Genussklettereien an der Pala
Willy Auf der Maur, Seewen SZ
Bilder i bis 3 Man braucht den Fuss nicht auf die Kuppe des Mont Blanc zu setzen, um festzustellen, dass die ganze Bergsteigerei ein Fass ohne Boden ist. Ein Gang auf den Grossen Mythen oder auf die Rigi tut 's auch!
Bergsteiger setzen sich deshalb ausgewählte Ziele. Der eine beginnt Viertausender zu sammeln, ein anderer schwierige Eiswände und ein dritter SAC-Hütten. Ein vierter schliesslich spe- zialisiert sich auf Genussklettereien. Und dieser Mann war bislang schlimm daran, denn während sich seine Kameraden mit spätestens 45 Jahren den alpinen Lorbeerkranz aufsetzen konnten, war er immer noch am Sammeln.
Bergriesen sind bekanntlich bei uns in den letzten Jahrzehnten keine mehr aus dem Boden geschossen, Eiswände auch nicht, und der Zuwachs an SAC-Hütten blieb sicherlich im Rahmen. Ganz im Gegenteil dazu erfuhr die Zahl der Genussklettereien im gleichen Zeitraum zumindest eine Verdreifachung, so dass sich unser vierter Freund als moderner Sisyphus vorkommen musste.
Ein alpiner Schriftsteller aus unserm nördlichen Nachbarland, Walter Pause, hat die seelische Notlage der Genusskletterer Europas richtig erkannt und mit seinem Buch « 100 Genussklettereien in den Alpen » eine Auswahl in der Auswahl getroffen; der schöne Bildband hat auch in mir die Hoffnung auf ein vernünftiges alpines Pensionsalter geweckt!
Genusskletterer sind in der Regel von heiterer Gemütsart. Vom Nektar überschwänglicher Routenbeschreibungen und der Vision festen, griffigen Gesteins verführt, gaukeln sie lebens-hungrig von Berg zu Berg, um nur vom Auserle-sensten zu kosten. Sie lieben die Sonnenseite der Berge, das Spielerische, Raffinierte, bis zu einem gewissen Grad sogar das Akrobatische, und sind jeder Art von Schinderei und Gewaltsleistung abhold.
Man wird deshalb in ihren Rucksäcken vergeblich nach Ersatzsocken, Handschuhen, Biwaksack oder Daunenjacke graben. Sollte man meinen! Denn sind solcherlei Utensilien wider Erwarten vorhanden - wie heute bei meinem Seilgefährten Andreas Schindler und mir -, so kann man fast sicher sein, dass die « Geniesser » in die sonnigen Dolomiten fahren.
So unglaublich es klingen mag: nirgends sind diese Ausrüstungsgegenstände unentbehrlicher als hier. Man muss nämlich wissen, dass viele Dolomitengipfel die Dreitausendergrenze über- schreiten und dass dieses Gebirge -seiner geographischen Lage wegen - den Gewittern und Wetterstürzen besonders ausgesetzt ist. Und noch etwas gehört ins Stammbuch all derjenigen, welche die Dolomiten als harmlosen Klettergarten einschätzen: in den Dolomiten gibt es Bergschründe, Eiscouloirs und -Gletscherspalten!
Wer es nicht glaubt, dem müssen die Augen spätestens auf dem Rollepass aufgehen, denn dort wird er bald ein Hotel namens « Cervino », zu deutsch « Matterhorn », erblicken. Wo es Rauch hat, gibt es bekanntlich auch Feuer, und dieses zeigt sich jenseits des nächsten Geländerückens in Form einer eindrucksvollen, 600 Meter hohen, hellgrauen Kalkflamme, mit einem verschrundeten Gletscherchen in der Nordflanke und feinad-rigen Schneerinnen bis in die Gipfelregion. Es ist der Cimone della Pala, 3185 Meter. das « Matterhorn der Dolomiten »!
Am Fuss dieser imposanten Dolomitenzinne dehnen sich die farbigsten und freundlichsten Alpweiden aus, die man sich vorstellen kann. So verlockend schlängeln sich die vorbildlich bezeichneten Pfade durch die sanfte Hügelwelt, dass schon manch eingefleischter Felsenmann seine verwegenen Pläne geändert haben mag.
Ich persönlich habe schon zu lange vom Cimone geträumt, um der Versuchung der Pfade zu erliegen. Zu gross ist auch mein Wunsch, wieder eine Genusstour aus Walter Pauses Pflichtenheft abhäkeln zu können.
Und Andreas, mein Seilgefährte? Er ist ein Spätberufener, ein Mann mit unstillbarem Nach-holbedürfnis, ganz versessen auf jede Art von Felskletterei und bereit, mit mir durch dick und dünn zu gehen!
Dies zeigt sich schon am ersten Tag unserer Dolomitenwoche, als ich ihm am späten Vormittag beim Café complet auf dem Rollepass den Vorschlag für eine Nachmittagsbesteigung des « Matterhorns der Dolomiten » mache. Jeder andere hätte sich bedeutungsvoll an die Schläfe ge-tupft... Andreas aber ist gleich Feuer und Flamme! Um so erstaunter gibt sich die Servier- tochter der « Malga Fosse », welcher wir des Autos wegen unsern Plan eröffnen müssen, hat sie doch die Impertinenz, uns zu fragen, wann sie die Rettungskolonne avisieren solle.
Dies ist Öl ins Feuer unseres Ehrgeizes! Mit keinem andern Gedanken, als « es ihr zu zeigen », stopfen wir unsere Rucksäcke mit Esswaren, Seilen und viel Daunenzeug voll. Und dann, kurz vor to Uhr, schiessen wir aus den Startlöchern, überspringen eilig Bäche und Schuttgräben, keuchen steile Grasborde und lockere Schutthänge hinauf.
Unser Ziel ist das untere Terrassenband, welches laut unserm Dolomiten-Führer, Ausgabe 1955, und Walter Pauses Buch durch die Westflanke auf den Nordwestgrat des Cimone hinausführt. Diese Route sei viel begangen, lesen wir und erwarten deshalb jeden Augenblick, auf einen ausgetretenen Pfad zu stossen.
Aber vergebens! Bereits haben wir uns — noch unangeseilt - über die ersten wie Inseln den Schuttriesen entragenden Felsstufen hinaufgeta-stet. Zu Dutzenden grinsen uns weitere, immer steiler übereinander gelagerte Felsköpfe entgegen. Ob sich da oben, in diesem Wirrwarr von Wändchen, Rinnen und Schluchten, wirklich irgendwo ein bequemes Band hindurchschlängelt? Zweifel packen und würgen uns: die beiden Senkrechtstarter sind bereits am Ende ihres Lateins!
Wären wir doch nicht von dieser dummen « Malga Fosse », in der Südwestflanke des Rolle-passes, aus gestartet, sondern vom Pass selbst! Dann hätten wir mit dem Wagen zur « Baita Segantini » fahren und über einen sanften Grasrücken zum Sockel des Nordwestgrates wandern können. Dort haben wir gestern im Geröll deutliche Wegspuren gesichtet, welche auf eine Schleife hinzielen, die ihrerseits ganz offensichtlich auf den ersten Gratabsatz, den Beginn der langen Genusskletterei, führt. Aber eben, dieser furchtbar kompliziert beschriebene, sogenannte « Sockeldurchstieg » gilt ja als Variante, und solche wollten wir eigentlich keine machen!
Doch nun geraten unsere Grundsätze bedenklich ins Wanken, und nach einer guten halben Stunde Abstieg und Queren stecken wir denn auch wirklich in diesem « schrecklichen » direkten Sockelanstieg. Diesmal scheint es zu klappen! In der Tat stehen wir schon zur Mittagstunde auf der Einstiegsschulter nur noch 450 Meter unter dem Gipfelsteinmann. Die Morgennebel, welche uns so lange am Wetter zweifeln und den Start hinausschieben liessen, sind aufgelöst.
