Expedition Baffinland: Cumberland
Jacques Durvìlle, Combloux ( Frankreich )
Photos 25-30 Soll ich an Horoskope glauben? Obschon ich kein regelmässiger Leser von Illustrierten bin, kann es doch vorkommen, dass ich solche Hefte etwa durchblättere, wenn ich beim Coiffeur warten muss, bis ich an die Reihe komme, wie es wohl jedem andern auch geht. Tatsächlich überflog ich im Herbst 1973 eines Tages eine derartige Revue beim Barbier und las darin, mehr zum Vergnügen als aus Neugier, mein Horoskop:
Sie werden nächstens einen Ausländer antreffen, der der gleichen Leidenschaft frönt wie Sie, und Sie werden gute Freunde abgeben...
Bei der Vorbereitung einer anspruchslosen Expedition in die peruanischen Anden begegnete ich einige Tage später diesem « Freund » in den « Alpen » des Schweizer Alpen-Clubs. Es war ein Alpinist, der von seiner Besteigung des Nevado Ananéa ( 5850 m ) in der Cordillera Apolobamba ausführlich erzählte, und eben dahin richtete sich mein Augenmerk. Durch den darauffolgenden Briefwechsel fand ich Kontakt zu ihm, und wir knüpften die ersten Freundschaftsbande. Einige Monate später fand dann das erste persönliche 18 Cachemire: Première apparition du Nun ( j ijj m ), le plus haut sommet du Cachemire indien 19 Le £ i ( vu du camp de base ). Il culmine à environ 6400 mètres. Les chutes de séracs le rendent particulièrement dangereux 20 Le Snow Plateau ( 6ßoo m ), vu du camp II, et deux sommets anonymes Zusammentreffen in Juliaca statt, in der Nähe des Titicacasees, und zusammen mit meinem neuen Bekannten und meinen französischen Freunden bestieg ich den Ananéa von Rinconada ( einem Dorf ) aus auf einer noch unerforschten Route.
Wir haben uns mit dem Versprechen, nächstens wieder zusammenzutreffen, verabschiedet. Und so geschah es, dass Hans-Peter Duttle, mein neuer Schweizer Freund und einer « der vier am Everest » ( 1962 ) im Sommer 1974 zu mir nach Combloux in Hochsavoyen kam. Trotz seines nur kurzen Europa-Aufenthaltes konnten wir zwei Touren in unserm grossartigen Bergmassiv verwirklichen: zuerst die Aiguille du Tour durch das Couloir de la Table, dann den Mont Blanc, wo das unsichere Wetter und das Gewitter der letzten Nacht vor unserem Anmarsch viele « An-wärter»-Seilschaften davon abhielten, das « Dach Europas » zu besteigen. Doch die Witterung hielt sich gut, und wir hatten die Freude, Hans-Peter « unsern » Mont Blanc in seiner ganzen Klarheit vor Augen zu führen. Der Schlussgrat, durch den Wind und Schnee der vergangenen Nacht frisch modelliert, bot sich in einer Feinheit sondergleichen dar, als ideale Linie, als wahre Himmelsleiter... Himmlischer Augenblick - Schweigen -Lächeln - die Alpen ausgebreitet zu unsern Füssen...
Beim Abstieg bemerkte Hans-Peter: « Ihr solltet im Sommer 1975 ins Baffinland kommen; das würde Euch sicher nicht enttäuschen. » Da wir schon ein Projekt Hindukusch entworfen hatten, zögerten wir vorerst, liessen uns dann aber durch einen ausgezeichneten illustrierten Artikel in den « Montagnes du Monde » ( Berge der Welt ) überzeugen, denn darin wird von den Erstbesteigungen des Mont Asgard, der Tête Blanche und des Mont Odin vom Jahre 1953 ausführlich berichtet.
Mont Asgard, Tête Blanche, Odin... während eines Jahres sind mir diese Namen ständig im Kopf herumgegangen; ich habe sie in meine Kol-leghefte gekritzelt... und wir sind tatsächlich ins Baffinland gereist. Nun sind wir bereits wieder zu- 21Traversée du Snow Plateau. Au fond, à gauche: le Pinacle ( 6gjo m ) 22 Camp sur le Snow Plateau ( 6300 m ), au pied du „ Nun et de White Needle 23 Le Kun ( 7085 m ) 24 Le Nun et son versant encore vierge. Devant, à gauche: White Needle ( env. 6600 m ) Photos: Expédition 1976 au Nun rück, überglücklich und bezaubert von der einzigartigen Atmosphäre der arktischen Bergwelt.
