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Kletterfahrten in den Meeralpen

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON HANS GFELLER, BERN

Mit 2 Bildern ( 66-67 ) Von Bern via Genf, Annemasse, La Roche-sur-Foron trafen wir am Montag in Chamonix ein. Der Himmel, der sich scheinbar nicht mit unseren Ferienplänen abfinden konnte, verregnete sie ganz gehörig. Gestern führten wir zwar einen ausgedehnten Spaziergang vom Plan des Aiguilles dem Fusse der Aiguilles entlang durch, aber zu mehr als einem sehnsüchtigen Blick hinauf in die himmelwärtsstürmenden Grate und Wände langte es nicht. Die Verhältnisse sind überaus ungünstig, und die allgemeine Wetterlage verspricht keine baldige Besserung.

Etwas niedergeschlagen sitzen Edi und ich deshalb am frühen Mittwochmorgen frierend in unserer Unterkunft beim Hotel Plan des Aiguilles. Draussen schleichen träge Nebelfelder den Talhängen entlang und zu allem Überfluss regnet es sogar wieder. Unsere Geduld ist zu Ende. Auf der Suche nach einem geeignetem Ausweichsziel fällt plötzlich das Wort: « Alpes maritimes! » Beide kennen wir das Gebiet nur vom Hörensagen, und so lockt uns das unbekannte Abenteuer ganz besonders. In Eile raffen wir unseren ganzen Kram zusammen und steigen zur Station der Seilbahn auf. Gegen Mittag sind wir wieder in Chamonix. Sofort machen wir uns auf die Beine, um Routenführer, Karten und sonstige Auskünfte über unser neues Ziel zu suchen. Reisebüro: NichtsFührerbüro: NichtsZivilisten: Auch nichts! Es ist schier zum Verzweifeln. Wir wissen noch nicht einmal, wohin wir genau fahren müssen. Am Nachmittag versuchen wir 's noch auf der Auskunftstelle des französischen Alpenclubs. Hier erklärt man uns, dass Lionel Terray in diesem Gebiet schon öfters Touren gemacht habe. Keck beschliessen wir darauf, dem berühmten Terray unsere Aufwartung zu machen. Wir marschieren zur « GHM », wo wir vernehmen, dass er zu Hause sei. Scheu klopfen wir dort an die Türe. Freundlich werden wir begrüsst und hineingeführt. Terray begreift unsere Wünsche trotz unserm nicht sehr stilreinen Französisch sofort und zeigt uns sogar Farbaufnahmen aus den Meeralpen. Nachdem er uns noch einige Skizzen vom Gebiet gezeichnet und die Reiseroute festgelegt hat, verabschieden wir uns von ihm. Den Kopf voller interessanter Neuigkeiten marschieren wir zum Bahnhof zurück.