« Jetzt wird endlich geklettert! » nehmen wir uns vor. Schliesslich sind wir nicht 600 Kilometer hergereist, um Schutthalden in Bewegung zu setzen. Aber der Grat will uns noch nicht! Minuten um Minuten verstreichen, während ich auf einem Felsbändchen über dem Venegia-Tal einen Durchstieg durch den Gratabbruch suche. Schliesslich krebse ich geschlagen zum Standplatz zurück - im Geist das hämische Gesicht der Serviertochter vor mir, welche sich am Fernrohr über die beiden überheblichen « Svizzeri » lustig macht. Es gilt nun kühles Blut zu bewahren, denn nach dieser zweiten Einlage steht nicht mehr nur unsere eigene Ehre, sondern diejenige einer ganzen Nation auf dem Spiel.
Obwohl die Dolomiten allgemein als die Berge Europas gelten, beschliessen wir, uns fortan am « Matterhorn der Dolomiten » nur noch der Grundsätze der Logik zu bedienen. Logisch, weil am kürzesten, wäre von unserm Standpunkt aus die direkte Erkletterung der Wandstufe, ohne Umweg über das Venegia-Tal. Also packe ich hieran, auch wenn ich Begehungsspuren vermisse und die Felspartie ziemlich abweisend aussieht. Ha, nun geht 's! Herrlich griffig ist hier das Gestein. Rasch gewinne ich an Höhe und stehe bald im Gratwind; es jauchzt und jubelt in meinem Herzen!
Vorläufig sind wir unsere Routenzweifel los. In schönem Schwung steigt unser Grat in den südlichen Himmel hinein, und es ist ganz offensichtlich, dass wir möglichst seiner scharfen Schneide folgen müssen. Dies erweist sich beinahe als problemlos. Der Grat ist massig steil und ideal ge- stuft. Er erinnert mich zeitweise stark an den genussvollen Nordwestgrat des Klein Simelistocks.
Sehr rasch wächst die Tiefe unter unsern Füssen. Die ausgedehnten Alpweiden des Rollepasses verwandeln sich allmählich in dichte, weiche Teppiche, in welche man sich am liebsten hinein-plumpsen liesse. Bunte Zelte säumen den Rand eines Bächleins. Jugendliches Indianergeheul kündet den Angriff der Apachen auf ein Lager der Bleichgesichter!
Da geht es bei uns vergleichsweise geradezu erholsam zu. Trotz der Ungewissheiten, welche unserer Besteigung anhaften, empfinden wir die Herausforderung des Berges immer noch als sehr erträglich. Und weil das prickelnde Abenteuer schwieriger Kletterstellen ausbleibt, geben wir uns um so intensiver einem beglückenden Bewe-gungsrhythmus hin. So flüssig, so reibungslos geht die Kletterei, dass wir uns wie mit einem innern Schwungrad verzahnt fühlen, das sich immer rascher und rascher dreht.
« Nimm's nur e chle gmüetlicher! » muss ich Andreas mehrmals mahnen. Aber Andreas ist Langstreckenläufer, Crossler, Langläufer... und, wie bereits erwähnt, mit der « Erledigung » der Genussklettereien arg im Rückstand. Man versuche einmal einen solchen Mann abzubremsen!
Hiefür sorgt nach etlichen Seillängen die « grosse Schulter » mit dem anschliessenden Steilaufschwung. Unglücklicherweise klauben wir hier wiederum den Führer aus der Deckeltasche. Dies hat zur Folge, dass wir den Aufschwung buchstabengetreu auf immer luftigeren Bändern zu umgehen versuchen. Wertvolle Zeit geht verloren, bis wir die Hoffnungslosigkeit unseres Unterfangens einsehen und zurückkrebsen.
Es gilt nun ein weiteres Mal den eigenen Instinkt spielen zu lassen. Schon bei unserer Ankunft aufder Schulter ist uns eine breite Einbuchtung etwas rechts des Steilaufschwunges aufgefallen. Sie entpuppt sich als sehr gut erkletterbar und führt uns fast problemlos auf die Spitze des Turmes. Wir haben befürchtet, uns hier vor einer tiefen, unüberwindlichen Einschartung zu sehen, [01 und sind deshalb erfreut und auch recht erstaunt, einen weitern massigen Turm vor die Nase gesetzt zu bekommen, den man offenbar gut auf halber Höhe umgehen kann. So ist es auch, und bald stehen wir in der jenseitigen Scharte. Obwohl wir uns damit vor dem Kernstück der ganzen Gratbegehung, dem « kantigen, steilen Reitgrat », wissen, werfen wir bei unserer Ankunft zuerst einen Blick in die San-Martino-Flanke hinab, aus welcher wir laut Führerbeschreibung, nach Umgehung des Turmes, in die Scharte hätten gelangen sollen. Wir kommen von unserm Augenschein käsebleich zurück und beginnen uns zur innern Entspannung dem Studium des Reitgrates zu widmen.
« Wenn's da Drüer soll ha, so müönds nu cho! » hat Andreas vorhin sachlich festgestellt. Nun scheinen sie da zu sein! Die Steilheit ist nun erstmals dolomitisch - die Felsstruktur ebenfalls. Uns ist, als blickten wir in ein ledriges Pockennarben-gesicht mit offenem Mund und ausgehöhlten Augen. Von einem scharfen Grat bleibt aus allernächster Nähe nicht mehr viel übrig. Man müsste Gulliver sein, um darüber hinaufreiten zu können. Kurz, es ist mehr eine Wand als ein Grat!
Wände verlangen immer eine erhöhte Konzentration. So auch hier! Wir stellen sogleich fest, dass es Griffe und Tritte zum Verschwenden gibt, aber durch die Felsnähe in den Bewegungen eingeengt, gewinnt hier für eine Seillänge das Kämpferische gegenüber dem Spielerischen die Oberhand. In der « Mundhöhle » finde ich einen Felshaken, um Andreas nachzunehmen. « Bruchsch Karabiner? » lacht mein Seilgefährte vielsagend, bevor ich mich aus der Höhle wieder in die ausgesetzte Wand hinausschwinge. « Karabiner, wofür? » Wir scheinen den ganzen Klimbim vergebens nachgeschleppt zu haben, denn Haken gibt es kaum, und wenn ausnahmsweise irgendwo eine Zwischensicherung angezeigt scheint, findet sich gewiss eine « Verfressung », in welche sich eine Seil- oder Bandschlinge einfädeln lässt.
Der Aufschwung legt sich rasch etwas zurück und läuft in den Plattenpanzer aus, welcher sich wie eine Halskrause um den gewaltigen, hornähn- lichen Felsaufbau legt, der dem Berg vom Rollepass aus sein abenteuerliches Aussehen gibt und der höchste Punkt des Berges scheint.
Schade, dass er nicht direkt zu erklettern ist. Wir werden vielmehr in seine linke Seiten-flanke gedrängt, in welcher steile Schneerinnen vom verschrundeten Gletscher hinaufzüngeln. Das « Matterhorn » macht seinem Namen Ehre!
Angenehm schmiegt sich Andreas'kurzer Eispickel in meine Handballe. Obwohl sonst kein Freund handwerklichen Tuns, packt mich eine unwiderstehliche Lust, ihn in Schwung zu versetzen. Dies ist mir auch ohne weiteres gestattet, und so beginne ich denn mit dem Eifer des Junioren, welcher seinen ersten Eiskurs besucht, den harten Firn zu bearbeiten. Aus den Verrenkungen des nachfolgenden Kameraden muss ich später allerdings schliessen, dass der handwerklich-künstleri-sche Wert meiner Stufenleiter eher bescheiden ist. Immerhin lässt sie uns verhältnismässig rasch wieder ausschliesslich felsiges Gelände gewinnen, in welchem wir rascher vorwärtskommen.
Die Zeit ist für uns seit Beginn der Kletterei stillgestanden. Wir fragen uns kaum mehr, die wievielte Stunde angebrochen ist. Was uns mehr beschäftigt, sind die Nebelschwaden, die zeitweise unsere stolze Zinne umweben. Sie könnten uns die Orientierung für den restlichen Aufstieg und für den uns ebenso unbekannten Abstieg erschweren. Dabei heisst es nun unter allen Umständen die Rinne zu meiden, vor welcher in der Führerbeschreibung so dringend gewarnt wird.
