Hard Rock am Mähren
Claude und Yves Remy, Jaman
Lasst die Bohrhaken spriessen...
Einsam in der Höhe des Pfaffenhuets beenden wir, was bis zu diesem Tag eine unserer schönsten Klettereien ist: Stars away. Bereits seilen wir uns über den Grat des Südostpfeilers ab, wobei wir nach den umgebenden Die Südwand des Tälli-stockes Wänden ausschauen. Rechts in der Ferne ist der gewaltige Bauch des Reissend Nollen auszumachen, während sich zu unsrer Linken die Südwand des Mähren abzeichnet, wo es noch keine direkte Route gibt. Diese Wand ist das Ziel unseres nächsten grossen Projekts. Es wird uns während des ganzen Winters verfolgen.
Stellen Sie sich vor...
Stellen Sie sich eine lange, südorientierte Kalkmauer vor, die sich über mehr als zehn Kilometer erstreckt und deren Gipfel Höhen um 3000 Meter erreichen. Diese lange, stellenweise 1000 Meter aufragende, da und dort von tiefen Schluchten durchschnittene Wand besitzt Felspartien und Türme, die an den steilen, 300 oder 400 Meter hohen Bug riesiger gestrandeter Schiffe gemahnen.
Einige haben dieses masslose Gewirr von Wänden mit den Massiven der Dolomiten und den Fels mit dem des Verdon verglichen. Aber kann man das Unvergleichliche vergleichen?
Die Wendenstöcke, man nennt sie meist nur die oder den , sind ein absolut einzigartiger Ort. Man muss hingehen, um es zu glaubenl An einem Maitag des Jahres 1989 kommen wir ins Gadmental und müssen ein heftiges Gewitter aushalten. Sozusagen der örtliche Willkommensgruss. Am nächsten Morgen ist der Himmel bedeckt, die Wände sind schwarz von Wasser. Zu ungeduldig, beschliessen wir trotzdem aufzusteigen,
Auf den ersten Anhieb sind wir vollkommen über die perfekte Qualität des Steins beruhigt. Dann beginnen wir, die Route zu eröffnen, sie gleichzeitig auch auszurüsten, und hoffen, sie möge so schön und so lang wie irgend möglich werden.
Nach einigen Metern Kletterei kommt Yves, der Führer unserer Seilschaft, auf die Höhe eines guten Griffs. Er benutzt die Gelegenheit, vorübergehend einen Sky Hook zu setzen, an den er sich hängt ( je nach den Möglichkeiten der einzelnen Stellen werden auch Haken, Friends oder Rocks verwendet ). An dem freien Seilende zieht er vorsichtig den Bohrer zu sich herauf, bohrt dann, offensichtlich ohne Anstrengung, fixiert den Bohrhaken und lässt die Maschine wieder hinunter.
Von nun an erleichtert und gesichert, steigt er in dieser Welt der Senkrechten weiter. Höher oben, in einer überhängenden Partie, wird sein Rhythmus langsamer. Er zögert, ehe er eine luftige Traverse bezwingt. Die Fortsetzung? Sie scheint sehr glatt und abschüssig. Ein leichter, aber frischer Wind bekräftigt unsern Entschluss; wir steigen ab.
Am nächsten Tag, unter grauem Himmel, sind wir wieder da.
Yves verlässt den Stand auf der rechten Seite, dann steigt er aufwärts nach links an nicht sichtbaren Felsverformungen höher. Kleine Löcher, schmale, nicht immer griffige Leisten zwingen zu einer fehlerfreien Technik, um eine Folge von manchmal Ungewissen Bewegungen aneinanderzureihen, bei denen man sich zwingen muss, sich leicht zu ma- chen. Doch im Augenblick ist die Freikletterei noch stark von technischen Hilfsmitteln unterstützt. Eröffnen ist nicht dasselbe wie durchsteigen!
Leider hindern uns die Launen des Wetters an der Fortsetzung.