Nach erfolglosen Bemühungen, ein Billet ab La Roche-sur-Foron zu erhalten, besteigen wir ohne Zusatzbillette um 16.44 Uhr den Zug nach Chambéry. Bis La Roche-sur-Foron geht alles gut, da ja für diese Strecke noch unser Retourbillet nach Bern gültig ist. Als der Zug weiterfährt, befördert er zwei Schwarzfahrer. Vor Aix-les-Bains kommt prompt ein Kontrolleur und will unsere Billette sehen. Wir beschliessen in urchigem Berndeutsch, das Ende solange wie möglich hinaus-zudehnen, auf alle Fälle bis nach Aix-les-Bains, denn dann werden wir bis Chambéry fahren, da er uns ja nicht gut aus dem fahrenden Zug werfen kann. Also erklären wir dem braven Mann treuherzig, unsere Billette verloren zu haben, und beginnen eine umfassende Suchaktion in unserem umfangreichen Gepäck. In Aix-les-Bains angelangt, ist das ganze Abteil auf den Kopf gestellt. Alles Mögliche kommt aus unseren Säcken zum Vorschein, nur ( für uns zwei nicht überraschend ) kein Billett! Der Zug fährt weiter, ebenso wir mit Suchen. Als sich dann aber ein Kanadier als Dolmetscher einschaltet, werden wir wie zwei verirrte Schafe in die Enge getrieben. Auf die verschiedenen Fragen nach Grosse und Preis der « gelösten » Billette wissen wir natürlich keine genaue Auskunft zu geben. Schliesslich wird dem « Kondi » die Sache zu bunt, und er schreibt uns ein « neues » Billett nach Modane mit der halb freundlichen, halb ironischen Bemerkung: « Vous pouvez retourner les billets perdus à la prochaine gare, Messieurs. » - Damit wäre die Sache erledigt, und wir können unserer Säcke Inhalt wieder ordnen. In Chambéry angelangt stürmen wir im strömenden Regen in den Schutz des Bahnhofes. Um 22 Uhr verlassen wir ihn mit einer Triebwagen-komposition nach dem französisch-italienischen Grenzbahnhof Modane, wo wir um halb zwölf eintreffen sollten. Friedlich schlafen wir ein. Als ich erwache, steht der Zug still. Ringsum Totenstille und Finsternis! Ein Blick auf die Uhr: Halb eins! Schlafsturm steige ich aus dem Wagen und schaue mich um. Heiliger Bimbam - links und rechts Geleise und Güterwagen. Wir sind auf den Güterbahnhof abgeschoben worden. Ich verständige Edi und mache mich dann auf, um den Bahnhof zu suchen. Eine geschlossene Zollschranke übersteige ich hemmungslos und gelange in den Bahnhof hinein. Halbschlafende Bahnarbeiter und Zöllner sitzen auf den Bänken herum, aber niemand beachtet mich. Ich erkundige mich nach dem nächsten Zug, der nach Turin fährt, und kehre hernach zum « Schlafwagen » zurück. Um halb 4 Uhr verlassen wir ihn, um diesmal gemeinsam und mit Gepäck den Bahnhof aufzusuchen, wo wir nach Erledigung der Zollformalitäten um 3.55 Uhr den Zug besteigen. Um halb 7 Uhr, nach einem kurzen Aufenthalt, verlassen wir die Automobilstadt Italiens bereits wieder. Das Wetter wird mit zunehmender Dauer der Reise immer sonniger und die Bahnwagen immer älter. Unser jetziger Wagen besitzt zu unserem grossen « Gaudi » Holzrolläden und dicke Samtvorhänge, aber praktisch keine Federung. Die Fahrt führt durch weite Felder, vorbei an kleinen Wasserläufen und einzelnen, zum Teil halbverfallenen Bauernhöfen. Von Zeit zu Zeit tauchen kleinere Kuhherden auf. Allem Anschein nach solche aus den sieben mageren Jahren, denn sie haben mehr Ähnlichkeit mit wandelnden Knochengestellen als mit Kühen im herkömmlichen Sinn. Um 8 Uhr verlassen wir den Zug in Cuneo. Edi bleibt als Wache bei unseren Siebensachen zurück, während ich auf der Suche nach einer Bank, kreuz und quer die Stadt durchstreife. Irgendwie muss mein Italienisch ziemlich unverständlich klingen, denn niemand will mich verstehen. Erst als ich einem der vielen, hier tatenlos herumstehenden Typen Schweizergeld zeige und dabei die bedeutungsvollen Worte: « Lire, lire !? » hervorstottere, werde ich zu einer Bank geführt. Endlich klappt es, den Sack voller Liren kehre ich zum Bahnhof, den ich wider Erwarten gut finde, zurück, gerade zur rechten Zeit, um den Bus nach Terme-di-Valdieri noch zu erwischen. Um 10 Uhr treffen wir dort ein. Terme-di-Valdieri ist nur ein kleiner, verträumter Ort, aber gerade deshalb überaus romantisch. Er besteht aus einem riesigen Hotelkasten, einer kleinen Albergo und etwa 4-5 bewohnten Häusern. Mitten hindurch schlängelt sich ein schäumender Bergbach, und im Hintergrund erheben sich stolz die felsigen Berge der Alpes maritimes. Eine ganze Reihe verfallener Ruinen vervollständigen das Bild. Bei einem Glas Wein in der Albergo ergattern wir uns nach anstrengendem Hände- und Mienenspiel, gespickt mit einzelnen italienischen oder wenigstens so tönenden Worten, einen auf Italienisch gedruckten Routenführer. Alles überflüssige Material wird deponiert und dann, nach einem kurzen, gewittrigen Regen, brechen wir auf. Über ein ziemlich breites Natursträsschen schreiten wir munter ins Tal hinein, durch herrlich duftende Wälder dem Bach folgend. Schon bald gelangen wir an den Beginn des eigentlichen Hüttenweges. Steil schlängelt sich dieser durch Wiesen und Buschwerk hinauf. Die Hitze wird drückender, so dass wir nach ca. anderthalb Stunden seufzend die Säcke ablegen, um uns ein wenig auszuruhen. Von unserem Standort aus können wir schon einen Teil der wilden Berggruppe rings um den Bozanokessel erblicken. Rechts der zerrissene Gipfelgrat der La Madre di Dio. Ein wenig links, durch einen tiefen Einschnitt und eine steile Eisrinne von ihr getrennt, die Cima Maubert und die Cima Cessole. Wenn auch die noch verdeckten Berge ebenso wild und steil sind, können wir uns bestimmt auf die kommenden Tage freuen. Wir nehmen unsere schweren Säcke wieder auf und steigen weiter. Zuletzt über riesige Geröll- und Blockhalden ( vor unseren Augen erscheint das Bild aus dem Buche Samivels: « Sous l' œil des choucas », mit dem vielsagenden Titel: « pour leur plaisir! » ) erreichen wir nach dreieinhalbstündigem Aufstieg die Bozanohütte des italienischen Alpenklubs. Sie ist wirklich überwältigend schön gelegen. Vor lauter Freude wissen wir gar nicht recht, wo anfangen mit Schauen! Links eine lange Kette mit spitzen Nadeln und senkrechten Wänden, unter sich getrennt durch tiefe Scharten. Verschiedene Gipfel krönen ihren Kamm: Cima Souffi, Punta Plent, Punta Bifida, Punta Piacenza und andere mehr. Der Grat senkt sich dann zu einer markanten Scharte ab, dem Colleto Corno Stella. Eine steile Verschneidungs- und Rissreihe führt dort hinauf. Steil bäumt sich dann der weitere Verlauf des Grates auf zum imponierenden und schwierigsten Gipfel der Alpes maritimes, dem 3050 m hohen Corno Stella mit seiner 500 m hohen Südwestwand, die direkt in den Kessel der Bozanohütte abfällt. Vom Gipfel stürzt senkrecht die Südostkante in den Colletto di Lourousa ab. Nach rechts schliesst sich die Cima di Lourousa an. Ein Einschnitt, der Colletto Günther, trennt sie von der Cima del Argenterà, dem höchsten Gipfel der Meeralpen ( 3297 m ). Eine mächtige, breite, von zahlreichen Rinnen und Rippen zerfurchte Berggestalt. Rechts verbindet der Colletto Freshfield die Cima Purtscheller mit dem Massiv der Cima Cessole und der Cima Maubert. Mitten in diesem herrlichen Kessel steht also die kleine Hütte. Seltene Blumen wachsen zwischen den Blöcken ringsum, und hier und dort versucht sich selbst ein Grasflecken in friedlicher Koexistenz mit dem Geröll zu behaupten. In der Hütte, die äusserst komfortabel, mit Butagaskocher und Gaslicht ausgerüstet ist, lassen wir uns häuslich nieder. Wir sind glücklich, hierher- 196 gekommen zu sein. Es treffen noch vier französische Bergsteiger aus Grenoble ein, die zu unserer grossen Freude einen auf Französisch gedruckten Routenführer bei sich haben, aus dem wir uns natürlich sofort eine Reihe wichtiger Details für die geplanten Touren notieren.

