Gauli-Trift-Kreuzberge: zurückgesteckt
Ernst Nägeli, Hohfluh-Haslibcrg
Kaum ein Metier wie das des Alpinisten stellt eine so vorzügliche Schule des Zurücksteckenler-nens dar. Staatsgewaltige, nur vom Mehren ihrer Macht träumend, Militärköpfe, denen alles Zivile ein Greuel, Wirtschaftstiger, für die das Wachs-tumsdenken längst zum Kult geworden und die allein schon das gefallene Wort « Stagnation » mit einem glatten Herzinfarkt quittieren - sie alle müssten mindestens für die Dauer einer Saison in den Alpinismus einsteigen. Und dann gleich zu Beginn Verhältnisse antreffen, wie sie nur ein Jahr bietet, das wettercharakterlich vollkommen defekt zu sein scheint.
Es war der mieseste Frühling, an den ich mich erinnere. Ein glanzvoller März hatte weiss was alles versprochen. Ende Monat schon die erste Skihochtour! Dann aber muss Petrus einen folgenschweren Entschluss gefasst und ganz besonders die Bergsteigergilde aufs Korn genommen haben: « Wartet, ihr - ihr liederlichen Ehemänner, pflichtvergessenen Familienoberhäupter und chronischen Gottesdienstschwänzer - euch will ich jetzt für das Wochenende einmal Sitzleder beibringen, euch! Ihr werdet den alten Petrus kennenlernen! Oft genug triebt ihr euer Spiel mit ihm. Habt trotzdem den Sack gepackt, seid ausgerückt, ungeachtet meiner Mahnung, dass es vielleicht doch Zeit wäre, einmal an etwas anderes zu denken. Wenn ich nun einmal nicht mehr will, dann kann der ganze SAC samt DAV, ÖAV, CAI und CAF zusammenpacken. Jawolle! » Es sah tatsächlich ganz nach einem solchen internationalen Zusammenpacken aus.
Dem Wettermacher gelang das Kunststück, während des ganzen Monats April bei relativ hohem Barometerstand eine Regenzone um die andere aufkreuzen zu lassen. In alle Skirouten über 1800 Meter schmiss er, sicherheitshalber gleich zweimal pro Woche, klafterweise Schnee. Auf Freitag/Samstag war die Übung gewöhnlich am eindrücklichsten. Und dann am Sonntagmorgen, wenn man überhaupt an nichts Böses mehr dachte, klarte es mit einer Schadenfreude ohnegleichen ganz plötzlich auf. Es schien, als ob sämtliche passionierten Skihochtouristen mittels einer Rosskur auf brav-bürgerlichen Familienschlauch umfunktioniert werden sollten.
Als aufgeschreckte Zöglinge eines offenbar übellaunigen Lehrers trainierten wir denn auch folgsam. Jeder für sich mit den Seinen, gelegentlich sogar im Verband. Anlässlich einer solchen Gemeinschaftsübung raunte Gerhard mir verstohlen zu: « Du - gesetzt den Fall, es sollten doch einmal noch Wunder geschehen, dann besitzen wir zwei jedenfalls einen Hüttenpass für den ganzen Sommer... » Aber die Wunder geschahen nicht.
Als endlich dieser unvergleichliche April, der nicht ein einziges Mal zu den Brettern, geschweige denn zu einem anderen alpinistischen Attribut hatte greifen lassen, vorüber war, da sank das Barometer. Und nun erst fing es richtig an.
Im Gebirge fiel Schnee wie nie während des ganzen Winters. Alle paar Tage erneuerte die Decke in Weiss sich bis dicht über unsere Dörfer. Jetzt war sogar das Durchexerzieren familienin-terner Wolldeckensonntage in Frage gestellt. Immerhin: das einzig Positive, wenn einmal am nicht mehr besonders heissen Draht Verbindung zustande kam, erkannten auch wir Bergvagabunden: Die im Winter nur spärlich zugedeckten Gletscher gerieten jetzt vorzüglich! Demnächst besserte es ja bestimmt. Und dann würde es losgehen!
Aber es ging nicht los.