Die Luft ist merklich abgekühlt, und der Fels fühlt sich nun kalt und unfreundlich an. Was anfänglich eine lustvolle Kletterei war, ist allmählich zu einem alpinen Abenteuer geworden. Zwar kann der Gipfel nicht mehr fern sein, aber uns scheint, wir seien weiter vom sichern Erdboden entfernt als je. Mit der Witterung ist auch in den Dolomiten in solchen Höhenlagen nicht zu spassen. Kälte, Nebel, die Möglichkeit, uns zu verklettern, das nahende Tagesende sind Gefahren, die uns in höchste Spannung versetzen, in uns aber anderseits neue Kräfte und einen verbissenen Trotz wecken.
Wie jeder unbefangene Betrachter des Cimone sind auch wir der irrtümlichen Meinung, dass der vom Rollepass aus bestaunte und von uns gerade umgangene Steilaufschwung den Gipfel des Berges trage. Dieser liegt in Wirklichkeit aber rund ioo Meter südlicher und ist mit dem falschen durch einen nur leicht ansteigenden, aber von Scharten unterbrochenen Grat verbunden. Wer nach Umgehung des Aufschwunges zu früh den Grat erklimmt, wird sich deshalb zu einiger Mehrarbeit gezwungen sehen.
Glücklicherweise gelingt es Andreas, mich von einem Direktaufstieg durch die Rinne, die sich so verlockend über uns öffnet, abzuhalten. Bleiben wir halt noch einige Zeit in der unfreundlichen Nordabdachung des Grates. Ein Band lässt uns gut vorwärtskommen. Doch nun lädt uns eine zweite Rinne zum Aufwärtsklimmen ein. Für Augenblicke lichtet sich der Nebel. Wir sehen, dass sie in eine Scharte des Gipfelgrates hinaufführt — in die letzte vor dem Gipfel -, und erkennen plötzlich auch die ganzen Zusammenhänge des Felsaufbaus. Nun fällt uns ein Stein vom Herzen. Rasch erklimmen wir die gutartige Rinne zur Scharte, wo uns ein kalter Wind empfängt.
Noch ist die Schlacht nicht gewonnen! Nach etlichen Stunden Kletterei, nach nervenaufreibender Routensuche müssen wir uns unter erschwerten Umständen zum schwierigsten Gang des Tages rüsten. Nur 15 Meter hoch ist der Gratabbruch, aber senkrecht und kleingriffig. Ein Haken und eine Sanduhr, in die ich eine Schlinge einfädeln kann, machen die Sache erträglicher. Eine rassige Kletterstelle! « War das e Gnuss, wenn mer warm Finger hätt! » strahlt Andreas bei seiner Ankunft.
Die Seilschlingen lose in der Hand, wandern wir nun auf dem schmalen First, dessen Ausgesetztheit wir nur fühlen können, dem Gipfelkreuz zu. Dankbar und froh drücken wir einander bald die Hand. Meine Armbanduhr zeigt die fünfte Abendstunde an.
Allzu gerne hätten wir unsere Blicke ausgiebig über die silbergraue Wunderwelt der Dolomiten schweifen lassen; der Cimone della Pala soll eine Aussicht bieten, die ihresgleichen sucht. Uns aber hüllt er in eine solch undurchsichtige Watte, dass wir uns beinahe auf einem fremden Planeten wähnen. Kein Geräusch dringt an unser Ohr: kein Motorenlärm, kein menschlicher Laut. Oder doch?
« Aaangelo! » - Aus unbestimmbarer Entfernung, Richtung Normalroute, dringt der langgezogene, eindringliche, fast flehende Ruf an unser Ohr. Und dann aus allernächster Nähe, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, die kurze, beschwichtigende Antwort: « Vengo! » ( « Ich komme! » ). Wir schauen uns verblüfft, aber alles andere als unglücklich an. Welch gute Fee hat uns da einen Lotsen für den Abstieg gesandt?
Angelo entpuppt sich als junger Theologiestudent aus Padua mit wenig Bergerfahrung, aber — so will uns scheinen - mit um so grösserer Todesverachtung. Wir nehmen ihn ans Seil, klettern einzeln die steile, immerhin mit dem zweiten und dritten Schwierigkeitsgrad bewertete Wand hinunter. Wie er da wohl wieder hinuntergekommen wäre?
« Aaangelo! » — Wieder der fast verzweifelnde Ruf. « Ich komme, Lupo — ich bin am Seil von zwei Svizzeri! » Wir treffen Angelos Studienkameraden, bis an die Nasenspitze eingepackt, in einer geräumigen Höhle. Mir kommt er wie eine Mumie vor, der man ein ladenverknotetes Seil umgehängt hat, ein Seil, das noch nie entrollt wurde und dessen Gebrauch dem Besitzer vielleicht für ewige Zeiten ein Buch mit sieben Siegeln bleiben wird.
Lupo muss einen denkbar schlechten Eindruck vom Bergsteigen gewonnen haben. Man stelle sich vor: wie ein lästiger Regenschirm in einer fremden, kalten Welt deponiert zu werden, mit der nagenden Ungewissheit, ob man überhaupt je wieder einmal abgeholt werde, dieweil man zur gleichen Stunde, mit Freunden scherzend, unter heimatlichen Akazienalleen lustwandeln könnte!
Wir versuchen gutzumachen, was noch gutzumachen ist, nehmen auch Lupo ans Seil und bemühen uns durch Zuspruch und sorgfältiges Sichern, sein gestörtes Verhältnis zum Berg wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Zwei Drahtseile erleichtern den Abstieg über die nächste hohe Felsstufe. Dann stehen wir in einer Scharte, erklimmen einen Vorturm und -befinden uns im Geröll. Nach siebenstündiger Kletterei können wir uns entseilen!
Hundert Meter tiefer steht das « Bivacco delle Fiamme Gialle ». Da sich nur gerade unsere zwei italienischen Freunde hier eingenistet haben, können wir die Nacht gut bei Biwakromantik verbringen. Wir sehen darin aber einen Nachteil für unser morgiges Programm... und hätten uns zudem allzu gerne noch heute in der « Malga Fosse » zurückgemeldet!
Ganz nahe der Biwakschachtel kippt das Weglein über den Rand der Pala-Hochfläche und verliert sich in einer hohen, mit Stiften und Drahtseilen bestückten Wandflucht. « Nur mit Bergführer! » warnt ein Schild am Beginn des kühnen Pfades, der den Namen « Via ferrata Bolver-Lugli » trägt. Es wird ein grossartiger Gang! Die Nebel sind gewichen und lassen uns die ganze Tiefe erleben, während sich die letzten Sonnenstrahlen in den gewaltigen, ockerfarbenen Felsfluchten des Cimone entzünden.
Bei stockdunkler Nacht treten wir in die Alphütten der « Malga Pala nuova » ein. Knurrend verzieht sich der Treibhund unter eine Bank. Gierig schlürfen wir die kalte Milch, die uns der Hirt reicht, und lassen uns dann von ihm den Weg erklären. Eine ärgerliche Entdeckung hat uns vor einer guten Stunde erschüttert: wir haben keine Taschenlampe bei uns. Der Weg nach San Martino hinab sei breit, versichert uns der Hirt, und es habe viele « lucciole » ( Glühwürmchen ), « tante, tante lucciole! » Noch vor Mitternacht kriechen wir auf dem Rollepass aus dem Taxi: die « Malga Fosse » schläft.
Anderntags, am Frühstückstisch, fällt kein Wort über die Besteigung. Hat die Serviertochter die Sache schon vergessen? Oder glaubt sie uns vom Berg geschlagen und will uns nicht beschämen?
Doch National- und Bergsteigerstolz spielen jetzt keine Rolle mehr: fasziniert und überglücklich wandern unsere Blicke immer wieder zu einer kühnen, wundervollen Felsgestalt empor, zum Cimone della Pala, dem « Matterhorn der Dolomiten! » Männer mit « Chüeleli », Gletscherpickeln und « Rasierpinseln » auf den Hüten haben in alpintechnischer Hinsicht nie mein Vertrauen besessen. Obwohl wir uns in einer richtigen Notlage befinden, überlege ich es mir zweimal, ob ich das einzige bergsteigerisch gekleidete Lebewesen in den Strassen von San Martino, ein bebrilltes Männchen, anreden soll oder nicht. Ich lasse es schliesslich bleiben und schliesse mich meinem Kameraden an, der sich dorthin wendet, wo sich zu dieser schönsten aller Tagesstunden alle Männer des Dorfes hinbewegen... zur « Bar ai Dolomiti ».