Am andern Morgen stehen wir nicht zu früh auf, denn wir haben erstens ein beträchtliches Schlafmanko aufzuholen, und zweitens wollen wir heute nur ein wenig rekognoszieren. Am Mittag brechen wir auf, um durch die bereits erwähnte Verschneidungs- und Rissreihe den Colletto Corno Stella zu erklimmen. Über Geröll und einzelne Schneeflecken gelangen wir rasch an den Einstieg, wo wir uns anseilen. In anregender, nur mittelschwerer Kletterei geht 's vorerst empor, bis uns ein senkrechter Aufschwung den Weiterweg versperrt. Durch einen Haken sichere ich Edi, der den Aufschwung in sehr schwieriger Kletterei auf der linken Seite überwindet. Oberhalb wird der Fels wieder griffiger, und die Steilheit nimmt ein wenig ab. Nach anderthalbstündiger Kletterei stehen wir um 15 Uhr im Colletto Corno Stella. Zum Abstieg benützen wir den sogenannten Diagonalweg, der sich auf einer Bänderzone quer durch die ganze Südwestwand des Corno Stella zieht. Damit kommen wir zu einer ersten Begegnung mit unserem Berg und kennen nun auch schon den einzigen, in Frage kommenden Abstieg von seinem Gipfel. Gegen Abend erreichen wir wieder die Hütte. Als wir dann in der Dämmerung vor der Hütte stehen und ins Tal hinunterschauen, schlüpft plötzlich wieselflink ein Hermelin zwischen die Blöcke. Gespannt beobachten wir seinen weiteren Weg. Während der ganzen Ferien wird uns nun der herzige, muntere Kobold mit seinen Kapriolen und den flinken Slalomläufen zwischen den Blöcken unterhalten. Zeitig gehen wir schlafen, denn morgen wollen wir die Cima del Argenterà besteigen.