Pfingsten fiel diesmal auf den 21. Mai. Auch wenn die Besserung momentan noch auf sich warten liess, durfte eine Pfingsttour, und zwar gleich eine viertägige, bestimmt jetzt schon ausgemacht werden. Das eine war klar: bis zum 21. Mai konnte dieses Trostlose, das sich da immer noch Wetter schimpfte, unmöglich durchhalten. Also voran mit der Planung! Werner fiel aus, da der Pfingstsamstag ihn dienstlich beanspruchen würde. Hans hatte die Bretter unwiderruflich eingemot- tet. Robert war ebenfalls nicht abkömmlich. Verblieben Gerhard und meine Wenigkeit. Ein bescheiden kleines Team - aber hatten wir nicht auch bloss zu zweit schon manchen Strauss im Weglosen erfolgreich durchgefochten?
Erste Lagebesprechung: Um Gerhards Schwäche für das Gauligebiet wusste ich. Erwartungsgemäss tippte er denn auch auf der ausgebreiteten Karte gegen Gauli. Ich machte vom Vetorecht Gebrauch. Nicht, weil ich etwas gegen dieses Gebiet habe.Von goldenen Septembertagen aber halte ich es in derart sonnig-ungetrübter Erinnerung, dass ich dieses liebe Bild nicht mit dem pfingstlichen Heringssalat eines überfüllten Hüttleins gefährdet wissen wollte.
« Also dann Gelmer=Trift », lenkte Gerhard, der immer Friedfertige, ein. Diesen Vorschlag sank-tionierte ich sogleich. Freitags sehr früh gegen die Hütte, damit es noch zur herrlichen Abfahrt von der Gwächtenlimmi reichen würde. Am Samstag Diechterhorn—Trifthütte. Am Sonntag Dammastock. Am Montag Steinhaushorn und über den Furtwangsattel nach Guttannen.
Aber Petrus hatte es gehört.
Mit dieser Möglichkeit rechnete ich und sagte daher beschwörend: « Nun pass gut auf, Gerhard — wir müssen unbedingt auch noch ein Ausweich-programm zurechtlegen. Folgende Situation ist nämlich denkbar: Die Schneefälle in den Hochlagen halten an bis knapp vor Pfingsten. Dann endlich bricht das seit Wochen fällige mitteleuropäische Hoch durch. Was nun? » « Gehen! » schlussfolgerte Gerhard bedenkenlos. « Um diese Jahreszeit gibt es in zweieinhalb Tagen Sulz. » Ich widersprach heftig: « Ausgeschlossen -höchstens Bruchharsch! Und du weisst, wie sehr ich diesen liebe... Übrigens, denk an die Lawinensituation! Weissfluhjoch hat, genau nach Kalender, seine Meldungen eingestellt. Im Winter, als kein Schnee fiel und ebenso wenig passieren konnte, kamen sie regelmässig. Jetzt, wo man sie benötigen würde, tiefe Funkstille... » « Also — waas? » fragte Gerhard gedehnt, und ich spürte förmlich sein aufsteigendes Misstrauen.
« Auf Fels ausweichen! » entgegnete ich.
Das versetzte dem Guten nahezu einen Schock. Ich erkannte sogleich: Er stand noch mit beiden Füssen absolut fest auf den Brettern und hatte sich weder psychisch noch physisch auf andere Möglichkeiten der Selbstkasteiung vorbereitet. Entsprechend hilflos kam denn auch seine Frage: « Was meinst du denn? Alle Höger liegen ja unterm Schnee. » « Kreuzberge! Nach meiner Schätzung als einzige schneefrei. » Von den Kreuzbergen hatten wir mindestens schon sooft gesprochen wie von Trift und Gauli. Aber richtig kreuzbergwarm war mein lieber Gerhard unerklärlicherweise noch nie geworden. Auch diesmal tat er durchaus keinen Luftsprung,; Ich erkannte sogleich: Von der Diechterlimmi zur Saxerlücke würde ein harter Weg sein.
Ich hielt Ausschau nach Hilfstruppen. Ruedi, mein Zweitältester, liess sich sofort Kreuzberg-be-geistern. Er hatte anfangs Juli in die OS einzurücken. Als Inhaber des Hochgebirgsabzeichens konnte er damit rechnen, anderen Aspiranten im Fels allerhand vormachen zu müssen. So kam ihm eine halbe Trainingswoche gerade recht. Die Bretter aber wollte er um keinen Preis mehr anrühren.
Ich setzte Gerhard die Pistole auf die Brust: « Gut, wenn begründete Aussicht auf Sulzschnee und gute Wetterlage besteht, dann Gelmer—Trift. Andernfalls eben Kreuzberge. Dort lässt sich auch zwischen Regengüssen etwas machen. » Der also Bedrängte sagte nicht ja und nicht nein. Was er wirklich getan hätte, wäre es zum Treffen gekommen, ist mir heute noch unbekannt.