Unser grosses Problem ist das Wetter. Noch dichter als an den zwei verflossenen Tagen umflo-ren heute Nebelschwaden die Zinnen der Pala-burgen. Die Frage, was von ihnen zu halten sei, nagt schon seit unserm Erwachen an unserer alpinen Unternehmungslust, und bereits haben wir sogar eine Dislokation erwogen. Vor solch folgenschweren Entschlüssen gilt es unbedingt einen Vertrauensmann zu finden - einen Mann, der über die Grosswetterlage und über die örtlichen Witterungsverhältnisse eingehend Bescheid weiss.
Aufmerksam und zu allem entschlossen, mustern wir jede der Gestalten an der Theke. Aber was eingangs von Männern mit Rasierpinseln gesagt wurde, gilt auch für solche mit Schnaps-gläsern! Weder die verschiedenen geschniegelten Herren mit ihren Handtäschchen noch die zwei zahnlosen Alten scheinen uns vertrauenswürdig genug. Von unserm Freund von der Strasse, der sich inzwischen ebenfalls nach der hohen Kante reckt, wollen wir gar nicht sprechen.
Unser inneres Urteil über ihn ist nach seinem zweiten Sündenfall begreiflicherweise vernichtend und wird höchstens durch die Tatsache etwas aufgewertet, dass er mit jenem athletisch gebauten Alpini am Ende der Schnapsstrasse befreundet zu sein scheint. Dieser gradierte Alpini macht uns eigentlich keinen schlechten Eindruck; aber beschäftigen sich Militärpersonen auch mit dem Wetter?
Sie tun es! Unser Mann entpuppt sich nämlich als offizieller Wetterfrosch der italienischen Armee, ist Instruktor der Alpini, Besucher internationaler Rettungskongresse und mitverantwortlich für die Jubiläums-Besteigungen, die seine Truppe in den nächsten Tagen aus Anlass irgendeines hohen Geburtstages in den ganzen Alpen ausführen soll. Wenn dies nicht unser Vertrauensmann ist! Wir nötigen ihm rasch einen zweiten Schnaps auf, umrahmen diesen mit zwei Teegläsern und hängen uns begierig an den Mund, der unser Ferienglück aufwerten oder zerstören kann.
Herr Vazzoler weiss uns zu beruhigen. Die Palagruppe hätte viel Nebel, weil sie die südlichste Bergkette der Dolomiten sei. Die warmen Lüfte aus der Poebene würden an ihr zur Höhe steigen, sich abkühlen und kondensieren. Die Wetterlage sei aber nicht schlecht, und wir dürften zu einer Tour starten. Dies ist Musik in unsern Ohren!
Weil die Abklärungen viel Zeit beansprucht und unser Drängeln an Sessellift und Luftseilbahn nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben, zeigt die Uhr beinahe die elfte Stunde, als wir den Abstieg von der Rosetta ins Val di Roda unter die Fusse nehmen. Unser Ziel ist der Val-di-Roda-Kamm, dessen Türme auch einzeln bestiegen werden können und sich deshalb als Nachmittags-ziel geradezu anbieten.
Nachdem uns die um die höchsten Bergspitzen tanzenden Nebelfetzen nicht mehr zu beunruhigen vermögen und das Ziel gewählt ist, könnten wir uns eigentlich uneingeschränkt den tausend Schönheiten am Wegrand hingeben. Welcher Bergsteiger wäre aber nicht schon unversehens von Wunschgedanken bedrängt worden! Die meinigen drehen sich um den Gran Pilastro der Pala di San Martino, eines der hohen Ziele jedes Genuss-kletterers, und da sich Wunsch und Vernunftden-ken arg in den Haaren liegen, ist es vorläufig aus mit der Gemütlichkeit.
Wir haben gestern den Einstieg des Pfeilers etwas unter die Lupe genommen und von Herrn Vazzoler interessante Einzelheiten vernommen, zum Beispiel, dass auf dem Gipfel der Pala eine Biwakschachtel stehe und dass man die Kletterei um eine Stunde abkürzen könne, wenn man aus dem rechten Begrenzungscouloir einsteige. Den Hinweis des deutschsprachigen Führers, wonach das Couloir wegen Steinschlaggefahr zu meiden sei, liess er nicht gelten.
Unser Weg zum Val-di-Roda-Kamm führt am Fuss des Pfeilers vorbei. Von einer unwiderstehlichen Macht gestoppt, bleiben wir im Trümmerfeld zu seinen Füssen stehen, legen den Kopf in den Nacken und lassen den Blick über die massige, graue Felsfläche streifen. Es ist ein überwältigender Anblick!
« Was meinsch, Andres, söttid mier nid hüt scho a Pfiler? » Zögernd und fast leise, als befürchtete ich, dass Andreas es hören könnte, kommt es über meine Lippen. « Ich ha au nu dra dankt... aber Du muesch es sälber wisse! » Der Ball ist also wieder bei mir, aber ich gebe ihn nicht mehr zurück, denn inzwischen hat sich mir die bekannte Ausrede vom Rekognoszieren und vom « Jederzeit-wieder-umkehren-Können » als Vermittler angeboten.
Es ist i 12 Uhr mittags. Wir haben vorhin einige Steinchen fallen hören, aber jetzt ist der Berg ruhig. Keine Spur menschlichen Lebens in der 600 Meter hohen Felsflucht. Im Nebeltreiben huschen die Sonnenstrahlen flink über den Pfei-lervorbau, queren die Wand auf halber Höhe und folgen wie die Kegel eines Scheinwerfers der jenseitigen, westlichen Gratlinie, um sich im Riss zu verkriechen, der die Gipfelpartie spaltet. Genau dies wäre unser Weg!
Schweigend, voll auf unsere Aufgabe konzentriert, setzen wir die Schuhspitzen auf die kleinen Kerben, welche eine frühere Seilschaft in den Hartschnee des steilen Couloirs gemeisselt hat. Wir haben uns bereits hier mit dem Seil verbunden, steigen aber gleichzeitig auf. Die Wände des breiten Couloirs, das oben von einem gewaltigen Überhang abgeschlossen und rechts von den Wänden der Cima Immink begrenzt ist, treten langsam zusammen. Couloirs sind immer etwas ungemütlich, und deshalb sind wir trotz Herrn Vazzolers beruhigender Auskunft und fehlender Steinschlagspuren ganz Aug und Ohr für unsere Umwelt. Nach ungefähr ioo Metern Aufstieg zeigt die linke Couloirberandung des Pfeilers seine erste Schwäche. Sie besteht in einer schrägen Rampe, an deren Ende ein System von Rinnen auf die Pfeilerkante führt.
Andreas rammt kraftvoll den Pickel in den Saum der Schneezunge. Der Übergang vom Schnee in den Fels übt auf mich immer einen besondern Reiz aus. So ist es auch heute. In glücklicher Geschäftigkeit meissle ich mit der Schuhspitze ein ebenes Plätzchen in die schmutzige Schneekante. Ein kurzer, forschender Blick in die unerfreuliche Tiefe der Randkluft - dann lasse ich mich an die Wand hinüberfallen, fühle, wasserüberronnenen, kalten, aber griffigen Fels unter den Händen. Mit einem Spreizschritt fasse ich am berühmten Pala-Südwestpfeiler Fuss: ein Gefühl der Freude durchzuckt mich! Wie oft schon habe ich mir diesen Augenblick als einen Moment der Spannung und der leisen Bangigkeit, wie sie grossen Bergfahrten anzuhaften pflegt, ausgemalt... und nun ist alles so einfach. Hände und Füsse tun willig ihren Dienst, finden Halt und Stand und bringen mich rasch aus der Schmelzwasserzone hinaus. Ich entdecke eine prächtige Sanduhr ( durchgehende Verfressung ), in die sich eine Bandschlinge einfädeln lässt. Nun lasse ich Andreas nachkommen.
