Firnfurchen
Als Schreiber dieser Zeilen am 5. September vergangenen Jahres, vom großen Scheerhorn herkommend, zum erstenmal den unvergleichlichen Eis-cirkus des Hüfigletschers betrat, da fiel ihm eine Erscheinung besonders auf, die er bisher zwar schon oft gesehen, aber noch niemals eingehender beachtet hatte. Das ganze gewaltige Firnfeld innerhalb des großen Scheerhorns, Kammlistockes, Catscharauls und Düssistockes mit Ausnahme der obersten, steilen Firngehänge war nämlich von einer Unzahl mehr oder weniger paralleler und zierlicher Linien durchzogen, die, von der Ferne gesehen, erst bei aufmerksamem Betrachten ins Auge fielen, sich in der Nähe aber als Schneerinnen oder Furchen entpuppten. Ihre Form und Anordnung entsprach durchaus den feinen Epidermislinien unserer innern Handfläche.
Auf dem breiten Schneesattel der Kammlilücke waren keine Furchen zu sehen. Erst am Südosthang des großen Scheerhorns traten solche cirka 1'breit, 1/2'tief, gegen die Mitte des genannten Hanges aber mit cirka 1 Meter Breite, 1/2 Meter Tiefe auf, und zwar in ununterbrochener Folge aneinander gereiht, so daß die zwischenliegenden Firnteile nur schmale Rippen darstellten.
Ich war also beim Beschreiten derselben stetsfort gezwungen, mit dem einen Fuße in die Mulden, mit dem andern auf die Rippen zu treten, was bei dem etwas aufgeweichten Schnee nicht eben angenehm war. Überall beobachtete ich, daß die Furchen dem größten Gefälle folgten, und dementsprechend bald die gerade Richtung, bald zierliche Windungen beschrieben, bald mehrere ineinander übergingen. So traf es sich, daß alle solcherweise entstandenen, vertieften und verbreiterten Hauptstämme der Firnlinien sich im halbkreisförmigen Reviere ungefähr beim Beginne des unteren Gletschersturzes radial vereinigten, und selbst zwischen den folgenden Spalten sich fortzusetzen schienen. Besonders schön war diese Erscheinung am Nordwestfuße des Piz Catscharauls und Piz Cambriales zu beobachten. Am oberen, vom Südgrat des Scheerhorns bis zum Catscharauls sich hinziehenden Gletscherbruche, wo das alte Eis zu Tage trat, fehlten dagegen die Furchen.
Wir erinnern uns nachträglich, solche Furchen auch in der schönen Gletschermulde östlich vom Tscheppsattel, ferner am Gletscherhange südlich vom Vorderringel, am Griesgletscher, Scalettagletscher und auf dem Blümlisalpfirn des Urirotstocks gefunden zu haben. Dagegen beobachteten-wir sie bisher am Sardonagletscher, Piz Solgletscher und in den großen Firnen des Mont Blanc, z.B. am Petit und Grand Plateau, welche wir nur 14 Tage vorher bei gleicher und seither unveränderter Witterung besucht hatten, nicht, obschon in den genannten Fällen das Firnkorn äußerlich überall dasselbe war. Spuren von Wasser, welche diese Rinnen hätten bilden können, waren keine zu sehen, ebensowenig konnten dieselben durch ungleichmäßiges Abschmelzen infolge Staub- und Schuttbedeckung erklärt werden, da der Firn in diesen Teilen vollständig rein und klar geblieben war. Auch zeigte der Schnee sowohl in den Mulden, als auch auf den Zwischenrücken dasselbe innere Gefüge.