Es kam nicht zum Treffen.
Der nächste Zug lag jetzt wiederum bei Petrus. Und nach der Art und Weise, wie er unser ganzes Spiel durchschaute, mussten wir im voraus die hoffnungslos Verlierenden sein.
Vorderhand studierte ich noch abendelang den Säntisführer. Von Kreuzberg i bis Kreuzberg 8 exerzierte ich alle möglichen An- und Abstiege durch. Gar Zweier- und Einerrouten wurden nicht verachtet für den Fall, dass die oberen Grade ungenügend abgetrocknet sein sollten. Ich machte mich auch mit den Widderalpstöcken, den Hausbergen der Hundsteinhütte, einigermassen vertraut. Da mein Seil auf die kommende Klettersaison hin ersetzt werden sollte - der Kredit war bereits gesprochen —, ging ich ins Sporthaus und erstand vorzeitig ein neues.
Die Skirouten im Gelmer—Trift-Gebiet studierte ich nicht. Teils waren sie mir bekannt, zum andern lagen sie in Gerhards Domäne, und drittens fehlte mir je länger, desto entschiedener der Glaube, dass auf Pfingsten endlich das längst fällige Skihochtourenwetter einkehren würde.
Inwieweit meine Kleingläubigkeit das Verhängnis mitbeeinflusste, bleibe dahingestellt. Jedenfalls steckte ich schon zu Beginn der Woche alle Hochtourenfähnchen auf meiner Generalstabskarte in ihre Ausgangspositionen zurück. Im Gebirge fiel der Schnee immer noch scheffel-weise. Wohl meldete die MZA bereits am Dienstag triumphierend den Beginn einer Wetterbesserung. Sie tat es auch an den darauffolgenden Tagen. Und offenbar einem heimlichen Grundsatz getreu kam sie niemals auch nur mit einem Wörtlein auf den Verhauer zurück. Hierin zumindest unterscheidet sich der Meteorologe vom Alpinisten: Der Alpinist muss, passiert ihm ein Verhauer, in der Regel wieder zum Ausgangspunkt zurück, notfalls gar mittels eines heiklen Abseilmanövers, um alsdann den richtigen Weg zu suchen. Der Meteorologe bedarf solch demütigender Korrekturen nicht. Vermutlich dank eines Tau-sendsassas von Computer schwingt er sich im hoff-nungslosesten Verstieg einer Prognosen-Schlüssel-stelle an imaginären Griffen und Tritten aus dem schwindligsten Überhang und geht mit souveräner Manier in kletterbares Gelände und damit zur Tagesordnung über.
Diesmal hielt die MZA ihr Prinzip eisern eine ganze Woche durch. Sorgfältig wurde es von Petrus Kübel um Kübel begossen. Es war eine geradezu klassische Woche, im Blick auf die jeweilige Fernprognose die verwegensten Pfingstpläne zu schmieden und sie dann unter dem Eindruck des Tatsächlichen Stück um Stück in die Mottenkiste zu tun.
Am Donnerstag wurde klar, dass auch das Kreuzbergfähnlein zurückgeholt werden musste. Zu eindeutig hing der Schnee in die Zweitausen-der-Grenze. Obendrein, besser gesagt, « unten-drein », regnete es immer noch. Ich steckte das Fähnlein indessen bloss ins Gebiet Hundsteinhüt-te—Widderalpstöcke. Notfalls würde man eben erst am Samstag fahren, und wenn 's auch dann nicht abtrocknete, das Unternehmen ganz einfach zum Rekognoszieren eines « unerforschten » Gebietes benützen.
Am Freitag war das Wetter so, dass man keinen Hund hinaus-, geschweige denn Alpinisten auf den Weg zur Hundsteinhütte geschickt hätte. Wehen Herzens versorgte ich das Kreuzbergfähnlein endgültig.
Auf das schien der Wettermacher gewartet zu haben. Am Samstagabend, als Gauli, Trift, der gesamte Alpstein und alle weiteren alpinen und subalpinen Möglichkeiten von Rang und Namen unwiderruflich aus dem Rennen geschieden waren, zeigte sich für Sonntag der erste Lichtschimmer! Die Besserung, auf die Radio und auch ein hochstehendes Barometer seit Tagen gepocht hatten, stand jetzt unmittelbar vor der Tür.