Der Blick in die Höhe ist beruhigend; wir sichten Rinnen, Mulden, Vertiefungen und Rippen in grosser Auswahl. Bei solchem Formenreichtum gibt es immer einen Durchschlupf! In der Tat bieten die nächsten zwei Seillängen keine Probleme. Schon bald haben wir deshalb die hohle Tiefe des schattigen Couloirs von den Füssen gestreift, und im Nu befinden wir uns auch auf der scharfen Schneide des rund 200 Meter hohen Pfeilervor-baus. Wenn wir auch dem Frieden nicht so recht trauen, so ist uns doch, als hätten wir bereits die halbe Welt gewonnen. Mit wachsendem Vergnügen beginnen wir uns an der luftigen, griffreichen Kante emporzuarbeiten. Zwischenhinein versuchen wir einen Blick in die Kaminreihe zu tun, die im Führer als Aufstiegsroute beschrieben ist, und da uns alles, was den Fluss unseres Steigens hindern könnte, als unliebsame Störung erscheint, überkommt uns angesichts unseres offenbar bedeutend angenehmeren und problemlosen Weges dankbare Genugtuung. Problemlos?
Die Kante bäumt sich auf und stellt mir 15 Meter über dem letzten Sicherungsplatz einen Riss in den Weg. Er gibt mir Anlass zu tiefsinnigen Betrachtungen, die mich volle fünf Minuten lang die Welt und unser Ziel vergessen lassen. Gegenstand meiner Überlegungen ist der Rucksack, genauer gesagt die Frage, was ich mit meinem Anhängsel anfangen soll, nachdem es im Riss nicht Platz genug für uns beide zu haben scheint. Einen Felszapfen, um ihn anzuhängen, finde ich keinen, Hakenschlagen ist nicht mein Steckenpferd, und in die Tiefe werfen mag ich einen so treuen Kameraden auch wieder nicht. Schliesslich komme ich zur Erkenntnis, dass es die Westal-pentechnik über Bord zu werfen gilt, die bekanntlich darin besteht, den Berg an seinen sogenannten schwachen Stellen anzugehen. Also kehre ich dem Riss den Rücken und bewege mich äusserst sorgfältig um seine senkrechte Begrenzungskante. Und siehe da: ich finde hier Griffe in verschwenderischer Fülle!
Froh erregt blicke ich nach dieser echt dolomitischen Kletterstelle zu meinem Seilgefährten hinab. Mir scheint, dass die Eintrittsprüfung bestanden ist und dass unser Nachmittagsausflug damit eindeutig das Stadium einer Rekognoszierung hinter sich gelassen hat.
Ich überrasche Andreas bei einer vagen Handbewegung und einem Lächeln in Richtung Schluchtabschluss. « Hesch Du öpperem gwunke?»-«Ja, da binde sind zwee! » -Tatsäch-lich! Glaubt man sich mutterseelenallein am Berg, und nun kleben, auf gleicher Höhe, an eindrucksvollem, gelbem Pfeiler, zwei Menschlein. « Mier suechid de Südwestpfiler! » tönt es in einem uns recht vertrauten Dialekt zurück, der sich später als vorarlbergisch herausstellt. « Denn sind iehr falsch - der isch da vore! » Die beiden jungen, gepäcklosen Burschen beginnen nun erstaunlich rasch auf ein grosses Band abzuklettern, das auf unsern Grat hinausführt. Fünf Stunden lang hätten sie schon die Route gesucht, kommt später auf dem Gipfel aus, und wenn sie nicht plötzlich uns vor sich gehabt hätten, wären sie wieder abgestiegen.
Uns verleiht die unerwartete Konkurrenz Flügel. Wir möchten nämlich weder eingeholt noch überholt werden, möchten die Route vom ersten bis zum letzten Meter selber suchen. Flink gehen nun die Hantierungen beim Standwechsel vor sich. Kaum ist die Turmspitze erreicht, halten wir auch bereits Ausschau nach dem Weiterweg. Die breite Wandflucht des eigentlichen Pfeilers, welche nun schräg gequert werden muss, ist von vielen Bändern und Rinnen durchzogen. Sie sollte deshalb keine allzu grossen Schwierigkeiten bieten. Es ist ein herrliches Klettern in diesem formenreichen Gelände, in dem jeder Meter neue Wunder und Überraschungen enthüllt, wo wir von harter Kleinarbeit verschont bleiben und grossräumig nach dem Ziele greifen können.
Die Ausgesetztheit der Wand bringt uns zum Bewusstsein, dass wir schon viel Höhe gewonnen haben. Wiesenteppiche, Geröllfelder und Weg-schlangen des Val di Roda scheinen einer fremden Welt anzugehören. Unser Ziel ist entsprechend in die Nähe gerückt, wenn uns auch noch etliche Seillängen von der gelbroten Ausstiegsverschneidung trennen, die von den wallenden Nebeln von Zeit zu Zeit für Sekunden freigegeben wird.
Ich bewundere Menschen, welche aus Zündhölzern Schlösser bauen oder Segelschiffe in Weinflaschen zaubern. Ich bewundere auch Bergsteiger, welche drei, vier Stunden lang in der gleichen Seillänge stecken können, ohne sich zu langweilen. Ich persönlich verfüge nicht über die notwendige Geduld für die Schritt-für-Schritt-Eroberung eines Berges und fühle mich deshalb glücklich, dass unsere Route kein Weg der Tugend ist. Geduld ist am Palapfeiler nicht gefragt! Ganz im Gegenteil: sein poröser, verwitterter Fels, der einem zu Stein erstarrten Schwamm gleicht, lädt unwiderstehlich zu ungezügeltem Freiklettern ein. Wir lassen uns nicht bitten und turnen so leichtfüssig und beschwingt zur Höhe, wie es uns die enorme Steilheit erlaubt. Ein traumhaft schöner Gang! Aus Andreas'Augen leuchtet das ganze Glück dieser alpinen Sternstunde: « Vorher, wo Du übers Egg ufeturnet bisch, han-i zwüschet Dine Beine de Himmel gseh! » - Bergsteigen wäre nur halb so schön, wenn nicht hie und da ein Luftzug den glatten Spiegel unserer Zuversicht zum Kräuseln brächte. Seelische Wechselbäder erhöhen bekanntlich das Lebens-bewusstsein, und deshalb ist rückblickend meist diejenige Tour die schönste, welche uns nervlich besonders belastet hat.
Für eine Prise Bangigkeit ist für heute gesorgt. Die verflixte Ausstiegsverschneidung ist es, welche mich immer wieder zu beunruhigen vermag. Zwar weiss ich, dass die Kletterei den vierten Schwierigkeitsgrad nicht überschreitet, aber es ist mir ebenso klar, dass alpine Bewertungen sehr unterschiedlich sein können. Es ist ja anzunehmen, dass die Route von geübten Dolomitengehern eingestuft wurde, und was diese unter « sehr schwierig » verstehen, können wir nur erahnen!
Nachdem sie uns so lange in Spannung hielt, bin ich froh, dass wir endlich vor ihr stehen. Wir finden hier ein ebenes Plätzchen und zwei Standhaken: ein unbegreiflicher Luxus für die Dolomi- ten. Auch aus allernächster Nähe betrachtet, hat die Verschneidung nichts von ihrem abweisenden Aussehen eingebüsst, ganz im Gegenteil. Ihre gelbroten Begrenzungswände scheinen mir steiler und abweisender als je, besonders im obern Teil, wo sie zusammentreten und als einzige Schwäche einen feinen Riss aufweisen. Mein ganzes Inneres sträubt sich davor, diese Verschneidung anzupacken, besonders nachdem ich keine Spur des Bändchens entdecken kann, das vor der Verengung auf die linke Begrenzungsrippe führen soll.
Wenn ein Gaul vor einem Hindernis scheut, versucht er auszuscheren. Genau dies probiere nun auch ich. Doch Andreas pfeift mich bald aus der verteufelt kleingriffigen Seitenwand zurück und ermuntert mich zu einer Erkundungsfahrt in der Senkrechten. Nicht nur beim Menschen, sondern auch beim Berg kann der Schein trügen! Ganz wider Erwarten bekomme ich schon von Anfang an beste Griffe unter die Finger, und bald taucht sogar ein Zwischenhaken auf. Die Gewissheit, richtig zu sein, verwandelt meine Unlust allmählich in ein Hochgefühl, das seinen Höhepunkt erreicht, als ich eine prächtige Nische zum Nachsichern erreiche. Zu allem Überfluss zeichnet sich nun linker Hand klar und deutlich die Querungsmöglichkeit zum gutmütigen Gipfelgrat ab. Ich lasse Andreas keinen Augenblick im Ungewissen über unsere weitern Aussichten. Eine Flut übermütiger Sprüche ergiesst sich über sein unschuldiges Haupt, so dass er seinen sorgenschweren Seilgefährten wohl kaum mehr wiederzuerkennen vermag.
