Hinauf
Literatur: « Der Bergsteiger », Februar 1958, S. 198-202. L. Burdsall and B. Emmons: Men against the clouds ( New York and London 1935 ).
Diese Chronik berichtet von insgesamt elf Bergsteigern, die in Hochasien ihr Leben geopfert haben, wozu noch verschiedene Fälle von schweren Erkrankungen und Frostschäden treten. Gemessen an der Zahl der Berg- und Skiunfälle in den Alpen mag das nicht viel sein, aber an der Zahl der Expeditionen gemessen mahnt es doch zum Aufsehen. Die fortschreitende Erschliessung des Himalaya und Karakorum bringt es mit sich, dass immer schwierigere Berge an die Reihe kommen.
Hinauf!
VON MANFRED SZADROWSKY, CHUR Mit 1 Bild ( 199 ) Noch einmal ein flüchtiger Wandergesell!
Wie jagen die schäumenden Bäche so hell, Wie leuchtet der Schnee an den Wänden so grell.
Hier oben mischet der himmlische Schenk Aus Norden und Süden der Lüfte Getränk, Ich schlürf es und werde der Jugend gedenk.
O Atem der Berge, beglückender Hauch! Ihr blutigen Rosen am hangenden Strauch, Ihr Hütten mit bläulich gekräuseltem Rauch - Den eben noch schieiernde Nebel verwebt, Der Himmel, er öffnet sich innig und lebt, Wie ruhig der Aar in dem strahlenden schwebt!
Und mein Herz, das er trägt in befiederter Brust, Es wird sich der göttlichen Nähe bewusst, Es freut sich des Himmels und zittert vor Lust - Ich sehe dich, Jäger, ich seh'dich genau, Den Felsen umschleichest du grau auf dem Grau, Jetzt richtest empor du das Rohr in das Blau - Zu Tale zu steigen, das wäre mir Schmerz -Entsende, du Schütze, entsende das Erz! Jetzt bin ich ein Seliger! Triff mich ins Herz!
Der himmlische Schenk in F. Meyers Gedicht « Noch einmal » stammt aus Dichtungen der alten Griechen. Ganymed, den königlichen Hirtenknaben, hat Zeus durch seinen Adler auf den Olymp heraufrauben lassen, damit er ihm beim Göttermahl im goldenen Saale die Trinkschale reiche. Zugriffiger und wendiger als die zwar hübsch jungfräuliche Hebe kam der Ephebe, der Heranwüchsling, dem Gott vor, anmutiger begreiflicherweise der saubere Flaumige als der zottige, meistens russige Schmiedegott Hephästos, der etwa zum Gelächter der Götter beim Gelage humpelnd herumging; sein Vater Zeus hatte ihn einmal im Zorn, an der Ferse gepackt, von der ehernen Schwelle geschleudert, so dass er den Tag durch flog und dann halbtot von dem Sturze auf der Insel Lemnos lag.
In C. F. Meyers Gedicht ist der Adler bedeutender als der Knabe. Wundervoll beseeltes Sinnbild wird der aufschwebende Adler: das von Bergliebe bewegte, vom Sehnen nach der Höhe erregte Herz des Dichters trägt der Adler zum Berghimmel hinauf.
Hinauf! Stärkstes Sehnen des Bergsteigerherzens: Hinauf! Mit Worten ausdrücken kann es der Dichter, mit Tönen der Musiker. Wer aber wollte der Berge Herzensmacht, unser Sehnen hinauf! hinauf! den Augen schaubar machen? Es ist getan: leibhaft gestaltet steht das hohe Sehnen vor uns: Hermann Hubachers Ganymed.
Nicht als Bergsteiger, nicht für Bergsteiger hat der Meister das Werk geschaffen, trotzdem uns Bergsteigern stärkstes Sinnbild unserer Seele geschenkt.
Am See auf der Bürkliterrasse in Zürich steht Ganymed, ragt übermenschlich gross und steilen Armes in Bronze auf steinernem Sockelblock. Ein künstlerisches Wagnis war es, den gottgeliebten Knaben im Übermass zu bilden. Aufs herrlichste gelungen ist der kühne Wurf dem Meister Hermann Hubacher. Der Antrieb ist von Heinrich Wölfflin gekommen, nämlich durch ein Vermächtnis des Kunsthistorikers an die Stadt Zürich aus dem Jahr 1945, das sein Todesjahr geworden ist. Nicht dass er die Gestalt des Kunstwerkes vorgeschrieben hätte, mit dem er sich eine der luftigen Seeanlagen Zürichs geschmückt vorstellte. Sein Wunsch war: eine männliche Gestalt, durch den Bildhauer Hermann Hubacher geschaffen, und zwar in strengem Stil und in fester architektonischer Fassung. Unter strengem Stil verstand er, dass das Proportionierte im Bau des menschlichen Körpers stark betont sei und dadurch die Wirkung der vollen Schönheit entstehe. Weise gewünscht und meisterhaft erfüllt!