Das Flugzeug hat die Distanzen beträchtlich verkürzt, und heute ist eine Reise nach Baffinland keine so zeitraubende Sache mehr wie zur Zeit der norwegischen Walfänger des Cumberland Sound. Heute kann man täglich in sechs Stunden in einer mächtigen und bequemen B-747 der Air Canada von Europa nach Montréal fliegen. Nacht-Zwi-schenlandung... erstes « Biwak »... Dort nimmt Sie die Nordair-Gesellschaft an Bord einer B-727, trägt Sie über die unendlichen Einöden von Labrador, um Sie fünf Stunden später bei Frobisher Bay ( via Fort Chimo ) an Land zu setzen. Dies ist die Verwaltungszentrale und auch die Flug-drehscheibe der Insel. Wenn das Wetter es erlaubt, besteht die Möglichkeit, mit einer DC-3 oder einem Twin Oter derselben Gesellschaft nach Pangnirtung zu gelangen, mit Landung auf einer Natur-Flugpiste, was nicht immer vergnüglich ist, weshalb man auf dem Rückweg gut daran tut, möglichst das erste Flugzeug zu benützen, will man das Risiko einer grossen Verspätung ausschalten.
Es ist kein allzu grosses Problem, an das hintere Ende des Fjords von Pangnirtung-Süd zu gelangen, denn der Leiter des Nationalparks von Cumberland - übrigens ein Schweizer - besorgt Ihnen gerne und mühelos ein oder zwei Eskimo-Boote, und wenn 's klappt, wird Ihr ganzes Material zu innerst im Fjord, bei der ersten « Telephonka-bine », abgesetzt. Tatsächlich hat die Parkverwaltung drei Kabinen mit Telephon-Radio für ihr Überwachungspersonal eingerichtet, um den Expeditionen, die im Gebirge operieren, eine gewisse Sicherheit zu bieten. Hoffen wir, die kanadische Regierung wisse die Grenzen zu ziehen und mache diese unendlich weiten und herrlichen Gebiete nicht den Geschäftemachern des 20.Jahr-hunderts und den Allerweltstouristen zugänglich!
Erst in Overlord beginnt die eigentliche Expedition ins Baffinland. Wer dort klettern will, muss aber gut zu Fuss sein, muss marschieren und nochmals marschieren und dazu bereit sein, dem 25 Baffinland ( Cumberland ): Mt. Asgard, vom Glacier Lake ( mit Turner Glacier ). Im Vordergrund das Ruderboot vom Summit Lake 26 Am Fusse des Thor Peak ( Weasel Valley ) 27 Blick vom Tirokva Peak das Weasel Valley hinauf zum Summit Lake, Glacier Lake und Highway Glacier. Rechts vorne der Thor Peak, hinten Mitte The Blanche, ganz links Mt. Odin. Mt. Asgard hinten links in den Wolken scheinbar unendlich langen Weasel River entlang ungeheure Lasten mitzuschleppen. Ein Sherpa im Baffinland! Einige Alpinisten und Ausflügler haben schon den Wunsch geäussert, ein Helikopter mit Standplatz in Pang sollte den Lebensmit-tel- und Materialtransport übernehmen. In Tat und Wahrheit hätte auch ich an manchen Tagen, als mich eine 40 Kilogramm schwere Last fast zu Boden drückte und ich mich nur mit Mühe über Moränen schleppte und Wildbäche überquerte, diesen Vorschlag gutgeheissen. Doch heute weise ich diese Anregung mit Entschiedenheit zurück, mit der Begründung, dass die Besteigungen im Baffinland ihren Charakter, der von Abgeschiedenheit und Ruhe geprägt ist, behalten und den wahren Naturfreunden vorbehalten bleiben sollen - in unverdorbener, urwüchsiger Natur.
Windy Lake ist unser erstes Lager; dort weht übrigens ein aussergewöhnlich heftiger Wind, der uns veranlasst, unsere Zelte festzuzurren, aufweiche zu allem Überfluss unaufhörlicher Regen prasselt.