Aus unsern bisherigen Beobachtungen ergiebt sich für uns nur die Ansicht, daß die Furchen vorwiegend in allerem Firn, der seit längerer Zeit der Abschmelzung ausgesetzt ist, auftreten. Größere Massen frisch gefallenen Schnees gleichen diese Unebenheiten aus, lassen aber beim Abschmelzen dieselben oft wieder zum Vorschein kommen. So haben wir eben eine schöne Hüfigletscher-Photographie unseres liebenswürdigen Clubphotographen Brun vor uns, welche am Düssistock und im Hüficentrum die großen Eisbrüche, und am Osthange des Scheerhorns einige drohende Spalten zeigt, wo wir — nebenbei gesagt — bei unserer obigen Fahrt keine gefunden haben. Von den genannten Firnlinien ist aber nichts zu sehen. Wir schließen daraus, daß die Aufnahme im Frühsommer, oder nach einem stärkeren Schneefalle gemacht wurde.
Unser verehrte Gletscheroberst A. Heim äußert sich darüber in seinem Handbuche der Gletscherkunde pag. 103 folgendermaßen:
„ Sie ( d.h. die Furchung ) ensteht in ihrer ersten Anlage im Frühsommer oder am Morgen, wenn die obersten Schichten zu schmelzen beginnen, während die etwas tieferen Lagen noch gefroren, das Schmelzwasser nicht versickern lassen, oder besonders, wenn plötzlicher Regen auf die gefrorene Firnfläche fällt. Das Wasser sickert oder fließt dann kurze Zeit furchend an der Oberfläche ab. Über Mittag im Sommer, nachdem die nächtliche Eisrinde ganz durchlockert ist, treffen diese Bedingungen nicht mehr ein, indem das Schmelzwasser vorweg in den Firn hinab versickert. Da aber die Furchen zugleich allmählich durch stärkere Anhäufung von Unreinigkeiten und Entblößungen von tiefern, unreineren Schichten etwas schmutziger und dadurch zu stärkerer Absorption der Sonnenstrahlen befähigt werden, bildet die Besonnung nachher stets das Werk weiter aus, welches durch seltenere und kürzer andauernde Umstände eingeleitet worden war. Die Furchen des einen Jahres kommen in einem folgenden nicht selten wieder zum Vorschein und gelangen zu noch weiterer Ausbildung. Der neue Schnee liegt auf den Flächen zwischen den Furchen, während im Grunde derselben schon der alte, grauliche Schnee entblößt ist.
Diese Furchung ist, besonders in Zeiten schwindender Firnfelder und in den untern Teilen derselben oft auffallend stark, oft aber wird sie durch andere Erscheinungen verwischt. An der gleichen Stelle ist sie das eine Jahr sehr deutlich, ein anderes nur wenig sichtbar. Von großer Höhe herunterblickend, wo die Tiefe sich verkürzt, erkennt man oft bloß an diesen Firnfurchen die Richtung der Neigung. "
Dieser Erklärung wissen wir gegenwärtig nichts Besseres beizufügen. Indessen kann es nur von Nutzen sein, wenn recht viele Alpenwanderer über die Entstehungsweise, Art, Ort und Zeit des Vorkommens und die Beziehung der Firnfurchen zu den Schründen in Natura ihre Beobachtungen machen und vor allem photographische Belege nach Hause bringen. Nicht bloß die Theorie, sondern auch die Praxis würde dadurch gewinnen, da solche Furchen, wie uns scheint, über Spalten nicht vorkommen, und dadurch zum Wegweiser in den Firn- und Gletscherfeldern werden können. Ist dies der Fall, dann wird damit auch die einzige, objektive Gefahr, die selbst dem berufensten Führerlosen und Alleingänger bisher immer noch im Wege gestanden, und zum Abschrecken vorgehalten wurde, wenigstens für gewisse Zeiten und Lokalitäten aufgehoben.
Durch fortwährendes Studium der Berge und ihrer Gefahren, das vor allem der Hochtourist, sei es am Original oder zu Hause an passenden Karten und Photographien, pflegen soll, erringen wir uns nicht bloß ein immer tieferes und dadurch allezeit genußvolles Wissen, sondern ebenso einen steten Fortschritt in der Wanderkunst, der schließlich auch den Einzelnen gleich Nansen und Johannsen selbst die größten Schwierigkeiten der Natur besiegen läßt.
F. W. Sprecher.