In den Wenden verliebt Nicht viele machen dem Wenden den Hof, aber die Liebe, die diese wenigen ( ihrem Berg ) entgegenbringen, ist ebenso tief wie intensiv.
Sprechen wir von den leidenschaftlichsten Verehrern: Peter Lechner, Kaspar Ochsner und dessen Freundin Ruth Baidinger. Namen, die Ihnen wahrscheinlich nicht viel sagen. Dazu bemühen sich die an diesem Berg Interessierten nicht um Bekanntheit, es sind äusserst zurückhaltende und bescheidene Menschen. Peter Lechner ist ein ( spezieller Fall ); man könnte sagen, dass alles zwischen Tällistock und Titlis ihm gehört! Er zögert nicht, vor oder nach seiner anstrengenden Arbeit ( er besitzt eine ausgezeichnete Bäckerei-Kondito-rei in der Gegend ) für einen halben Tag, zur ( Inspektion ), in das von ihm bewunderte Gebiet zu gehen. Wenn man den Zugang kennt, einen langen und sehr steilen Aufstieg, wird man die Bedeutung seiner exklusiven Leidenschaft für den Wenden besser ermessen.
Als aktiver Mensch gewinnt er viel Freude aus dem, was er unternimmt, aber er spricht nur unbestimmt und ohne den geringsten Wunsch zu informieren von seinen Leistungen. Er eröffnet jedoch unermüdlich sowohl in ihrer Ausdehnung als auch in ihren Anforderungen sehr bedeutende Routen. Zu ihrer Ausrüstung, die stets von unten erfolgt, verwendet er stark abgenutztes Material. Leidenschaftlich liebt er die alten, am Fuss der Wände liegengelassenen Reepschnüre! Und vor allem jubelt er, wenn er sie in den Sand-uhrlöchern anbringt. Manchmal bohrt er ganz einfach zwei grosse Löcher mit der Maschine, um seine Reliquien durchzuziehen, und verbraucht dabei mehr Zeit und Energie, als wenn er Bohrhaken setzen würde. Der Erfinder des gebogenen Bohrstahls, das wäre er! Die Ausgesetztheit seiner Routen ist verblüffend, sogar bei 6c-Routen erheblich oberhalb von zumindest zweifelhaften Sicherungspunkten. Auf diese Weise haben seine Routen einen schlechten Ruf erhalten, denn bei ungesicherten ausgesetzten Traversierungen von mehr als zehn Metern bekommen die Nerven der ganzen Seilschaft den ( Stil Lechner ) zu spüren. Von daher versteht man, dass die Routen Kaspar Ochsner bei der Erstbegehung von Sternschnuppe ( in der vierten Seillänge ) dieses 1943 geborenen Klettergenies von einem Mythos umstrahlt sind, der immer noch wächst.
Auch Ruth Baidinger und Kaspar Ochsner wohnen im Herzen der Schweiz. Dank eines dem Gebirge verbundenen Berufs können sich beide in diesem Land, in dem Sponsoring nahezu unbekannt ist, die für ihre verzehrende Leidenschaft notwendige Zeit nehmen.
Es sind jetzt fünfzehn Jahre, dass Kaspar die über den Alpentälern aufragenden Höhen für sich entdeckt hat. Einige Touren haben ihn dann in seiner Meinung bestätigt: Er hat bei sich zu Haus alles in Reichweite, was er will, und zwar vom Besten! Wände jeder Höhe, lange kombinierte oder Gletscherbesteigun-gen herrlicher Berge aus unvergleichlichem Granit oder Kalk. Im Jahr 1979 beginnt er zusammen mit Peter Lechner, sich für die mächtigen steilen Hänge der Kette der Wendenstöcke zu interessieren. Damals wurde eine wilde Leidenschaft geboren. Die ungewöhnliche Kette dieser senkrecht aufstrebenden Türme hat während langer Zeit die Alpinisten abgeschreckt. Die bestehenden Routen folgen den wenigen Linien geringerer Schwierigkeit. Tatsächlich bleibt noch alles zu tun! Ihre ersten Routen werden noch in einem ( klassischen ) Stil eröffnet, aber die von ihnen überwundenen Schwierigkeiten sind erheblich höher als jene ihrer Vorgänger. Kaspar beschränkt sich nicht allein auf den Wenden; er dehnt seine Tätigkeit auf die gesamten Berner und Urner Alpen aus, wodurch er nach rund zehn Jahren der aktivste und beste Routen-Er-öffner der Zentralschweiz geworden ist.