Während des achttägigen Materialtransports haben wir mehrmals die Strecke Overlord-Windy Lake gemacht, aber gerade im Verlaufe dieses Hin und Hers bei hartnäckigem Regenwetter begann ich diese ganz spezielle Baffin-Atmosphäre zu empfinden, diese romantische, übernatürliche, phantastische Stimmung. Mehr als einmal wandte ich mich um in der Meinung, jemanden mir folgen zu hören: einen Kobold, einen Gnom; oder war 's irgend ein nordischer Gott? Wahrscheinlich waren es nur die Geräusche des Windes und der Wasser, die sich mit meiner Phantasie vermischten... Doch dann zerrissen eines Tages die Himmelsschleier, und wir zogen den Berggipfeln in Cumberland entgegen.
Tirokwa Peak - 1 700 Meter Höhendifferenz, und was für eine Besteigung! Fels und Schnee führen in acht Stunden zum Gipfel: Pastelltöne des Hohen Nordens- eine überirdische Gipfelstunde, wo Bergspitzen und Fjorde kupfern schimmern. Die Arktis umstrickt uns mit ihrem magischen Zauber.
28 Munin und Hugin von Fork Beard Glacier 29 Am N-Fuss des Thor Peak. Blick auf Fork Beard Glacier 30 Weasel Valley. Durchqueren eines typischen Seitenflusses. Hinten Weasel River, dahinter Gletscher und Moräne des Crater Lake Photos Maurice Dupont, Roc ( CAF, Megèvc ) Ein paar Tage später steigen wir, fast erdrückt vom Gewicht unserer Riesensäcke, zwischen dem Thor und dem Moljnir auf. Nachdem wir einer endlos langen Moräne gefolgt sind, richten wir in 1000 Meter Höhe unser erstes Camp ein; während fünf Tagen werden wir in diesem Abschnitt Besteigungen machen. Zum Thor Peak ( eine interessante Besteigung, weil der Gipfel sehr zentral liegt ) haben wir vergeblich die sogenannte Normalroute der Erstbesteiger gesucht. Unversehens sind wir vom « ziemlich Schwierigen » ins « Schwierige » geraten und haben dabei wahrscheinlich eine neue Führe eröffnet. Und beim Abstieg haben wir möglicherweise die Normalroute entdeckt! Vom Gipfel ist die Sicht in die abschüssige Nordwand grossartig: 1500 Meter weiter unten rauschen die Wasser des Flusses. Die Stimmung erinnert an Wagner, die Farben des Himmels sind düster, und die Steinmännchen des Gipfels scheinen in Bewegung zu sein... die Berggeister sind da.
Von der Aiguille du Couchant zum Hugin werden wir wo möglich dem Grat über zwei ungeheuer grossen Gletschern folgen. Die Aufhellungen im Verlaufe des Tages lassen uns die herrlichsten Stunden unseres Alpinistendaseins erleben.
Während Hans-Peter und Martine einen jungfräulichen Gipfel am Ende des Fork-Beard-Glet-schers angehen, eröffnen wir andern neue Führen auf diesen grossartigen Bergen. So gehen allmählich Lebensmittel und Kräfte zur Neige, und wir wollen uns 24 Stunden im Basislager Ruhe gönnen: Ruhe - Essen - Ruhe - Essen! Wir leben wie richtige Eskimos nach unserem eigenen Rhythmus, wissen kaum, was für ein Wochentag es ist, und müssen hin und wieder in unsern Aufzeichnungen nachsehen, um mit der Zeit zurechtzukommen...
Heute abend packen wir sorgfältig unsere Rucksäcke - doch verflixt nochmal, die sind immer noch schwer! Nicht weniger als zwölf Stunden Marsch stehen uns bevor, zwölf Stunden über Moränen und Flechten; drei Wildbäche müssen durchwatet und zwei mit einem doppel- ten Seilzug, den die Expeditionsteilnehmer ( Barabino-Expedition ) im Jahre 1973 installiert haben, überquert werden. Aber wir sind Feuer und Flamme. Sind wir nicht im Begriff, dem Gipfel unserer Träume zuzustreben? Die einen zur Tête Blanche, die andern zum Mont Asgard!
Alles wird gut gehen, « le grand beau » steht uns bei... und im übrigen sind wir auf ständigen Wechsel eingefuchst: Schuhe - Stiefel - Schuhe -Stiefel, wie es eben die Flüsse diktieren. Camp II ( 600 m ) steht in unmittelbarer Nähe der dritten « Telephonzelle » des Nationalparks, am Summit Lake. Erst sind wir allein; ein paar Tage später wird uns der bekannte Kletterer Charlie Porter besuchen.
