Fahrt zum Palü
Von Robert Brunner
Mit einem Bild ( 162Ottobrunn/München ) Es war ein fürchterlicher Sommer, Anno 1955! Regen und wieder Regen. Keiner wusste, wann er in Urlaub gehen sollte, jeder hoffte, endlich möchte es besser werden. Und es wurde noch besser, wenn auch nicht für lange. Der reine Zufall war es, dass unser Urlaub in diese Zeit gelegt war, schon lange vorher.
Eine schöne Fahrt durchs Inntal liegt hinter uns, von Imst bis Samedan in einem Zuge. Überall haben uns Abstecher gereizt. Bei Landeck schon die Abzweigung zum Arlberg und die erst kurz eröffnete neue Silvrettastrasse. An der Schweizer Grenze liessen wir die grossartig an den Berg gebaute Strasse zum Reschenpass links und tauschten dafür die staubige, schmale Strasse durchs Unterengadin ein. Bei Zernez war es der Ofenpass mit seinen einsamen Bergen, die schon lange auf der grossen, geheimen Wunschliste standen! Aber wir wussten, dass unsere Standhaftigkeit sicher belohnt würde, und behielten Kurs auf die Berninagruppe.
Immer mehr heben sich ihre Gletschergipfel ab von den scharfen Granitzacken des Bergells. In Samedan verlassen wir das Inntal und wenden uns Pontresina zu. Ins Rosegtal werfen wir im Vorbeigehen einen flüchtigen und zugleich begehrenden Blick, aber der Palü ist schon zu nahe, um uns noch abspenstig werden zu lassen.
Station Morteratsch. Das Motorrad ist verstaut. Wir sind auf dem Wege zur Bovalhütte. Die Sonne ist hier unten schon weg. Nur die Firnfelder, die 1000 bis 1500 Meter höher liegen, leuchten noch in ihrem Glänze. Uns eilt es nicht mehr. In aller Ruhe geben wir uns den Eindrücken hin, die uns in diesem riesigen Amphitheater empfangen. Links, ein wenig abseits, der Palü, daneben seine Zwillingsschwester, die Bellavista. Das Felstrapez der Crast'aguzza sieht aus, als wäre es auch aus Eis, so winterlich verschneit sind die Felsen.
Da steigt in uns die bange Frage auf: Wie sind die Schneeverhältnisse in den höheren Lagen? Aber wir haben jetzt keine Zeit, länger nachzudenken, denn immer wieder zieht der Piz Bernina den Blick auf sich. Wir sehen seine Flanke nur verkürzt, aber sein wuchtiger Aufbau lässt uns nicht aus dem Bann, bis die Schatten der Nacht alles eingehüllt haben. Auf dem Gletscher und in seinen Klüften hören wir noch das Glucksen des Wassers.
Der nächste Morgen ist klar und verspricht einen prächtigen Tag. Was hilft es, dass wir müde sind von Fahrt und Aufstieg, nicht trainiert und faul obendrein - wir wissen nicht, wie lange das gute Wetter dauern wird. So gehen wir um 6 los zum Piz Morteratsch. Sein breiter Firnhang zum Gipfel hinauf ist schon vom Tal aus gut zu sehen und macht einen vornehmen Eindruck. Vor uns ist schon eine andere Partie aufgebrochen, der brauchten wir nur zu folgen, sagt man uns. Das tun wir denn auch! Den Hang hinauf bis zur Schuttreisse und den Firnfeldern ist der Weg ohnehin nicht zu verfehlen. Dann beginnen wir eine lange ansteigende Querung über den Firn, stets unter den Felsen haltend. Erst knapp unter der Grat- höhe weist die Spur nach rechts in die Felsen. Wenn das nur rechte Felsen wären, es sind aber nur grosse Blöcke in labilem Gleichgewicht, die nur auf eine Berührung zu warten scheinen, um mit grossem Gepolter abzufahren. Wir wundern uns über diesen schwierigen Anstieg, aber vielleicht kommt er uns nur so schwierig vor, denken wir. Vorsichtig steigen wir hinauf. An der Scharte bläst uns der kalte Wind um die Ohren, so dass wir ohne Aufenthalt weitergehen. Glücklicherweise ist gut gespurt, denn hier gibt es tiefen Pulverschnee wie mitten im Winter. Der Wind bringt von Südwesten her immer mehr Wolken über den Kamm, die zusehends die Sicht verdecken. Daher ist uns auch die vielgerühmte Aussicht vom Gipfel des Morteratsch schon etwas beschnitten. Drüben stehen die steilen Granitflanken der Bergeller Berge; die weite Runde nach Norden und Osten ist völlig frei; am eindrucksvollsten aber ist der Blick in die nächste Nachbarschaft hinüber zum Bernina, links davon das weite Firnfeld vom Crast'-agüzza-Sattel zur Bellavistaterrasse hinauf, rechts aber der Scerscen und der Roseg mit seiner weissen, eisigen Nordwand, wie ein ungeheurer Schild aus Eis. Am Bernina selbst zieht, uns zugewandt und auf den Fels aufgesetzt, eine Firnschneide zum Gipfel: der Biancograt!