Dieser mit unerschütterlicher Begeisterung und einer ungewöhnlichen ( ruhigen Kraft ) begabte Mann ist zugleich ein echter Künstler des Hochgebirges: Am Beginn jeder seiner Routen fertigt er eine Illustration, die deren Namen begleitet.
Übrigens, kennen Sie diese Anekdote? Eines Tages schlägt ihm Ruth - mit der er alle seine jüngsten Routen eröffnet - vor, den Weihnachtstag in der Nordwand des Eiger zu verbringen.
( Gute ldee>, sagt Kaspar, ( wir machen die klassische Route, so sind wir am Abend zu Haus im Kreis der Familie. ) ( Oh nein! Ich will ein schönes Biwak, nur wir beide als Verliebte !) Wenn man weiss, dass der Wunsch einer Frau Befehl ist...
Apokalypse-Rock Die Vorhersage kündigt für das ganze Land schönes, beständiges Wetter an. Unsere Moral und unsere Kräfte sind vollkommen auf der Höhe, als wir mitten im Sommer zum Mähren zurückkehren.
Schon der Aufstieg zu dieser Wand bedeutet eine Prüfung. Man muss über steile grasige oder geröllbedeckte Hänge aufsteigen. Während wir uns anseilen, um ein steiles Felsstück zu überwinden, fliehen Gemsen mit leichten Sprüngen.
Klettern ist ein Genuss, aber den Sack aufzuziehen, das wird bald zu einer mühsamen Arbeit, die den Rhythmus unterbricht und die Arme lähmt. Die Bohrmaschine, zwei Batterien, 50 Bohrhaken mit dem nötigen Werkzeug, das wiegt schwer. Zum Glück reibt sich der Sack nicht zu sehr am Fels. Weiter oben gelangen wir unter einen riesigen Überhang, der sich links mit Hilfe markanter Griffe umgehen lässt. Anschliessend queren wir nicht ohne Mühe über eine kompakte Platte in eine recht angenehme Grotte. Über die rechte Flanke der Grotte erreichen wir die Höhe des Donjon. Unter einem blauen wolkenlosen Himmel sehen wir endlich den Rest der ( Burg ).
Ein leichter Grat führt uns an den Fuss von mit zahlreichen Rinnen durchzogenen Platten. Ihren oberen Teil überragt ein eindrucksvoller Schild, wahrscheinlich der obere Abschluss dieser verteufelten Wand.
Eine echte Kletter-Herausforderung In die Betrachtung dieser ungewöhnlichen Welt versunken, haben wir jedoch einige Wolken in der Ferne nicht bemerkt, die, von der Kette des Wenden angezogen, in grosser Geschwindigkeit herankommen. Während wir die Jacken überziehen, setzt ein kühler und feuchter Wind ein. Einige Minuten später - die Tiefe des Gadmertals liegt noch in der Sonne - ändert sich hier alles sehr schnell und wird bedrohlich.
Ungern kehren wir um, wobei uns bewusst ist, dass wegen der Traversen und Überhänge der Abstieg über unsere Route nicht in Betracht kommt. Auf einen Schlag setzt heftiger Regen ein, und man sieht fast nichts mehr. Vom Felssporn steigt Yves in einer wahren Sintflut entlang der Seile ab. Vielleicht wäre es besser zu warten, bis sich das Tal mit Wasser gefüllt hat, dann könnten wir zurückschwimmen.