Vier von uns, denen es Schnee, Eis und grosse Distanzen am meisten angetan haben, setzen sich ins Boot... und werden nach siebenstündigem Rudern und zweistündigem Marsch auf 1000 Meter Höhe am Fusse der Tête Blanche Camp III erstellen. Unterdessen wenden sich die sechs andern Kletterer, unter denen auch ich mich befinde, dem Mont Asgard zu. Dieser phantastische Gipfel zieht uns alle in seinen Bann; er wird gewissermassen über das Gelingen unseres Unternehmens entscheiden. Der Aufstieg zur Scharte zwischen den beiden Asgard-Gipfeln stimmt uns allerdings etwas misstrauisch wegen der mittelmässigen Qualität der Felsen; aber was für eine Mauer danach! Von Platte zu Platte, von Kamin zu Kamin, von Riss zu Riss klettern wir in festem, von der Abendsonne vergoldetem Fels. In drei Zweierseilschaften vollbringen wir eine « erste Gemeinsame » zum Asgard, von Stand zu Stand die von den Erstbegehern geschilderte Route erkennend, und das letzte Kamin im dritten Schwierigkeitsgrad und bei einer schauderhaften Leere zwischen den Beinen führt uns ganz berauscht zum Endziel dieser grossartigen Tour.
« Asgard, der Götterthron! » Ein ganzer Gipfelwald zeichnet sich in seltener Feinheit ab. Die Ruhe ist absolut, die Stille ergreifend, und die Erfüllung lacht aus unsern Augen. Ich bin ganz überwältigt vor Glück. So gerne ich auch in Worte fassen möchte, was ich in diesen kurzen Augenblicken empfunden habe: da gibt es immer etwas in der Tiefe, was sich nicht ausdrücken lässt. Patou, der jüngste und wendigste Kletterer der Gruppe, hat den Gipfelanstieg ausfindig gemacht. Zwei volle Stunden verweilen wir auf der schneebedeckten Plattform, um mit Aug und Herz die Vollkommenheit des Augenblicks in uns aufzusaugen; dann machen wir uns im diffusen Abendlicht an den Abstieg. Äusserst vorsichtig geht 's hinunter zum Caribou-Gletscher. Der von den Seilen ausgelöste Steinschlag hält uns noch lange in Atem. Auf dem Gletscher überfällt uns dann aber buchstäblich eine Betäubung, was allerdings verständlich ist; sind wir doch seit 24 Stunden auf den Beinen! Erschöpft vor Anstrengung und Freude, wanken wir zu unsern Zelten am Summit Lake. Noch ein letztes Mal wenden wir unsere Augen unserem Gipfel zu, während er sich im ersten Licht des Morgens vergoldet.
Damit haben wir unsere achte Besteigung abgeschlossen.
Am andern Morgen empfangen wir unsere vier Freunde, die von der Tête Blanche zurück sind. Unser letzter Abend am Summit Lake wird ein richtiges Fest. Hans-Peter erzählt von seinen Abenteuern am Everest, am Huascaran, von seinen Erfahrungen mit den Sherpa, den Indern und Eskimos. Leise, ganz leise verklingt der Abend. Wie wohl tut die Wärme des Feuers! Ich fühle mich von einer Last befreit: alle meine Freunde sind hier versammelt, und wir haben praktisch alle Pläne verwirklichen können. Da wäre allerdings noch der Odin zu bezwingen, doch sowohl Lebensmittel wie Kräfte sind beinahe erschöpft. Zudem beschliessen wir, zuerst nach Windy Lake und nachher nach Overlord abzusteigen. Dann laden wir die nun etwas kleineren Lasten auf den Rücken. Während der Nacht trübt es etwas ein, und schliesslich räumen wir das Basislager bei Regen. In einer einzigen und kräfteraubenden Ladung schaffen wir das gesamte Material nach Overlord. Das heisst sechs Stunden zermürben- des Abmühen; doch am Ende dieses dornen-reichen Weges locken Tafelfreuden und Duschen! Und tatsächlich landen wir am darauffolgenden Tag mit unsern 23 Frachtstücken am Strand von Pang. Den Lebensmittelladen von Bay plündern wir buchstäblich aus. Was darauf folgte, brauche ich wohl kaum zu berichten...
Übersetzung Rina Vögeli