Bald sind wir im Absteigen den steilen Hang hinunter. Das Granitgerümpel ist ebenso widerlich wie im Aufstieg und der Übergang zum Firn noch schlechter. Die Sonne hat den ganzen Tag diesen Hang beschienen und da und dort blankes Wassereis zutage gebracht. Das wäre nicht das Schlimmste gewesen, aber der Firn ist obendrein ein richtiger Morast geworden. Dabei stellt sich jetzt heraus, dass die Schneedecke nur ungefähr einen halben Meter dick ist und darunter Geröll liegt, das durch Eis miteinander verbacken ist. Langsam und vorsichtig tasten wir uns abwärts, stets darauf achtend, dass wir nicht ganz durch den Firn treten. Zwischendurch sind Rinnen zu queren, die meist ganz Blankeis sind. Glücklicherweise schauen zwischendurch spitze Steine heraus, die uns hinüberhelfen. Die allerletzte dieser Rinnen aber ist so glatt und ohne jeden Halt, dass wir nach langem Hin und Her uns endlich entschliessen, doch noch die Steigeisen anzuziehen. Warum wir das nicht schon früher taten? Teils sicher aus Faulheit, teils aber auch, weil sie uns in dem matschigen Firn gar nichts geholfen hätten, höchstens durch die sich ansetzenden Stollen die Unsicherheit noch erhöht hätten.
Auf der Hütte erfahren wir dann, dass wir schon im Aufstieg einen völlig falschen Weg gegangen sind, statt links über das lange Firnfeld zu queren, hätten wir nur rechts über das Geröll zur Scharte hinaufzusteigen brauchen. Der Hüttenwart hat uns beim Absteigen zugeschaut und sich sehr über unseren Weg gewundert.
Die Nacht bringt Gewitter und in den oberen Lagen Schneefall. Der folgende Tag ist nicht viel besser und wird als nachgeholter Rasttag fleissig zum Skatklopfen benutzt. Zugleich bekommen wir Aussicht, uns einer grösseren Gruppe anschliessen zu können zur Überschreitung des Palü.
Am Donnerstag klart das Wetter wieder auf. Zu dritt wandern wir über den Morteratschgletscher zur Isla Pers hinüber, der Felsinsel zwischen Morteratsch- und Persgletscher. Von der Isla Pers hat man einen grandiosen Blick auf den Piz Bernina, der in seiner ganzen Höhe vor einem steht. Wir queren den Persgletscher und steigen den Moränenhang zur Diavolezzahütte hinauf. Jetzt ist es der Palü, der immer vor unseren Augen steht. Seine grossartig eben-massige Gestalt ist einmalig; über der imposanten Nordwand bauen die drei vorspringenden Pfeiler symmetrisch die drei Gipfel auf, über die ein einzigschöner Firngrat sich schwingt, den wir morgen begehen wollen!
Freitag früh 4 Uhr. Eine lange Schlange von 14 Leuten, mit zwei Laternen bewaffnet, stolpert um den Piz Trovat herum. Da und dort schimpft einer, wenn er auf überglastem Fels ausrutscht. Langsam wird es dämmrig. Am Gletscher seilen wir uns an, dann setzt sich der Wurm wieder in Bewegung. Die Helligkeit im Osten wird stärker, und mit einem Male ist die Sonne da. Wir selbst gehen noch im Schatten, aber ihr Schein lässt die Gletscherberge um uns aufglühen, als käme der Glanz von innen heraus. So ruhig und feierlich das ist, ich muss doch stets an die Vorstellung der Griechen denken, die den Sonnenwagen mit grossem Getöse herauffahren liessen. Es ist, als ob dieses imaginäre Herauffahren in der grossen Morgenstille hörbar würde. Im Schatten des d' Arias und des Cambrena steigen wir weiter durch den Bruch hinauf, bis wir endlich in der obersten Mulde unterm Grat auch in die Sonne kommen. Kein Platz könnte geeigneter sein für die erste Rast. Er liegt schon höher als der Cambrena. Darum ist der Blick frei zum Ortler und zur Adamellogruppe, hinunter ins Poschiavo und nach Pontresina. Dann sind wir bald auf dem Grat und steigen über die manchmal ziemlich schmale, elegant geschwungene Schneide hinauf zum Ostgipfel. Ein paar Schritte Abstieg, wie ein kurzes Atemholen, dann beginnt der Aufschwung zum Hauptgipfel. Eine wundervolle Ausgesetztheit ist es. Links und rechts fahren die Hänge ohne Unterbrechung in die Tiefe. Die Stapfen sind fest in den First getreten. Über den Nordpfeiler sind grosse Wächten hinausgebaut, wir meiden gewissenhaft eine allzunahe Bekanntschaft mit ihnen. Nach den obligaten Gipfelphotos steigen wir den breiten Rücken nach Westen hinab. Die Überschreitung des Westgipfels, des Piz Spinas, gestaltet sich weniger angenehm. Eis und Fels kombiniert und manchmal mit feiner Glasur überzogen. Endlich sind wir an der Sella Bellavista. Tiefer Pulverschnee erwartet uns wieder. Wir queren auf der Terrasse um die drei Bellavistagipfel herum, um dann zur Capanna Marco e Rosa abzusteigen. Unangenehm kühl wird es jetzt, denn der Südwind hat Wolken an die Gipfel gehängt, die uns die Sonne nehmen und zeitweise sogar ganz einhüllen. Durch riesenhafte Klüfte, Abbruche und halbverdeckte Spalten steigen wir hinunter zur Hütte. Sie ist keine gewöhnliche Hütte, in 3600 Meter Höhe auf einem kleinen Felsenvorsprung erbaut und kilometerweit von Gletschern umgeben. Wie eine Insel des Lebens begrüssen wir sie. Ein wenig ehrfürchtig schaut man das Holzgebäude an, wenn man bedenkt, dass es schon seit 1913 da oben steht und der alte Klucker selbst ihren Bau geleitet hat.
