grad ) können die Routenskizzen mit beigelegtem frankierten Couvert beziehen bei: Alex und Hans-Peter Reber, J.J. Balmer-Strasse 8, 4053 Basel.
Schnee. Wie unwahrscheinlich schnell uns die Seile nach unten tragen, vorbei an jetzt nassen Plattenschüssen, die vor kurzer Zeit noch unsere Erwartungen ins Unermessliche zu steigern wussten. Am Wandfuss ein letzter sehnsuchtsvoller Blick nach oben, dann Abstieg im Schneetreiben durch eine Wildnis aus Felsblöcken, die als riesige Bienenwaben dieser seltsamen Landschaft ihr Gesicht geben.