Im herrlich griffigen Quergang erleben wir für kurze Augenblicke nochmals die ganze Ausgesetztheit des Pfeilers. Dann ist das Rennen gelaufen! Abends um fünf Uhr stossen wir auf dem geräumigen Gipfelplateau überglücklich die Tür der Biwakschachtel auf.
Wir sind allein in der einfachen, zweckmässigen und säubern Unterkunft und fühlen uns - weil das übliche Kasschen fehlt - wahrhaftig als Gäste der Bergführer von San Martino, welche diese Biwakschachtel errichtet haben. Unsere beiden Wegge- nossen strecken etwas später den Kopf in die Tonne; ungeachtet des Nebels, des Windes und der fortgeschrittenen Stunde nehmen sie nach kurzer Plauderei den Weg zur Pradidalihütte unter die Füsse, da sie dort noch heute zurückerwartet werden — wenn auch nicht von einer Serviertochter!
Wir zwei geniessen bald bei Kerzenlicht und beim Zischen des Kochers einen unvergesslichen Abend. Hätten wir geahnt, dass unsere zwei Vorarlberger einen Steinwurf vom Pala-Hochplateau entfernt zu einem ungemütlichen Biwak gezwungen würden, unser Gefühl der Geborgenheit wäre noch um einige Grade angestiegen!
Am frühen Morgen beginnt Regen aufs Blechdach zu trommeln. Später wird es still. Ahnungsvoll strecken wir die Nase durch den Türspalt: es schneit!
Jahrtausende später wird die Pala di San Martino als überhöhter, freistehender Eckpfeiler vor der weiten Pala-Hochfläche stehen! Heute ist sie noch durch eine schmale Felsbrücke, über deren getürmte Schneide die Normalroute führt, an das Plateau gefesselt. Kaum 250 Meter beträgt die horizontale Distanz des Verbindungsgrates, aber die fünf Türmchen weisen klettertechnische Schwierigkeiten bis zum dritten Grad auf, weshalb bei trockenem Fels mit einer Begehungszeit von zwei Stunden zu rechnen ist. Wieviel Zeit bei Schneegestöber benötigt wird, verrät die Führerbeschreibung leider nicht.
Mitten im Sommer von Schneefällen blockiert zu werden muss nicht immer nur « den andern » passieren. Wir entscheiden uns deshalb nach kurzer Beratung für den sofortigen Abstieg, den wir mit Karte und Führer peinlich genau vorbereiten wollen.
Wenn wir ein Königreich zu verschenken hätten, wir würden es dem Führerautor vermachen, dem es eingefallen wäre, die komplizierte Normalroute auch im Sinne des Abstiegs zu beschreiben. Welche Mühe bereitet es doch, diese rückwärts zu lesen! Es bleibt uns nichts anderes übrig, als sie fast auswendig zu lernen, denn es ist uns klar, dass wir im Schneegestöber keine grosse Lust verspüren werden, den Führer aus der Rucksacktasche zu klauben. Dazu fertigen wir Skizzen von den Türmen an, wie wir sie uns anhand der Beschreibung vorstellen, und versenken sie in den Hosentaschen. Nachdem auch noch die Azimute für den Abstieg zur Pradidalihütte errechnet und festgehalten sind, stürzen wir uns ins Abenteuer. Dick in unsere Wintersachen und Sturmkleider verpackt - eine ziemlich lächerliche Aufmachung für Genusskletterer—, schliessen wir die Türe hinter uns zu!
Mit recht gemischten Gefühlen wandern wir dem Gipfelfirst entlang. Bei aller Unruhe sind wir nicht einmal so schrecklich unglücklich über den Gang der Dinge. So ein kleinerer Sturm ist immer eine Gelegenheit zur Bewährung, und als Genusskletterer hat man selten genug Grund, sich den innern Glorienschein des Heldentums aufzusetzen. Um ein Held der Berge zu sein, muss man ja leiden und sich abquälen können, muss Gewittern, Wasserfällen und Hagelschauern widerstehen, sich Fingerspitzen und Zehen abfrieren lassen und lange Winternächte in Nordwänden verbringen, möglichst an Haken aufgehängt, die keine einzige brüske Bewegung erlauben!
Obwohl wir es nicht so dick treiben wollen, nehmen wir uns doch vor, vor nichts zurückzuschrecken, vielmehr wie Roboter, Meter für Meter, nötigenfalls Zentimeter für Zentimeter vorzurücken. Am Ende des Firsts, beim Abstieg zum Verbindungsgrat, sitzen die Roboter aber bereits in der Patsche. Zwar funktionieren die Scharniere trotz ihrer dicken Verpackung noch einwandfrei, aber Menschen sollten auch atmen und die Augen offenhalten können. Mit beidem steht es schlecht, denn Wind, Graupeln und Schneeflocken brausen im Schnellzugstempo daher, und zwar ausgerechnet aus der Marschrichtung!
Andreas kommt mir in Kürze wie ein arktisches Wesen in einem Eispalast vor. Nach Atem ringend und mit zugekniffenen Augen kämpfen wir uns eine Zeitlang verbissen zur Tiefe. Dann aber kommen wir zur Einsicht, dass wir bei diesem Sturm keine Chance haben. Willig lassen wir uns von den Lüften wieder in die Höhe tragen und verstecken uns aufatmend hinter einem Biwak-mäuerchen.
Eine halbe Stunde später klart es auf, und bald scheint sogar die Sonne. Zu unserer klettertechnischen Bewährungsprobe kommen wir trotzdem -auch zu unsern angefrorenen Fingerbeeren -, denn unsere Türme gleichen eher Eiscornets, und die Aufstiege liegen alle im Schatten! Aber wir wären schlechte Bergsteiger, wenn wir nicht auch dieses Gesicht der unvergleichlichen Pala di San Martino lieben würden, des Berges, der uns ein Erlebnis geschenkt hat, das uns wohl bis ans Lebensende nicht aus den Sinnen gehen wird!
« Die Schleierkante an der Cima della Madonna ist der höchste und letzte Wunsch aller dem Genussklettern verschworenen Bergsteiger zwischen 18 und 40Jahren », schreibt Pause in seinem Buch. « Man muss sie einfach gemacht haben! » hatte ein Bergkamerad vor unserm Start zur Tourenwoche nachgedoppelt.
« Soo, muss man !? » — « Und wenn man die Traum-Altersgrenze überschritten hat, muss man dann immer noch? » - « Nein, dann f/ar/man! » « Also - aber nur bei optimalen Verhältnissen und nur, wenn wir uns im Palafels bestens zurechtfinden! » hatte ich Andreas vor Antritt der Reise mit Bestimmtheit erklärt. Beides ist glücklich und doch etwas beunruhigend eingetroffen. Wie urteilt doch Pause weiter: « Die Kante verlangt keine eisentechnische Perfektion, aber den letzten Mut. » Nun, wir wissen zwar, dass wir uns auf gut trainierte Gliedmassen verlassen können und dass wir uns mit den beiden vorausgegangenen Klettereien eine gute Ausgangslage geschaffen haben... aber diesen sogenannten « letzten Mut », werden wir ihn auch haben?
Mit hohlem, dumpfem Klang schlagen unsere Schuhspitzen an das ausgebauchte Gestein. Drahtseile knirschen und quietschen. In rhythmischer Eintönigkeit stellen wir unsere Füsse auf die einzementierten Bügel der « Via ferrata del Velo ». Automatisch greifen die Hände nach. Sie bleiben jedesmal während Sekundenbruchteilen am Eisen kleben. Es ist frisch heute morgen - ein gutes Wetterzeichen!