Mein Bruder taucht, entmutigt, an Prusikknoten aufsteigend wieder auf:
Am Stand hängend, den wir verstärken, fühlen wir uns recht gebrechlich, werden ständig vom Wind geschüttelt, sind vollständig durchweicht und starr vor Kälte. Hier möchte ich gern einmal das Gesicht eines Gore-Tex-Fabrikanten sehen.
In einigen Metern Entfernung kann man nichts mehr erkennen, noch weniger können wir uns etwas mitteilen. Unter solchen Umständen sind fünfundzwanzig Jahre Seilgemeinschaft ein kostbarer Trumpf. In vollkom- Die Südabstürze der Kette Mähren-Pfaffenhuet/Wen-denstöcke mener Nacht erreichen wir den Fuss des Pfeilers. Doch der Wahnsinn ist noch nicht zu Ende. Es gibt hier keine Möglichkeit, sich zu schützen, wir müssen weiter absteigen!
Die steilen Hänge des Aufstiegs sind zu einer schwindelerregenden Rutschbahn geworden, durchzogen von vielen Bächen, die das Gelände aufwühlen und die von überall herabkommenden Steine mittragen. Kurz, wir benutzen unsere Beine und kommen, viel später, mit einem leichten Schock im Tal an. Uff!
Immer mehr Bohrhaken - oft am falschen Fleck Im Verlauf der siebziger Jahre beginnt eine wachsende Zahl von Kletterern, sich für das Freiklettern auf hohem Niveau zu interessieren. Jedoch die Qualität des an Ort befindli-
chen Materials ist noch nicht genau definiert; es gibt Haken und Holzkeile, Klemmkeile und Bohrhaken. Von 1980 an setzen sich Bohrhaken als das zuverlässigste Material durch, gleichzeitig beginnen sich die Möglichkeiten des Plattenkletterns zu erweitern.
Bohrhaken erlauben, die Kletterschwierigkeit aufs äusserste zu steigern und einem Sturz mit einer gewissen Ruhe entgegenzuse-hen. Manche Routen sind ohne ihre Hilfe gar nicht zu begehen. In den Alpen tragen sie im Fall eines Rückzugs in willkommener Weise zur Sicherheit bei.
In der Mitte der achtziger Jahre kam die batteriebetriebene Bohrmaschine auf, die das Bohren der Löcher erheblich erleichtert. Diese Maschine hat jedoch in manchen Fällen zu einem übertriebenen und unnötigen Einsatz von Bohrhaken geführt, manche Felspartien wurden dadurch zum Nachteil bestehender Routen und der Natur verändert. Besonders bedauerlich an diesem Missbrauch ist, dass damit bereits vorhandene Routen und geschichtlich ausgelöscht werden. Mit der Anlage stark gesicherter Routen, die die bereits bestehenden ( meist viel ausgesetzteren ) immer wieder kreuzen, vernichtet man deren Seele. Der Begeher weiss nicht mehr, in welcher Route er klettert, und kann sich auch nicht mehr von einem bestimmten Kletterstil durchdringen lassen. Hoffen wir, dass die Kletterer sich gegen diese allgemeine Gleichmacherei zu wehren wissen.
Eine andere Verirrung: In alten Routen Bohrhaken anzubringen, sei es als Ersatz für Beim Einbohren eines M 10-Bohrhakens am Anfang der sechsten Seillänge von Vrenli vorhandene Haken oder um das Setzen von zweifelhaften Klemmkeilen zu vermeiden, kann lobenswert sein. Aber Bohrhaken in kompakten Platten zu setzen, die von den ersten Begehern, denen damit manchmal ungewöhnliche Leistungen gelungen waren, in Freiklettertechnik überwunden wurden, wirkt skandalös und rückschrittlich. Dieses leider häufige Vorgehen ist sehr beunruhigend, denn es zeugt von der Nichtachtung der moralischen Bedeutung und der Geschichte des Kletterns. Die Vergangenheit achten heisst sich selbst achten.