Wieder einmal ein bisschen klassisches Griechentum nachgemacht, ein bisschen Renaissance veranstaltet? Nichts von alledem. Neu gezeugt aus dem ewig schönen Griechenmythos und aus schöpferischem Geist ist der Zürcher Ganymed. Das ist nicht der holdzarte Prinz und Hirtenknabe, Sohn des Tros, Enkel des Erichthonios, Urenkel des Dardanos. Nicht dienlich wäre er dem Urahnen Zeus als Mundschenk; das sähe der Gott schon von weitem; ungestohlen und ungeschoren liesse er diesen Burschen.
Uns Bergsteigern aber ist er aus dem Herzen geschaffen. Wir lieben ihn.
12 Die Alpen - 1958 - Les Alpes177 Kein einziges der Ganymedbilder, die in andern Kunststädten stehen, kann uns als Bergsteiger « angehen ». Erst H. Hubacher hat Ganymed als den Hinaufstrebenden gestaltet.
Griechisch in feinster Beseelung hat der Schöpfer des Luzerner Löwendenkmals, der Däne Thorwaldsen, aus sehnsüchtiger Schau den schönen Schenken in weissem Marmor gebildet. Noch knablich weichen Leibes schenkt da Ganymed einmal mit aufgebogenem rechtem Arm den Trank in die Schale, echten Nektar ohne Zweifel. Vollkommen jünglingsschön gewachsen reicht er ein andermal die Schale. Den Adler des Zeus tränkt ein drittes Mal der reizend kauernd Kniende. Immer ist er dem Dänen der weichfühlig Zartwüchsige, im olympischen Göttersaal heimisch, un-bestürmt vom Bergatem des Olymposgebirges. Anders als Bildhauern hat es natürlich Malern die Entführung des Knaben durch den Adler angetan. Wonnig lässt Corregio den rosigen Jungen dem Gottvogel oder Vogelgott ( Zeus selbst ) in die hebenden, hegenden Fittiche greifen, lässt die lieblichen Füsse in der Luft schwimmen, hoch oben schon über Bergen und Felszacken; das weisse Hündlein möchte dem Geraubten nach, hochspähend mit hochgestreckter Schnauze; rückwärts, abwärts blickt der Gehobene, nicht hinauf. Auf einem Gemälde von H.v. Marées ist der lange und schlaffgliedrig Ergebene dem wonnetrunkenen Adlerzeus zugeschmiegt, lustmatt zugeknickt, eingenickt, wird willenlos und werklos hinangewiegt ( wie ein Sesselbähnlerdie Landschaft ist schwülträchtig. Helldunkel ist Rembrandts Bild « Ganymed in den Fängen des Adlers », hell-dunkel für die Augenschau, heildunkel auch nach Laune. Durch Dunkelgewölk rafft der dunkle, düstere Gottadler den Buben aus dunkeln Gründen. Blitzhell beleuchtet ist der strampelnde Speckling. Brüllen sieht und hört man den Kindskopf. Tränen entrinnen ihm, und Feuchtes noch mehr entrieselt ihm erdwärts und sieht im gewittrigen Dunkel wie ein niederfahrendes Blitzlein aus. Was soll der Gott mit dem noch nicht Stubenreinen und seinem Kinderspeck anfangen?
Noch einmal kein einziger Ganymed der bildenden Kunst, auch nicht in Rom und Neapel, keiner hat den Willen zur Höhe, keiner strebt hinauf, keiner könnte uns packen als Leib gewordener Bergsteigerherzensdrang.
Herrlich schöpferisch erfühlt und erschaffen aus lauter Sehnsucht hat aber der junge Goethe seinen Ganymed:
Wie im Morgenglanze Du rings mich anglühst, Frühling, Geliebter!
Mit tausendfacher Liebeswonne Sich an mein Herz drängt Deiner ewigen Wärme Heilig Gefühl, Unendliche Schöne!
Lieblicher Morgenwind!
Ruft drein die Nachtigall Liebend nach mir aus dem Nebeltal!
Ich komm, ich komme!
Wohin? Ach, wohin?
Hinauf! Hinauf strebt 's.
Es schweben die Wolken Abwärts, die Wolken Neigen sich der sehnenden Liebe.
Mir! Mir!
In euerm Schosse Aufwärts!
Umfangend umfangen!
Aufwärts an deinen Busen, Alliebender Vater!
Dass ich dich fassen möcht In diesen Arm!
Ach, an deinem Busen Lieg ich, schmachte, Und deine Blumen, dein Gras Drängen sich an mein Herz.