Feiner Rauch steigt aus dem Kamin der Pradidalihütte, tanzt und zerfliesst vor der eindrucksvollen Kulisse der Cima Canali. Freundliche Gedanken fliegen zum gastlichen Haus zurück, von dem wir heute morgen um fünf Uhr gestartet sind. Wir waren gut aufgehoben dort und hoffen, einmal wiederzukommen.
Langsam versinken Hütte und Tal, wir nähern uns dem Scheitelpunkt des Bergkammes, der uns von der Cima della Madonna trennt. Wie haben wir diese 400 Meter hohe, schlanke Felssäule über grünen Alpweiden und Nadelwäldern von San Martino aus bewundert! Nun sind wir gespannt, wie sie sich aus der Nähe ausmachen wird.
Cima della Madonna - ein wundervoller Name! Er soll von der Ähnlichkeit der Felsgestalt mit einer thronenden und schleierbedeckten Madonna herrühren. Der Rand des Schleiers wird von der äusserst kühnen Nordwestkante -eben der Schleierkante— gebildet, über die ja jeder Genusskletterer einmal hinaufspaziert sein soll.
Der mit Spannung erwartete Ausblick bringt eine beruhigende Erkenntnis: im Seitenprofil ist die Kante nicht mehr so unmenschlich steil. Be-fänden wir uns auf dem Heimweg, wir müssten sie geradezu etwas enttäuschend finden. So aber gibt sie uns noch genug zu rätseln auf.
Nach Querung eines weiten Geröllkessels und Abstieg über einige weitere Leitern stehen wir am Fuss unseres Berges. Der etwas mühsame, aber hochinteressante Zustieg wäre damit geschafft, und so gilt es nur noch das Einstiegsband zu gewinnen; wie jedermann weiss, kann dieses in einer Linksschlaufe bequem erreicht werden. Gehen wir also auf die Suche nach ihm!
Eine breite Terrasse lädt uns zu einem waagrechten Spaziergang auf Höhe der Biwakschachtel ein, die auf sanftem Geländerücken in den Morgen hineinträumt. Sie seien die einzigen Gäste der Unterkunft gewesen, haben uns Burschen verraten, die wir auf der Via ferrata gekreuzt haben. Diese Nachricht war Musik in unsern Ohren; doch jetzt, wo wir in der Südwestflanke fieberhaft den Zugang zum Einstiegsband suchen, sichten wir plötzlich drei Mann im Geröll. Sie schauen uns interessiert einige Minuten zu. Dann rufen sie uns zu, dass wir zu hoch seien, und verschwinden links um die Kante ...just über das Band, über das wir hergebummelt kamen!
Wir sind sprachlos, und nachdem wir uns von der Richtigkeit des Hinweises überzeugt haben, tief beschämt. Wie konnten wir bloss an einem Berg mit so klaren Linien am Einstieg vorbeimarschieren! Mit Mühe kratze ich mir drei Ausreden zusammen. Also: erstens hatten wir, von der Via ferrata kommend, keine Sicht auf den Sockel des Berges, zweitens fehlen in unserm Führer Weg-und Routenkrokis, und drittens ist in der Routenbeschreibung die Einstiegshöhe nicht vermerkt. Dies wär 's, aber nun haben wir die Bescherung: eine Dreierpartie vor uns! Zwar habe ich Andreas in der Hütte wichtig verkündet, dass wir uns heute in « Salbitsüd-Manier » geduldig in die Reihe der Aspiranten einreihen müssten und ja nicht nervös werden dürften... die Schleierkante sei das elende Füssevertrampen wert...; aber nun bin ich doch recht enttäuscht. Statt Fels und blauen Himmel Hosenböden und Schuhsohlen über unsern Köpfen, welch ,ein Unterschied!
In meinem Innersten rechne ich mir aber immer noch eine kleine Chance aus, wieder die Spitze zu erobern. Einmal bestünde da die Möglichkeit, dass uns die deutsche Seilschaft passieren liesse - man trifft ja immer wieder nette Leute in den Bergen -, und zum andern wäre es gar nicht so unwahrscheinlich, dass unsere Vorgänger am ersten Kantenpfeiler den « berüchtigten » Verhauer machten! Ich habe mir nämlich von einem Kameraden einschärfen lassen, die Schneide des Pfeilers möglichst bald zu verlassen, um rechter Hand den Felswinkel zu gewinnen, aus dem der schwierige Riss in die Pfeilerscharte hinaufführt.
i io Man sei sehr rasch etwas zu hoch und könne dann nicht mehr queren.
Die Sache hat mich derart beeindruckt, dass ich mich schon nach der ersten Seillänge von den Sohlen der Deutschen löse, um nach dem Quergang zu suchen. In diesem griffigen und vorerst noch wenig steilen Felsgelände ist das Klettern zwar ein erstrangiges Vergnügen, doch bringt die Variante nichts ein. Auch mein zweiter Versuch bleibt ein Schlag ins Wasser, und erst der dritte Erkundungsgang bringt die mit Spannung erwartete Entdeckung! Zufrieden mit mir und mit der ganzen Welt überklettere ich die Rinne, die mich von der Nische trennt. Das Schlusslicht der Dreierseilschaft äugt eben wenige Meter über mir wortlos von der Gratkante zu mir herab. « Glaubt ihr, ihr seid richtig? » frage ich ihn hinterhältig. « Sicher! » Ich sage kein Wort mehr, geniesse nur das verschmitzte Lächeln des inzwischen aufgetauchten Seilgefährten.
Wir stehen am Eingang des kaum körperbrei-ten « schwierigen Risses », der im Gegensatz zu den vorangegangenen Felspartien deutliche Begehungsspuren aufweist. Wir sichten auch Haken, zwei beinahe in Reichweite und einen in etwa vier Meter Höhe. Der Riss soll Schwierigkeiten im fünften Grad bieten. Dies zehrt an den Nerven, und deshalb möchten wir den Schinder rasch hinter uns haben. Aber da gibt es noch eine beträchtliche Schwierigkeit: Im Führer wird nämlich empfohlen, mit dem Gesicht talwärts einzusteigen. Welches der Täler gemeint ist, wird vom Autor leider diskret verschwiegen. Da kann nur die Praxis Klarheit verschaffen! Also klemme ich mich, abwechslungsweise Gesicht nach rechts und Gesicht nach links, in den engen Schlauch. Was ich sehe, ist aber nur glatter Fels, und strecke ich den Kopf aus der Spalte, erblicke ich statt Täler... Wände. Wage ich es halt Gesicht nach rechts! Es geht tatsächlich, ein, zwei, drei Meter... doch dann bleibe ich stecken. Keinen Zentimeter komme ich mehr vorwärts. Von Griffen und Tritten keine Spur und von Bewegungsfreiheit schon gar nicht. Was mach'ich nun bloss: ich kann doch nicht allen zukünftigen Schleierkan-ten-Begehern in Achtungstellung den Weg zum Gipfel versperren! Mit grosser Anstrengung beginne ich meine Schuhe zu wiegen, gewinne damit Zentimeter, gleite wieder ab... komme aber schlussendlich doch etwas höher. Ich bin eindeutig falsch eingestiegen, kann aber meinen Fehler erst nach mühseligem Erreichen einer Ausweitung ausbügeln. Nun finde ich endlich wieder Rauhigkeiten, und alles wäre zum besten bestellt, wenn ich in meiner Massarbeit nicht andauernd gestört würde. Da keucht, pfeift und schnauft nämlich einer neben mir, dass fast die Berge zittern!
Nach zwölf Metern, Gott sei Dank nicht erst nach zwanzig, wie es im Führer steht, kann ich eine schöne Nische mit meinem Pusten ausfüllen. Ich darf nun noch die Säcke aufseilen, und dann gibt mir Andreas eine Riss-Kletterdemonstration, die auf mich geradezu niederschmetternd wirkt. Ersteigt nämlich gar nie so richtig in den Riss ein, sondern sucht sich Griffe und Tritte in der freien Luft. Er kommt so schnell, dass ich ihn fast bremsen muss. Dabei habe ich gehofft, beim Miterleben seiner Schwierigkeiten mein Selbstbewusstsein wieder etwas aufpolieren zu können!