Der Teufel ist auch dabei Diesmal waren wir vorsichtig und haben ein stabiles, sich über ganz Europa erstreckendes Hochdruckgebiet abgewartet, um zum Wenden zurückzukehren. Als wir am Fuss des Mähren ankommen, erwartet uns eine unangenehme Überraschung: Ein Teil der Ausrüstung, die wir während unserer Abwesenheit dagelassen haben, ist verschwunden! Aber di- rekt links zeigen Material und fixe Seile an, dass hier ein neuer ( Arbeitsplatz ) ist. Wie die vielen Sanduhrlöcher zeigen, muss Lechner am Werk sein. Und in der Höhe erkennen wir unsere Seile! Wir verlieren dann mehr als eine Stunde damit, wieder an unser Eigentum zu kommen, allerdings ohne unsere Expressschlingen zu finden. Sie wurden durch {Anti-quitäten ) ersetzt. Beim Aufstieg, diesmal kletternd, setzt Yves alle Kräfte dran, unsere Route möglichst ganz in freier Kletterei zu begehen. Da und dort fügen wir Bohrhaken zu, um die Absicherung zu verstärken. Plötzlich, wie durch Zauber, fällt ein Seil vom Himmel, dann taucht sehr schnell auf unserer Höhe der
Wir nehmen unsre Eröffnung wieder auf und kommen nach kurzer Zeit und drei der leichtesten Seillängen der ganzen Route auf ein schönes Band am Fuss der immensen Schlusswand. Eine Batterie ist erschöpft, ich sortiere das Material, während Yves dem Band nach rechts folgt. Er kommt sorgenvoll zurück und erklärt kurz: ( Ich habe genug, ich geh'nicht höher, wir beenden die Route hier !) Ich bin fassungslos, dann folgt eine ( Diskussion ), durch deren Lautstärke die wenigen wackligen Steine des ganzen Massivs in die Tiefe stürzen. Lassen wir das, nur das Ergebnis zählt: Wir machen weiter.
Unnötig zu sagen, dass kein Wort gesprochen wurde, weder um die nächste Grotte zu erreichen, wobei wir unsere zweite Batterie verbrauchen, noch beim Abstieg. Erst als wir beim Wagen ankommen, herrscht wieder Eintracht: Wir stellen das Kassettengerät auf höchste Lautstärke, um ( unsere schöne Mu-siknatürlich Hard Rock - zu hören. Gruppen wie ( Motörhead ), ( Iron Maid ), ( Judas Priest ) sind unsere Klassiker, dazwischen ( Accept ), oder neue wie und
Vrenli, das schönste Mädchen des Tals Der letzte Tag am Mähren im Jahr 1989 hätte fast nicht stattgefunden. Zunächst bin ich im September stark von der Organisation des Festivals international du film alpin von Les Diablerets in Anspruch genommen. Als ich schliesslich frei bin und das Wetter günstig ist, verletzt Yves sich ein Knie, das regelmässig punktiert und, wenn er sich nicht ruhig hält, möglicherweise operiert werden muss.
Es folgen mehrere Tage mit schlechtem Wetter, erhebliche Schneefälle bedecken das Land oberhalb von 1200 Metern mit einer weissen Schicht. Zum Glück folgt darauf eine lange Reihe von Schönwettertagen.
Ende Oktober beschliessen wir, trotz der Kürze der Tage, diese Route, die uns am Herzen liegt, zu beenden. Mein Bruder muss noch einige Punktierungen über sich ergehen lassen. Für den Anmarsch nimmt er Skistöcke mit. Wir starten mit
Kurz vor Mittag sind wir am letzten der bereits das vorige Mal erreichten Sicherungspunkte angelangt. Während wir weiter vorwärtsdringen, beobachten wir die wahrhaftige Schönheit der Landschaft, aber wir haben weder Zeit zu träumen noch zu essen. Auf jeden Fall haben wir nicht für den Magen vorgesorgt. Wir durchsteigen direkt eine stark geneigte Zone, auf die ein athletischer Riss folgt. Grosse Platten mit leichter Oberflächenmodellierung und rauhem Fels bieten eine noch tollere Kletterei als unten. Dazu kommt die besonders grossartige Umgebung dieses Gebietes: die riesige Ausdehnung der lotrechten Wände und die ins Tal hinunter fliehenden Linien. Die Bauernhöfe ganz tief unten wirken sehr klein.