Um 7 Uhr brechen wir auf. Der Gipfel der Argenterà leuchtet bereits in der Morgensonne, wie wir unter ihrem langgezogenen Fusse durchqueren, um an die Basis des Freshfieldcouloirs zu gelangen. Nach einer kurzen Rast schnallen wir die Steigeisen an und beginnen mit dem Aufstieg in der schmalen, äusserst steilen Rinne. Hoch oben, im Colletto Freshfield, lockt die Sonne.Vorsichtig steigen wir höher und höher. Der Schnee ist beinhart gefroren und erlaubt ein zügiges Steigen. Unter uns wächst die Tiefe. Nach einer schwachen Rechtsbiegung nimmt die Steilheit noch zu und erreicht zeitweise ein Gefälle von über 60°. Auf die Frontzacken vertrauend, lässt es sich doch nicht vermeiden, von Zeit zu Zeit eine bequemere Fussstellung zu suchen. Nach einer guten Stunde ermüdenden Aufstieges stehen wir oben. Sogleich beginnen wir mit der Kletterei am scharfen, mit vielen Türmen gespickten Grat. Der Tiefblick in den Bozanokessel ist imponierend. In abwechslungsreicher Kletterei erreichen wir nun den ersten Gipfel unserer Ferien, die Cima Purtscheller ( 3040 m ). Nach einem kurzen Abstieg setzen wir den Aufstieg zur Cima del Argenterà fort. Lang zieht sich der Grat in leichter Bogenform hinauf zum höchsten Punkt der Meeralpen ( 3297 m ). Unzählige Türme müssen umgangen oder überstiegen werden. Die stellenweise brüchigen Felsen zwingen uns zu vorsichtigem Klettern. Aber endlich erreichen wir den Gipfel. Nur kurz ist die wohlverdiente Gipfelrast, denn der Übergang zum Colletto Günther ist noch lang. Das Wetter verschlechtert sich zudem rasch. Immer fleissiger hüllen uns die Nebelschwaden ein. Jedesmal, wenn wir annehmen, im Colletto Günther zu stehen, folgt ein neuer Gendarm, unsere Hoffnungen zunichte machend. Um 14.30 Uhr ist es endlich so weit, wir stehen oben am Couloir Günther. Allerdings prasselt jetzt der Hagel gegen die Felsen, und die Sichtverhältnisse sind äusserst schlecht. Wir warten. Nach zirka einer halben Stunde zieht das Wetter langsam vorüber. Vorsichtig steigen wir über die nassen, plattigen Felsen ab, der Hütte zu, die wir um 5 Uhr abends wieder betreten.

Mit unserem Proviant müssen wir jetzt haushälterisch umgehen, so dass die Suppe von Tag zu Tag dünner wird. Absteigen, um neuen Proviant einzukaufen, kommt für uns nicht in Frage, denn wir müssten, da in Terme-di-Valdieri keiner erhältlich ist, bis nach Cuneo fahren, weshalb wir uns lieber ein wenig einschränken.