Du kühlst den brennenden Durst meines Busens, Hinauf! Hinauf strebt 's. Aufwärts!
Goethes Allgefühl, das man nicht mit dem Stempel « Pantheismus » totstempeln darf, will sich in dem heidnischen Jüngling ausströmen. Keineswegs aus Griechenland hat er es geerbt. In Wonne und Sehnsucht durchwogt war der Dichterjüngling davon und hat es auch im Werther gestaltet, besonders gewaltig schön in Werthers Brief vom 10. Mai. Das Liebewalten zwischen dem All und dem Einzelnen, das ist im Gedicht Schau und Klang geworden. Als Geliebten ersehnt Ganymed den Frühling, möchte umfangend umfangen im All aufgehen. Hinauf!
Die Anfangszeilen des Gedichtes sind dem Sockel von Hubachers Werk eingemeisselt. Hat er Goethe nachgeeifert?, der Bildhauer den Dichter nachgeahmt? Wo blieben der Morgenglanz, das Anglühn, die tausendfache Liebeswonne, die ewige Wärme, das Drängen zum Herzen in Blumen und Gras, die der sehnenden Liebe sich neigenden Wolken? Das alles ist vom Dichter wunderbar entzückt ergreifend gewortet. Nicht im Metall liess es sich bilden. Das Ineinanderweben von Seelenleibnatur und Allnatur, das liess sich von feinsten Bildnerhänden nicht in Gips formen, liess sich nicht in Bronze giessen. Und doch darf die Sockelinschrift an Goethes Gedicht erinnern: « Hinauf! Hinauf strebt 's! » Siehe da: das ist raumhaft und leibhaft. Das kann er ergreifen und nachschaffen, der für schauende und tastende Augen schaffende Bildner: Hinauf! Aufwärts!
Zwei Meter hoch ist die Gestalt, noch überragt vom hochgestreckten Arm, drei Meter hohes Gebilde auf dem Steinsockel von Meterhöhe und Zweimeterbreite. Zum Lachen wäre ein so übermenschlicher Mundschenk! Übermenschlich gross darf der sich Hinaufsehnende, Hinaufstrebende sein. Man glaubt an ihn auf den ersten Blick. Ein ganz ergriffen Überwältigter könnte knien vor dem gotthaft Grossen. Kein Gott ist er, ein Jüngling, nach Hubachers Trachten ein Knabe von vierzehn bis sechzehn Jahren. Unmöglich scheinende Leistung des Künstlers, dass der gottmässig Hohe nicht Götze wird, Menschenknabe bleibt. Michelangelo hat Ähnliches gewagt mit seinem David in Florenz, der nach H. Wölfflin ein riesenmässiger Kerl in den Flegeljahren ist, « kein Knabe mehr und doch noch kein Mann, das Alter, wo der Körper sich streckt, wo die Gliedmassen mit den ungeheuren Händen und Füssen nicht zusammenzugehören scheinen... eine Wiedergabe der Natur, die bei diesem Maßstab ans Wunderbare grenzt, sie ist erstaunlich in jedem Detail und immer wieder überraschend durch die Schnellkraft des Leibes im ganzen, allein - offengestanden - sie ist grundhässlich ». Was da Lob ist, das gilt alles auch für Hubachers Werk, und darüber hinaus ist sein überlebensgrosser Knabe bewahrt vor allem Ungeheuern oder gar Häss-lichen. Kein Athlet, Gott sei Dank und dem Meister! Ganz und gar Mensch ist Ganymed, schönstarker Jungmensch, leibhaft hochwollende Jünglingsseele.
Schwierig muss es gewesen sein, beim gewaltigen Übermass des Gebildes das richtige Mass zu finden und zu treffen im Auswerten, im Sichtbar- und Fühlbarmachen der Einzelheiten von Sehnen und Muskeln, Rippen und Knochen, Haut und Haar. Nicht naturalistisch ist das Werk, nicht natürlich, aber Natur im stärksten geistlebendigen Sinn, übernatürlich naturhaft, paradiesischer Schöpfungsgedanke neu geschaffen: Schweizer Ganymed.