Aber wie gesagt, eröffnen ist nicht durchsteigen. Das Setzen der Sicherungspunkte zwingt uns manchmal, diese als Ruhepunkte oder zum Vorankommen zu benutzen. Yves -unbeugsam - will, dass wir die Länge absteigen, damit er sie im Vorstieg und wenn möglich in Freiklettertechnik wieder aufsteigen kann.
Unermüdlich streben wir weiter nach oben, in einer friedlichen Stille, die nur wenige Sätze und das störende Geräusch der Bohrmaschine unterbrechen.
Welcher Vorzug, in dieser Höhe, zu dieser Jahreszeit und nur in T-Shirts zu klettern!
Doch die Ungewissheit unserer geht im Schein der letzten Sonnenstrahlen zu Ende, als wir auf den grossen Bändern herauskommen, die zum Gipfel führen und den Abschluss unseres Aufstiegs anzeigen.
Da erklärt mir mein Bruder: ( Jetzt, wo ich die Route bis nach oben kenne, könnte ich mir nie verzeihen, hätte ich sie nicht vollendet. ) So ist mein schlechter Charakter zur Hälfte erleichtert.
Vrenli ist zur Zeit unsere schönste Kletterroute. Ist sie das Ende unserer Kletterer-Kar-riere oder nur eine Etappe?
Unten, am Fuss des Mähren, geht ein Licht an, ein Jodler steigt auf. Das ist unser Vater, der uns entgegengekommen ist, um uns Speis und Trank zu bringen.
Praktische und technische Hinweise Im Abschnitt Mähren-Reissend Nollen gibt es mehr als fünfzig Routen, die meisten sind lang, viele ausgerüstet und erst kürzlich angelegt. Der Schwierigkeitsgrad liegt bei fast allen im Minimum bei 6b obligatorisch. Dazu kommen noch eine gewisse Anzahl von Projekten und nicht verzeichneten Routen, dank derer in dem Massiv immer noch ein wenig ( grosses Abenteuer ) möglich ist. Wir stellen hier kurz eine Auswahl moderner, ausgerüsteter Routen vor, die zu den schönsten und längsten des Massivs und den ausserordentlichsten der Schweiz gehören.
Mflhren Wendenalp ( 1603 m ) Anmarsch: anderthalb Stunden über steile Hänge, Wanderschuhe sehr ratsam.
Material: 90-m-Seil ( der Abstieg erfolgt durch Abseilen ); Rocks für alle Routen; auf Friends wird durch ein F hingewiesen. Es ist die obligatorische Schwierigkeit ( französische Skala ) angegeben, danach in Klammern diejenige in Freiklettertechnik mit den eventuellen Hilfspunkten ( pa ).
All diese Routen sind, mit Ausgangs- und Endpunkt Wendenalp, in einem Tag zu machen, aber man darf nicht bummeln! Hier eine Auswahl:
1. Zyklopenauge: P. Lechner und M. Pitelka, 1988/89. 6c/A1 ( 7b ). Lange, sehr ausgesetzte und anspruchsvolle Route. F mitnehmen.
2. Vrenli: C und Y. Remy, 1989. 6c/A1 ( 7b, 4 pa ). Die längste Route des ganzen Massivs. Anstrengend, aber gut ausgerüstet.
3. Sternschnuppe: R. Baidinger, K. Ochsner und D. Weibel, 1988. 6b/A0 ( 6c. Gut ausgerüstet, Einstieg gut erreichbar. F 2Vi.
4. Inuit: R. Baidinger und K. Ochsner, 1987. 6b/A0 ( 6c. Gleiche Schwierigkeit wie Sternschnuppe, aber etwas ausgesetzter und anstrengender. F 1.