Am Sonntagmorgen scheint zwar die Sonne, aber im Westen ziehen bereits die ersten Wolkenbänke herauf. Im Tal unten schleichen träge und Unheil verkündende Nebel umher Wir beschliessen deshalb, heute ein wenig « Siesta al Italiana » zu machen und legen uns mit den Jass-karten zwischen die grossen Blöcke.Von Zeit zu Zeit huscht flink unser Hermelin vorüber, immer auf der Suche nach Leckerbissen. Eine italienische Seilschaft in der Südwestwand des Corno Stella bietet uns Gelegenheit, die Route ein wenig zu sondieren. Am Mittag beginnt es zu regnen, und bald ist der ganze Bozanokessel in dichten Nebel gehüllt. Als sich gegen Abend eine merkliche Wetterbesserung zeigt, beschliessen wir, am Montag ebenfalls in die Südwestwand des Corno Stella einzusteigen.

Nach einem improvisierten Morgenessen starten wir um 8 Uhr bei schönstem Wetter. Die Säcke lassen wir heute unten und nehmen nur unsere ziemlich umfangreiche Kletterausrüstung mit. Im Hosensack eine Ovo-Sport und die Windjacke umgehängt bummeln wir gegen den Einstieg hinauf. Dieser ist entgegen unserer Erwartungen nicht so leicht zu finden, so dass wir eine halbe Stunde lang suchen müssen. Gegen halb 10 Uhr können wir uns auf dem höchsten Punkt des unteren Bandes der Diagonalroute anseilen. Die Wand erscheint wegen ihrer Steilheit von hier aus stark verkürzt. Über eine harmlose Platte und einen schwierigen, mühsamen Riss erreichen wir den Beginn des 70 m langen Rechtsquerganges. Der Fels ist fest und griffig, aber die Kletterei äusserst ausgesetzt. Zügig nähern wir uns dem breiten Quarzband, das sich quer durch die ganze Wand hindurchzieht. Wir überklettern die weisslich-gelben, seifigen Quarzfelsen und gelangen nach Überwindung eines leicht überhängenden Kamins an den Fuss der Schlüsselstelle, genannt « Mauvais pas ». Eine riesige, senkrechte Verschneidung, gespickt mit kleinen Überhängen, führt hier hoch. An ihrem linken Rand soll sich, laut Führer, der Aufstieg vollziehen lassen. Die Sicherungsmöglichkeit an ihrem Fuss ist nicht gerade sehr gut. Edi steigt ein, während ich vorsichtig, jede seiner Bewegungen beobachtend, sichere. Langsam, aber mit einer beruhigenden Sicherheit kommt er höher. Zehn Meter, zwanzig Meter gewinnt er in ausgesetzter Kletterei. Eine grifflose Platte lässt ihn längere Zeit zappeln. Ein oder zwei Haken wüssten wir hier schon zu schätzen, aber auf der enormen Länge von fast 30 m im Schwierigkeitsgrad IV+ bis V steckt kein einziger. Endlich ist er durch und befindet sich bei dem im Führer erwähnten sehr guten Sicherungsplatz. Das Wetter verschlechtert sich wider Erwarten sehr rasch, so dass ich ebenfalls schleunigst die Schlüsselstelle anpacke. Mit einem heiklen Spreizschritt steige ich in die äusserst steile Platte ein. Die Griffe sind nur klein und liegen zudem weit auseinander. Eine wirklich luftige, herrliche Seillänge! Bei Edi angelangt, beschliessen wir, trotz der rapiden Wetterverschlechterung den Gipfel zu besteigen. Ein Riss mit abwärtsgerichteten Schichtblättern führt senkrecht und schwierig hinauf an den Beginn des 60 m langen Linksquerganges. Ein luftiger Gang! 400 m fällt die Wand frei in den Bozanokessel ab. Durch einen weiteren, nur kurzen Riss und über eine gutgriffige Platte fassen wir in einer berasten Rinne Fuss. Wir verlassen sie bald wieder und erreichen über die durch einsetzenden Regen- und Schneeschauer unangenehm nass gewordene Platten das breite Gipfelplateau. Von hier aus gelangen wir in wenigen Minuten, einem kurzen und zerrissenen Gratstück folgend, auf den Gipfel des Corno Stellas ( 3050 m ). Heulend peitscht der Wind über die Spitze, den Riesel waagrecht in unsere Gesichter jagend. Unter diesen Umständen an den Abstieg zu denken wäre natürlich leichtsinnig. Auf einem Band in der Nordwand, wo wir vom Sturm ein wenig geschützt sind, warten wir fast zwei Stunden lang auf eine Wetterbesserung. Als sich der Nebel, unser grösster Feind, ein wenig lichtet, treten wir den Abstieg an. Auf dem breiten Gipfelplateau nach NW absteigend gelangen wir nach zehn Minuten an den Beginn der Nordwestkante. Dreimal zwanzig und zweimal fünfunddreissig Meter seilen wir uns an ihr ab. Oftmals müssen wir eine kurze Windpause abwarten, um die Seile überhaupt hinabwerfen zu können. Der Nebel lässt uns selten das Ende einer Abseilstelle erblicken, so dass wir uns jedesmal ziemlich unangenehm ins Leere hinablassen müssen. Zu allem Überfluss wird es noch richtig kalt. Um 16 Uhr haben wir jedoch den Beginn der Bänderzone erreicht. Von hier aus kennen wir nun den Weg von unserer Erkundigung am letzten Freitag her. Müde und abgekämpft, aber mit der Genugtuung, den schwierigsten Gipfel der Meeralpen bestiegen zu haben, treten wir um 17 Uhr in den Schutz unserer Hütte.