Nie hätte ich nämlich eine innere Stärkung nötiger als gerade jetzt. Risse mögen unbequem sein, aber sie bieten wenigstens Sicherheit; doch jetzt heisst es in die freie Wand hinausqueren, und ich weiss, dass mich dort schwierigste Kletterei erwartet. Zwanzig Meter hoch mag das Wändchen sein, das mich von der Scharte trennt. Es ist furchtbar steil und recht kleingriffig, doch hat es hier glücklicherweise einige Zwischenhaken.
Ich erreiche die Scharte mit dem Gefühl, ein tüchtiges Stück Kletterarbeit geleistet zu haben. Vor meiner Nase bäumt sich nun die Kante in eindrucksvoller Steilheit auf. Prüfend gleitet der Blick über die holprige Felsoberfläche, kuschelt sich in seichte Muscheln, turnt Rinnen hinauf, stösst an Ausbauchungen und taucht schliesslich in einen von weissen Tüllschleiern durchwobenen, blauen Himmel. Keine Spur von bayeri- schen Krachlederhosen und gesprenkelten Edel-weiss-Joppen: ha, meine Rechnung ist aufgegangen!
« Die liebe Konkurrenz wird sich nun im Rückzug vom Verhauer befinden, um sich an unsere Absätze zu heften, und es schwer bereuen, uns nicht gleich von Anfang an den Vortritt gegeben zu haben », sinniere ich. Ein diskretes Kratzen und Atmen weckt mich aus meinen Vorstellungen: Mit einem freundlichen Lachen biegt eben der Benjamin der deutschen Seilschaft um die Kante der Pfeilerspitze! « Nachkommen! » lärmt er seinen Kameraden einladend zu.
Glücklicherweise steckt Andreas bereits in den letzten Metern der Wand. Nicht auszudenken, was ihm seitens seines Seilführers geblüht hätte, wäre er noch beim Standhaken.
« Wie war die direkte Kante? » - « Wundervoll... sehr schwierig, aber es hatte alle paar Meter einen Haken! » - Hm... wir mit unserm verflixten Schinder werden doch wohl nicht eine Letztbege-hung gemacht haben? Möglich wär 's schon, bei der Abscheu der heutigen « bequemen » Jugend vor Kaminen und Rissen. Sicher, so muss es sein... wir sind Letztbegeher... und werden ohne Zweifel mit Glanz und Gloria als solche in die Geschichte der Dolomiten eingehen!
Zu viert füllen wir bereits die enge Scharte aus, und der fünfte ist auf dem Weg. Andreas hat bereits das Sicherungsseil eingeklinkt. Er blickt mich mit einem Seitenblick auf die deutschen Kameraden fragend an.
Nicht nur Erstbegeher, auch Letztbegeher können es sich leisten, höflich und zuvorkommend zu sein. Ich finde es deshalb angebracht, nicht einfach zu nehmen, was uns die Gunst der Stunde zum zweitenmal in so verlockender Aufmachung anbietet. Wer einen andern überholt, fügt ihm stets auch einen kleinen Schmerz zu, und in unserm Fall wäre es absolut denkbar, dass unsere Zufallskameraden von der Wendung der Dinge so enttäuscht wären, dass sie sich wieder an den Fuss des Berges abseilten.
Sie sind es glücklicherweise nicht. Noch bevor t Sass Maori Cima della Madonna ( Bildmitte j, südliche 3 Cima di Vezzana ( links ) und Cimone della Pala ( Mitte ), Palagruppe, Dolomitenvom Rollepass aus ges( Piloto L. Gensetter, Davos 2 Pala di San Martino, Südwestpfeiler Photo Willy Auf der Maur, Seewen ich den Mund öffnen kann, schicken sie mich mit wohlwollenden Gebärden auf die Reise. Hurra, wir dürfen vorausklettern, dürfen auf diesem schmalen Weg der Superlative den blauen Himmel stürmen! Wir lassen uns wirklich nicht lange bitten: fast gierig greifen die zerschundenen Hände zu, halbwegs, um die Neugier zu befriedigen, halbwegs um das Fieber einzudämmen, das uns bei so viel Luft und Ungewissheit stossweise durch die Adern jagt.
Es ist ein herrliches Steigen an diesem zweiten Kantenpfeiler. Griffe gibt es zum Verschwenden, wenn auch nicht gerade Briefkästen und Henkelgriffe. Reckübungen sind also nicht gefragt; die Hände krallen sich meist auf Gesichtshöhe an Warzen und andere vorstehende Felsgebilde und kommen mir wie die Greifzangen eines Baukrans vor. Es geht alles wie am Schnürchen. Keine Unklarheiten in der Routenführung, kein unsicherer Griff, kein Schritt, der uns zu gewagt erschiene. Ich garniere den Weg zur Höhe mit hübschen, roten Bandschlingen und stehe unversehens vor dem berühmt-berüchtigten Spreizschritt des letzten Kantendrittels.
Keine Kletterstelle der Schleierkante hat meine Phantasie derart beschäftigt wie dieser Spreizschritt. Kunststück: erzählt man sich doch die haarsträubendsten Geschichten darüber. Ein Witz ist er, dieser Spreizschritt! Wer seinen Körper als menschliche Arkade von Berg zu Berg spannen und dabei in schwindelnde Tiefen blicken will, muss sich jedenfalls ein anderes Gelände aussuchen. Der « Abgrund », den es hier zu überbrücken gilt, besteht in einer Spalte, die unten mit Geröll ausgefüllt und kaum vierMeter tief ist... wenn man auf einen Seitenblick verzichtet! Die jenseitige Wand allerdings ist steil und undolomi-tenhaft glatt.
Ich lasse mich trotzdem guten Mutes mit gestreckten Armen hinüberfallen, fasse Griff, stelle den linken Fuss auf einen stark abstehenden Haken und ziehe mich ohne Zögern ans jenseitige Bord hinüber. Da klebe ich nun also, und da passiert mir das Unerwartete: mir fährt es plötzlich I 12 Photo !..mina-. Davos in alle Glieder. Und nun suche ich in fieberhafter Eile nach dem kleinen Etwas, das mir allein aus der Patsche helfen kann... nach dem letzten Mut! Wie in den Abenteuergeschichten meiner Jugendzeit finde ich diesen - ich weiss nicht wo und wie - im allerletzten Augenblick, gerade als das Pala-Krokodil den Rachen aufreisst und den dürren Happen verschlingen will.
Von den Zehenspitzen bis unter die Kopfhaut erschauernd, rette ich mich mit einigen hastigen Kletterzügen aus der « Todeszone ». Ein Blick zurück zeigt mir das friedvollste Bild, das man sich vorstellen kann: meinen Seilgefährten, mit bie-dermeierhaft unter dem Helm hervorquellenden Locken, der Erde entrückt, auf seiner kleinen Felswolke in unbestimmbare Fernen träumend. Er kann unmöglich etwas von der Dramatik des Augenblicks mitbekommen haben!
Nach einer bedeutend griffigeren Seillänge hat die Kante ausgetrotzt. So grossen Spass die Kletterei auch machte, wir fühlen uns nicht unglücklich darüber, hat uns der steile Pfad doch allerhand an körperlicher und seelischer Kraft abgefordert. Während wir träge den geschweiften Ausstiegsriss erklimmen, ist unser Geist denn auch schon bei Fussbad, Bier und Pasta asciutta. Doch bis es soweit ist, vergehen noch mehrere erlebnisreiche Stunden, Stunden, während denen wir ruhend die grosse Stille in uns hineinsaugen, farbigen Seilsträngen entlang zur Tiefe gleiten und unzählige Wegkehren hinunterpoltern. Mit uns und der ganzen Welt zufrieden, ziehen wir am späten Nachmittag, den Triumphmarsch aus « Aida » trällernd, strammen Schrittes in San Martino ein. Ehrerbietig bleiben die Kurgäste am Strassenrand stehen. Gibt es etwas Schöneres, als Letztbegeher und pensionsberechtigter Genusskletterer zu sein ?!
« ali*
4Im Gipfelhang der Fradusta 5Abfahrt vom Passo di Valgrande 6Auf dem Weg zum Rif. Rosetta. Cimone della Pala und Cima di Vezzana; dazwischen das Val Cantoni ~l Die Palagruppe, aus dem Valle Venengia gesehen