5. Stars away: C. und Y. Remy, 1988. 6b/AO ( 6c. Ähnlich Sternschnuppe.
6. Excalibur: V. Amman und P. Lechner, 1983. 6b. Ausgesetzt! F 2, 3.
7. Blaue Lagune: K. Ochsner und T. Ulrich, 1986. 7a/A0 ( 7b +, 1 Seillänge ). Anstrengend und ausgesetzt! Vielleicht die schönste Route im Abschnitt Wenden.
8. Andorra: M. Grossen und K. Ochsner, 1986. 6bA1 ( 7b +, 4 Seillängen !; die vor- Gr. Wendenstock ( 3042 m ) PfaffenhuetKl. WendenstockReissend Nollen letzte Seillänge wurde noch nicht Rotpunkt begangen ). Anstrengend und ausgesetzt.
9. Elefantenohr: K. Ochsner und P. Lechner, 1985. 6bA1 ( 7b +, 2 Seillängen ). Anstrengend und ausgesetzt. F 1V2, 2.
10. Jednicka Nr. 1:T. und R. Ulrich, M. Pitelka und D. Weibel, 1988. 6cA0 ( 7b+ und 7c. Anstrengend und ausgesetzt. F 1, 2, 3.
11. Aureus: M. Grossen und K. Ochsner, Abseilen über die Route Vrenli Aus dem französischsprachigen Teil, übersetzt von Roswitha Beyer, Bern 1988. 6aA0 ( 6b ). Die leichtest zugängliche Route; gute Einführung zum Wenden.
12. Batman: H. und U. Bühler, 1989. 7a/A1 ( 7b. Anstrengend, aber gut gesichert.
13. Caminando: R. Baidinger und K. Ochsner, 1989. 6bA1 ( 7a. Anstrengend.
14. As de cœur: A. Steiner und Fr. Studen-mann, 1986. 6b/A1 ( 7a, pa ). F 1-3.
15. Dingo: R. Baidinger und K. Ochsner, 1989/90 ( die Eröffnung ist noch nicht beendet ). Gleiche Schönheit und Schwierigkeit wie Caminando.
Es sei noch erwähnt, dass den sechshundert Meter hohen Südwestpfeiler des Pfaffenhuet die Route von M. Brechbühl und H. P. Trachsel aus dem Jahr 1968 durchzieht. Eine schöne , mit Normal-Haken ausgerüstete Route. 6a/A1 ( 6b ).
Am Reissend Nollen gibt es ebenfalls eine weitere lange Route ( 870 m ), die eine Riss-Couloir-Linie aufsteigt. Sie wurde von E. Gross und W. Keusen 1976 eröffnet. Es handelt sich um eine klassische, aber weniger schöne Route als die am Pfaffenhuet; sie ist mit fast 200 Haken ausgerüstet. VA1 ( 6b.
In derselben Kette gibt es am Tällistock ( erster Gipfel links ), der niedriger ist, mit kürzerem Anmarsch, einige Routen, die eine interessante Einführung für das Massiv bilden können, ohne jedoch so schön und so anspruchsvoll wie die des Wenden zu sein. Wir empfehlen die sehr schöne klassische Inwyler-Biel-meier-Routesion 1960. 6a/A1 ( 6b. Zahlreiche Traversierungen. Ebenso empfehlenswert ist die Voie des Welsches: P. Maillefer und A. Steiner, 1983. 6b/A1 ( 6c.
Zu äusserst rechts ragt der Titlis ( 3239 m ), der höchste Gipfel der Kette, auf. Die 1960 eröffnete Route des Südwestpfeilers, eine alte klassische kombinierte Route, ist mit Haken ausgerüstet, das Gestein ist stellenweise zweifelhaft. Die beiden modernen Routen links von ihr haben nicht den erwarteten Erfolg gehabt. Man muss dazu sagen, das die Entlegenheit und Wildheit des Gebietes noch ausgeprägter ist als am Wenden und der Fels weniger gut.
Es sei noch angemerkt, dass die Route Truth of human desire weder so schwierig noch so anspruchsvoll ist, wie die Erstbegeher behauptet haben.
Herzlichen Dank den