Und nun meldete sich plötzlich Werner! Der Glückspilz hatte sein Arbeits-Soll erfüllt, ohne einen einzigen Sonnenstrahl zu verpassen. Voller Tatendrang fragte er, ob wir am Sonntag, falls es wirklich... noch etwas unternehmen wolltenDer Schnee war « Essig », und ich lehnte einen Ausflug mit den Brettern konsequent ab. Doch hatte ich einst gehört, dass es irgendwo am Giswilerstock tiefgelegene und vermutlich momentan schneefreie Kletterrouten geben sollte. Wenn man diese ins Auge fassen würde... Wir beschlossen, am Sonntagmorgen nochmals zu kabeln.
Von Gerhard fehlte jegliche Nachricht. Hoffentlich war er nicht in der Sintflut umgekommen!
Der Pfingstsonntag zog, wenn auch nicht gerade strahlend, so doch als der freundlichste Tag seit Wochen herauf. Zwischen herumdrückendem Wolkenzeug sah man jedenfalls zeitweilig die Frühlingssonne. Für den Giswilerstock und seine Kalkrouten reichte das. Werner würde mit seinem Roller auf den Brünig fahren. Wir setzten das Treffen daselbst auf ein Viertel vor elf fest.
Ich schmiss Reservekabel, Ersatzfell, Harscheisen, Stockteller und was da sonst noch an vergällte Skihochtouren erinnern konnte, aus dem Rucksack und stopfte das kunterbunte Kletterzeug hinein. Dann schritt ich gegen die Garage, auch diesmal noch frohen Herzens, selbst wenn von einer viertägigen Pfingsttour bloss mehr klägliche sechs Stunden übriggeblieben waren.
Aber jetzt stockte für einen Augenblick mein Pulsschlag.
Der weisse VW vor der Ausfahrt meiner Garage...!
Am Samstag war eine Freundin meiner Frau -beide befanden sich momentan zum Pfingstgot-tesdienst in der Kirche - auf Besuch gekommen. Die Besucherin hatte, durchaus legal, vor meinem Garagetor parkiert. Das war noch vor Werners Anruf gewesen. Ich hatte erklärt, meinen Wagen nicht zu benützen, da ich eine grössere Rundwanderung vorzunehmen gedächte. Ein sechs- bis siebenstündiger Gesundheitsmarsch war ganz einfach fällig. Aus diesem Grund hatte ich auch auf den Kirchgang verzichtet. Aber das war vermutlich gerade der Kardinalfehler. Jedenfalls aber der Grund, warum ich den weissen VW vor meiner Garage nicht vorher realisierte.
Nun war ich glatt erschossen. Es gab nur eine einzige Möglichkeit: dass der Schlüssel steckte! Aber autofahrende Frauen sind natürlich nicht so fahrlässig. Der Wagen war dermassen korrekt verriegelt, dass ihn selbst ein Berufsautoknacker kaum innert nützlicher Frist aufbekommen hätte. Rechtsumkehrt und eine höchst indiskrete Durchstöberung des Gastzimmers. Aber selbst- verständlich hat man in solchen Situationen den Autoschlüssel in der Handtasche. Zum Kuckuck mit allen Handtaschen! Was blieb noch? Ein sofortiger Anruf bei Werner ergab nur einsames Läuten. Der Kollege war also auf Fahrt und ich demnächst am Brünigpass überfällig. Schicksalsergeben blieb ich in Wartestellung am Schreibtisch. Nach 20 Minuten meldete sich mein Kumpan. Ich berichtete ihm mein Missgeschick. Und natürlich könne ich nicht gut in der Kirche ausrufen lassen, VW-Polizeikennzeichen soundso möchte bitte sofort... Nun, bis wann ich in Anbetracht der neuen Situation zur Stelle sein dürfte? Er trinke unterdessen im Buffet einen Kaffee.