Am Dienstagmorgen lungern wir zuerst untätig vor der Hütte herum, schauen dem Hermelin bei seinem Morgenspaziergang zu und versuchen, über das heutige Ziel klarzuwerden. Reizvoll wäre eine Überschreitung von der Cima Souffi über die Punta Plent, die Punta Bifida, Punta Piacenza und Punta Ghigo in die Forcella del Corno Stella. Ein langes und nach unserem Führer sehr schwieriges, zeitraubendes Unternehmen. Nach einiger Überlegung machen wir die Ausrüstung bereit und bummeln durch den Geröllkessel an den Einstieg der grasigen Rinne, die ganz links auf den Grat hinaufführt. Auf diesem angelangt, geniessen wir vorerst einmal die herrliche Aussicht nach Norden, wo wir sogar den Monte Rosa und den Mont Blanc erkennen können. In leichter Kletterei steigen wir dann auf den Gipfel der Cima Souffi ( 2616 m ). Von hier aus sieht aber der Weiterweg äusserst schwierig aus. Glatte, riesige Türme versperren den Weg zur Punta Plent ( 2747 m ), und diese selbst zeigt uns abweisend ihre geschlossene Südwestwand. Leider geht es schon gegen Mittag, und die hier obligatorischen Wolkenbänke ziehen im Westen wieder auf. Schweren Herzens verzichten wir auf die Überschreitung, da wir nach dem Aufstieg zur Punta Plent nicht mehr oder nur mit grossen Mühen umkehren könnten. Durch eine steile, mit Felsen gespickte Grasrinne steigen wir wieder zur Hütte ab.

Gegen Abend beginnen wir mit dem Zusammenpacken unseres ganzen Feriengerümpels, denn morgen müssen wir hier leider schon Abschied nehmen. Mit einer schönen Tour wollen wir unsere Ferien jedoch beschliessen. Früh gehen wir schlafen, um anderntags zeitig bereit sein zu können.