Eine Errungenschaft unserer Technik gibt es hier oben: Gas zum Kochen und fürs Licht. Und noch etwas gibt es, etwas ganz anderes: Vino! Das genügt, um den Palü genügend zu feiern! So mangelhaft in manchen Dingen die Verständigung mit dem italienischen Hüttenwart ist, zum Essen und Trinken reicht es immer!
Am nächsten Morgen beginnen wir den Abstieg. Grossartig sind die Eisbrüche des Morteratschgletschers, ein einziger, riesig zerklüfteter Eisstrom fliesst hinunter, nur von kleinen Felsenriffen geteilt. Wir steigen durch die Abbruche, über Spaltenbrücken hinweg und unter grossen Eisbastionen hindurch zur aperen Zunge hinunter. Dort verstauen wir alles Gerät, die Steigeisen und das Seil im Rucksack. Unser Weg führt wieder ins Tal.
Die Heimfahrt sollte uns noch manches Sehenswerte und Interessante bringen, wenn auch mehr im Flug erhascht als wirklich geschaut und genossen. In Station Morteratsch gibt es zunächst ein Wiedersehen mit unserem Motorrad. Wir trennen uns von den Kameraden vom Palü, die mit ihrem Omnibus weiterfahren, und nehmen Kurs über den Berninapass hinunter ins Poschiavo. Mit einem Male ist alles anders, die Menschen, die Häuser und auch die Landschaft. Über Tirano erreichen wir noch am gleichen Tage Bormio am Fusse des Stilfser Jochs.
Sonntag, den 12. September. Um 9 Uhr fahren wir weg zum Stilfser Joch. Jetzt beginnt für unsere « 175er Maschine » die grosse Prüfung: Zu zweit mit einem schweren Rucksack wollen wir mit ihr da hinauf. Und sie schafft es. Ohne Aufenthalt fahren wir durch bis Meran, Kehre um Kehre aufwärts und wieder abwärts. Nur auf der Passhöhe werden schnell ein paar Photos gemacht. Der Ortler ist prächtig anzuschauen im Glanz der Sonne, das Haupt in den ziehenden Wolken.
Wie ein grosser Garten zieht das Etschtal an uns vorbei, stets zum Verweilen einladend. Herrliche Äpfel, grosse Trauben... dolce far niente... Es nützt nichts, wir müssen weiter. Von Meran wollen wir zum Brenner. Sollen wir über Bozen fahren? Nein. Durchs Passeirer Tal geht 's zum Jaufenpass, dem zweiten schweren Pass des Tages. Er ist stiller, ruhiger als das vielbefahrene Stilfser Joch, die Natur ist wohltuender, mehr Grün ist da, und die Hänge sind weit hinauf bewaldet.
Über die Passhöhe zieht von Norden her Nebel. Auch wir müssen für kurze Zeit in diese « Waschküche » hinein. Es riecht nach schlechtem Wetter. Aber noch scheint es nicht so schlimm zu sein, denn wie wir wieder tiefer kommen, ist es ebenso schön, wie es in Meran war. Am Brenner beginnt sich die bekannte Schlange zu formieren. Die Abfertigung ist flüssig. Das Wipptal hinunter ärgern wir uns recht oft über die Brennerbahn, denn fast jede zweite Schranke finden wir geschlossen. In Innsbruck sehen wir, was uns noch bevorsteht. Das Inntal gegen Westen zu sieht aus wie ein grosser Sack voll Regen, der sich jeden Augenblick öffnen kann. Über die Pässe in der nördlichen Gebirgskette kommen lange weisse Fahnen hereingezogen, immer wieder fallen einzelne Tropfen. Den Wettlauf mit dem Regen gewinnen wir in erster Etappe bis Kufstein-Rosenheim.
Dann ist es aus. Wie wir uns auf der Autobahn wieder gegen Westen wenden, prasselt der Regen los. Patschnass und todmüde kommen wir heim nach München, gerade noch fähig, der Zweiliterflasche aus Meran den Kork aus dem Hals zu ziehen. Das weitere bereitet dann keine Schwierigkeit mehr.