«Kaum vor zwölf », gestand ich zerschmettert. « Und falls der Pfarrer es noch besonders lang machen sollte... » Ich wartete. Das Generalstabsfahnlein am Giswilerstock stand bedenklich schief. Am pfingst-sonntäglichen Himmel zogen Wolkenvorhänge auf und zu, wie es ihnen gerade beliebte. Bis ich startklar sein würde, konnte schlimmstenfalls sogar ein kleiner Regen einsetzen. Als ich fand, nun dürften meine guten Frauen bald einmal zurück sein, verlegte ich mein Warten nach der Garage. Endlich kamen die Kirchgänger. Diskret trat ich in den Schatten - soweit liess sich das Tor gerade öffnen - und studierte durch eine Ritze die Physiognomie der Gläubigen. Meine Frauen erschienen nicht. Ob sie unter der Kirchentür mit dem Herrn Pfarrer noch eine private Pfmgstdiskussion durchführten? Es wäre der Situation durchaus angemessen... Reumütig erkannte ich, dass ich heute bequem Zeit zum Pfingstgottesdienst gefunden hätte.Vielleicht war es gerade diese Erkenntnis, die mich vor vollkommener Verzweiflung bewahrte. Aber das Ungeheuerliche geschah trotzdem: die sehnlichst Erwarteten waren auch um 12.30 Uhr noch nirgends! Mit den Augen eines Vandalen betrachtete ich den weissen VW. Ob ich ihm mit meinen Bergschuhen alle vier Kotflügel einstauchen sollte? Um eine Schadensache zu verhüten, ging ich hängenden Kopfes heim. Es war gar nichts anderes denkbar, als dass sich die Frauen - unberechenbar-sprunghaft, wie Frauen nun einmal sind - gleich nach der Predigt auf einen Frühlingsspaziergang begeben hatten. Das eigentliche Mittagessen sollte ohnehin erst gegen Abend stattfinden, wenn auch der Herr des Hauses wieder zurück sein würde. Also konnte das grausame Spiel noch Stunden dauern. Ich nahm das Giswilerstockfähnchen - es war in seiner Hoffnungslosigkeit bereits umgesunken - und warf es voller Ingrimm zu den andern. Und jetzt, da die allerletzte Chance alpiner Ambitionen endgültig und unwiderruflich erschlagen war — jetzt zeichnete sich draussen voll zynischer Selbstverständlichkeit der Beginn eines sonnigen Pfingstnach-mittags ab.
Endlich, wenig nach eins, kamen meine Frauen. Mit Gott und der Welt zufrieden und in angeregtem Gespräch. Des Sängers Höflichkeit schweigt vom handstreichartigen Überfall, der sich jetzt ereignete. Mit 60 statt 40 brauste ich dem Brünig zu. Zumindest wollte ich mich Auge in Auge vor Werner entschuldigen. Er musste den Kaffeevorräten des SBB-Buffets inzwischen arg zugesetzt haben.
Werner war nirgends. Nicht am Strassenrand, nicht an einem Wirtstisch - einfach nirgends. Ich steuerte zum Telefon. Daheim meldete er sich auch nicht. Ich war vollkommen fertig. Mit 30 schlich ich heimzu. Um vor weiterem Ungemach auf alle Fälle behütet zu sein - bestimmt hätte ich mir beim Laufen den Fuss vertreten -, legte ich mich für den Rest dieses denkwürdigen Tages aufs Kanapee. Und nun passierte tatsächlich nichts mehr.
Die eigentliche Pointe vernahm ich erst am Abend: Werner war,als ihm die Warterei zu bunt wurde, allein nach Giswil und gegen Mörlialp gefahren und dort - während bei uns als grosses Frühlingswunder die Sonne schien - im feuchten Nebel umhergeirrt. Kletterrouten hatte er keine gefunden. Aber immerhin doch den Tag ohne Sonne zu Ende gebracht.
Als Strafe dafür, dass ich solches verschuldet, dekretierte er unter Komplizenschaft von Ger- hard - der jetzt plötzlich wieder auferstanden war - für Pfingstmontag eine Skitour. « Ohne mich », liess ich ihn wissen, da nach meiner Ansicht der Schnee nur miserabel sein konnte. Aber der Pfingstmontag-Morgen war - gewissermassen als krönender Abschluss unseres viertägigen Gauli-Trift-Kreuzberg-Abenteuers - vollkommen wolkenlos. Und im Obertaljoch am Sustenpass trafen die beiden Unentwegten - so behaupteten sie jedenfalls nachher übereinstimmend - den einma-ligsten Sulzschnee dieses unvergleichlichsten Ski-hochtourenfrühlings an.
Ich aber sass an jenem Pfingstmontag, bei wärmenden Sonnenstrahlen im weitoffenen Fenster, am Schreibtisch und begann damit, mir eine Art Philosophie über die Kunst des Zurücksteckens auf alpinistischen Operationsplänen zurechtzulegen...
Aus dem soeben erschienen Bergbuch « Immer noch locken die Berge ». Buchverlag Tagesnachrichten, Münsingen.