Nachdem wir den letzten Rest Pulvermilch flüssig gemacht und getrunken haben, treten wir um 6 Uhr hinaus und queren unter der Argenterà und der Cima Cessole durch an den Fuss des Couloirs, das zum Colletto della Madre di Dio hinaufzieht. Wunderbar ist das Wandern hinein in den erwachenden, strahlenden Sommertag. Am Fusse des Couloirs errichten wir unter einem grossen Block ein Materialdepot. Hierauf ziehen wir die Steigeisen an und beginnen mit dem Aufstieg. Im griffigen, hartgefrorenen Firn steigen wir im Zickzack höher und höher, und zirka um 9 Uhr stehen wir oben. Völlig neue Aussichten bieten sich uns hier. Im Talkessel zu unseren Füssen erblicken wir die Remondinahütte, darüber die wuchtige, imposante Berggestalt der Cima di Nasta ( 3108 m ). Wir lassen die Säcke in der Lücke liegen, seilen uns an und beginnen mit der Kletterei an der La Madre di Dio. Der Stein ist vorerst noch brüchig und verlangt grosse Vorsicht. Schon bald wird aber die Kletterei sehr luftig und der Fels gut. Nach einem kleinen Linksquergang bäumt sich eine kurze Mauer glatt und überhängend auf. Mittels eines hier steckenden Hakens überwinden wir diese sehr schwere Stelle. Steile Platten führen hinauf zu einem grasbewachsenen Balkon. Eine herrliche Kletterstelle löst die andere ab, und, unbeschwert von allem Ballast, geniessen wir die Kletterei. Ein leicht überhängender Kantenaufschwung aus gelbem, gutgriffigem Fels führt hinauf auf den Vorgipfel. Ein kurzer, aber stark zerrissener Grat leitet hinüber zum 2800 m hohen Südgipfel, wo wir uns zu einer kurzen Rast niederlassen. Eine prachtvolle Aussicht belohnt uns hier unsern Aufstieg. Von einem stahlblauen Himmel überwölbt reiht sich Bergkette an Berg- kette, und in der Ferne grüsst als tiefblauer Streifen das Meer. Über leichte Bänder in der Nordwestseite des Berges steigen wir wieder in den Sattel ab. Auf dessen anderen Seite, gegenüber der « Heiligen Mutter Gottes », lockt die Cima Maubert ( 2865 m ). Wir zieren uns nicht lange, sondern beginnen sogleich mit dem Aufstieg. In mittelschwerer Kletterei gelangen wir in eine ziemlich grosse Plattenmulde. Der weitere Aufstieg führt von hier nach links über leichte Felsen zur Spitze. Rechts dagegen sieht die Sache schon schwerer aus. Über ein steil ansteigendes Band in der Südseite klimmen wir eine Seillänge hoch. Senkrecht bäumt sich nun der Fels über uns auf. In mühsamer, sehr schwerer Kletterei kommen wir höher. In halber Höhe zwingt uns ein Überhang zu einer heiklen und äusserst ausgesetzten Querung nach links. Die Haken könnten wir hier schon gebrauchen, aber diese liegen im Sattel unten. An kleinen, aber festen Griffen geht 's weiter hinauf auf den Grat. Zwei Gendarme mit messerscharfen Kanten überwinden wir hangelnd und stehen nach kurzer Zeit auf dem mit grobem Blockwerk bestreuten Gipfel. Das war wirklich eine feine, interessante Variante! Auf der normalen Route steigen wir ab. Am frühen Nachmittag treffen wir wieder bei unserem Materialdepot ein. Mit schweren Säcken steigen wir dann ab, dem Tale zu. Von einer weichen Grasmulde am Bach aus schauen wir nochmals zurück, hinauf in den Bozanokessel, nehmen Abschied von den Bergen, die uns ein paar Tage lang so viel Schönes schenken konnten.

Gegen Abend treffen wir wieder in Terme-di-Valdieri ein. Zu unserem grossen Erstaunen ist die Bevölkerung des Dorfes ziemlich aufgeregt ob unserem Erscheinen. Ein französisch sprechender Bergführer erklärt uns, dass wir seit Montag vermisst seien und dass morgen eine Suchaktion eingeleitet worden wäre. Die Sache klärt sich aber bald auf. Schuld sind unsere « perfekten » Italienischkenntnisse!

Nach einem wirklich grosszügigen Nachtessen in der Albergo legen wir uns im Gras am Bachufer zur Ruhe nieder, zur letzten Nacht in den Meeralpen.

Am frühen Morgen führt uns ein Car nach Turin, wo wir einen lustigen Tag voller Abenteuer erleben, bevor wir um 7 Uhr abends weiterfahren, der Schweiz zu. Unsere letzte Feriennacht verbringen wir in Culoz, auf den harten Bänken des Wartsaales. Am frühen Freitagmorgen passieren wir in Genf den Schweizer Zoll.

Herrliche Bergwelt, diese Alpes maritimes.

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