Hinauf! Wie das Hinauf verwirklicht ist, dem nachzuspüren, das ist dem Beschauer nachschaffender Genuss. Ein hochgestelltes, rechtwinkliges Dreieck ist der Grundformwille. Woher der stammt, hat der Künstler dem Zürcher Kunsthistoriker G. Jedlicka erzählt: « Nachdem ich mehrere Skizzen von stehenden Figuren verworfen und wochenlang nach einer Lösung gesucht hatte, stand ich an einem föhnigen Morgen wieder auf der Bürkliterrasse; der See war hell, der Himmel tiefblau, und aus der Ferne leuchtete das Gebirge. Ein grosses Segelboot kreuzte gegen Küsnacht, und sein weisses Dreieck zeigte mir spontan die Lösung der aufwärts weisenden Ge- barde. Es war mir plötzlich alles klar, ein Einfall, wie ich ihn so deutlich noch nie erlebt hatte; die Berge wurden zum Olymp, und im zunehmenden Sturm sah ich in jeder Möve den Adler des Zeus kreisen. So kann der aufreizende Föhn auch einmal sein Gutes haben! » Links hat der Beschauer die gewaltige Senkrechte vor sich: vom rechten Fuss des Knaben, vom Knöchel über Knie und Hüfte die feine Welle des stracks jungstämmigen Leibes zur Schulter und in den hochragenden Arm, in die hochweisende Hand, in die hinauffühlenden Finger hinauf. Hinauf! Dreifältige Hochwelle ist dem Betrachter die Schräge von rechts unten hinauf. Gany-meds linker Fuss ist mit noch bodenständiger Ferse gehoben, die grosse Zehe aufgestreckt, abstossen vom Grund will der Fuss: ein Haupteinfall des Meisters, ausdrucksvoll bedeutend dieser Aufbruch in Fuss und Zehen. Hinauf will der junge Geistleib. Nicht entführt wird Ganymed. Hinauf strebt er. Der Fuss sagt es, das gelockerte Bein, leicht gebeugt zum Abstossen von der Erde, zum Luftschwimmen und Schweben hinauf. Dem starken, tragtauglichen Adler zugetan ist die linke Hand, berührt fast den energischen Fittich: Hilf mir auf! Hilf mir hinauf! Und helfen wird er, hinauf steigt es, wunderbar beschwingt von den Spitzen der Flügel über Rücken und Schnabelkopf in die vertrauend bittende Hand. Vom Schnabel « geht es » zum Daumen; der leicht einwärts gebogene Arm führt zur Schulter, zum Haupt, führt besonders auch über die Brustknochen schräg hinüber und hinauf zum steilstrebenden rechten Arm. Durch den Blick zugeneigt dem Adler ist der Knabenkopf, « sprechend » geneigt zum gutwilligen starken Kopf des Vogels. Die Gesichter verstehen einander: Hilf mir hinauf! Hinauf helf ich dir! Die Fittiche, noch ruhend, sind voll Flugkraft. Knablich herbschön ist der Kopf Ganymeds, erdenhaft und hochwollend junggeistig, derbschön bubenhaft, berufen zu Gotthaftem.
Nähert man sich dem Bildwerk von links her, so schaut man einfach die rechte Seite der Gestalt als säulenschlanken Hochwuchs. Als hochgreifender Kletterer wäre der Jüngling steilgetürmtem Gefelse herrlich gewachsen, denkt der Bergsteiger. Dieser Ganymed wird Zeus oft dürsten lassen, sich im Olymposgebirge herumtreiben, in den Schrofen und auf den schneeigen Höhen des lichthell glänzenden Berges, wird pfeifen auf sein Mundschenkamt oder jodeln. Nachdonnern kann ihm der erhabene Herr der Gewitter, wird schwerlich hinter ihm her sein in der Bergwildnis.
Von der Adlerseite her hat man wieder anders in fast ruhiger Geschlossenheit das Hinauf: nicht sichtbar sind da das erregte Bein, der gehobene Fuss; da schweigt im Hochstreben das ungestüm knablich Wollende, das man von vorne, in der Hauptansicht, aller künstlerischen Mässigung zum Trotz von den Lenden durch Bauch und Brust wallen und wirken sieht.
Nicht kaltblütiger Marmor ist es, sondern helle Bronze. Dank allen guten Geistern! Man spürt und sieht ihr das schöpferische Bilden der Meisterhand, der Künstlerfinger an. Töne und Lichter spielen darin und darauf. Beglückende Augenlust ist es, das zur Gestalt gebildete Metall im mannigfachen Mitwirken der Sonne zu schauen. Umflutende Luft, dahinter wogender See schaffen sogar Stimmung um den hochgestimmten Jüngling. Auch Wolken werden abwärts schweben und sich neigen der sehnenden Liebe. Das lässt sich der Künstler gefallen, obwohl er nicht dichterisch, auch nicht malerisch zu Werke gegangen ist, sondern echt formkunstgemäss, echt bronzehaft mit Geist, Auge, Hand geschaffen hat, sozusagen hartherzig.
Hochbedeutend ist das Bildwerk, ohne Sage den Augen deutbar, gross durchgeistigt leibhaft schaubar.
Hermann Hubacher hat einen ahnenlosen, vorbildfreien Ganymed erschaffen, urschöpferisch aus ewig gültigem Mythos den Schweizer Ganymed, uns Bergsteigern liebstarkes Sinnbild unserer Herzenssache: Hinauf!