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Eine Wanderung von Bex nach Sitten über den Mont Anzeindaz im Jahre 1786

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im Jahre 1786

VON DANIEL RUCHET, MONTREUX

Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wurden auch die Kantone französischer Zunge von der Bergverehrung erfasst, deren Pflege bis dahin mehr auf die deutsche Schweiz beschränkt war.

Der erste Bergsänger der welschen Schweiz war Dekan Bridel. Ohne ein grosser Schriftsteller zu sein, war er es dennoch, welcher in der französischen Schweiz eine Alpenliteratur gründete, die später hervorragende Vertreter aufwies.

Philippe-Sirice Bridel wurde 1757 in Begnins, im Kanton Waadt, als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte in Lausanne, wo er sich bald mit Literatur und leichter Dichtung befasste. War sein Stil noch dem Jahrhundert Voltaires verpflichtet, so weitete sich seine Eingebung sehr bald aus: 1786 wurde er Pfarrer der französischen Kirche in Basel und kam so in Kontakt mit der deutschen Schweiz, die ihm bis dahin noch unbekannt geblieben war. Er trat in die Helvetische Gesellschaft ein, wo er mit den besten Kreisen Beziehungen aufnahm, und sein Horizont, zuvor auf die Gestade des Genfersees beschränkt, erfasste nun das ganze Alpengebiet. 1796 wurde er Pfarrer in Château-d'(Ex und dann in Montreux, wo er während 40 Jahren bis zu seinem Tode wirkte.

Bridel machte sich überall, im Pays d' Enhaut wie auch an den Ufern des Genfersees, zum Apostel des doppelten Unterrichts: Reisen und Studium der Geschichte. Die Zeitschrift « Le Conservateur suisse » ( eine 1783-1831 weit verbreitete Zeitschrift ) half ihm, diese Methode zu verbreiten.

Das Thema der Alpen nahm in dieser Zeitschrift einen grossen Raum ein. Der Dekan empfahl der Jugend Fusswanderungen, die er auch selbst bis in sein höchstes Alter durchführte. Er durchwanderte das ganze Land vom Jura bis Schaff hausen, von Basel bis ins Wallis. Er interessierte sich besonders für das Greyerzerland, das Pays d' Enhaut und das Wallis. Er unternahm keine Wanderung, ohne nachher darüber im « Le Conservateur suisse » zu berichten. Als guter Beobachter beschreibt er mit Genauigkeit und sammelt auf dem Wege Angaben über Geschichte und Legenden, ohne dabei die beiden streng auseinanderzuhalten. Nach dem Beispiel Hallers, für den er eine grosse 1 Im Moment, da ich mein Manuskript abliefere, stosse ich auf einen Artikel von Dr.Ed.Wyss-Dunant in den « Alpen » ( 1958, S.77/78 ), in dem er von Guido Rey Abschied nimmt. Er berichtet über seinen Besuch bei dem grossen Alpinisten in seinem Chalet in Breuil und erwähnt einen Wunsch des Greises: « Er, der in einem so vollkommenen Stil zu schreiben verstanden hatte, deutete seine Hoffnungen auf eine neue literarische Form an. Er glaubte, einen jungen italienischen Bergschriftsteller zu kennen, dem es gelingen sollte, das Matterhorn noch zu verherrlichen. Als ich später das Buch von Mazotti .Letzte Siege am Matterhorn'las, glaubte ich, verstanden zu haben, dass dies das Werk war, auf das Guido Rey gehofft hatte. » Bewunderung an den Tag legte, botanisiert er, interessiert sich für die Statistik und stellt Betrachtungen über Moral und sogar über Grammatik an. Vor allem aber liebte er die Berge. Diese Liebe belebt seine etwas veraltete Sprache, und so ist, allem Fortschritt von Zeit und Wissenschaft zum Trotz, der « Conservateur » auch heute noch eine angenehme Lektüre.

Kürzlich hatte ich Gelegenheit, den Band des Jahres 1813 zu durchblättern. Mit grosser Freude entdeckte ich zwischen anderen Artikeln, von historischem Interesse, auch einen Bericht des Dekans über eine Wanderung, die er 1786 ausgeführt hatte, mit dem Titel: Fusswanderung von Bex nach Sitten über den Mont Anzeindaz. Nicht ohne Rührung vertiefte ich mich in diese vergilbten Seiten und erlebte diese Wanderung vor 179 Jahren. Ich kenne diese für die Alpinisten des « Mittelgebirges » klassische Route persönlich. Gewiss hat sich die Gegend seither nicht verändert. Die gewundenen Pfade sind dieselben, nur stehen da und dort einige Berghütten mehr.

Für den Dekan jedoch war diese Wanderung ein Vorstoss ins Unbekannte, der Besuch einer Gegend, die bisher für die Bewohner der Ebene verschlossen geblieben war. Zweifelsohne brauchte er dazu mehrere Tage, denn kein Bericht von irgendwelchem Lokalinteresse wurde von ihm vergessen. Legende, wahrheitsgemässe Chronik, naturwissenschaftliche Exkurse, alles dies findet sich kunterbunt auf diesen wenigen Seiten, so recht um in uns Abgestumpften wieder die Lust am alpinen Abenteuer zu erwecken. Lassen wir hier den Dekan selbst sprechen:

« Ich war in Bex... Ich hatte die majestätischen Ruinen seines alten Schlosses besucht, den eigentümlichen See von Luisel, den romantischen Zusammenfluss der Rhone und des Avançon, die Brücke von Saint-Maurice, deren Abtei und seine Einsiedelei, die zur Salzgewinnung bestimmten Gebäude; es blieb mir nur noch, diesen berühmten Mont Anzeindaz zu besuchen, von dem ich so viel sprechen gehört hatte, und ich machte mich zu diesem Zweck auf den Weg. » Es folgen einige Hinweise der Beschreibung der beiden möglichen Wege: entweder von Les Plans das ganze Vallon de la Vare aufsteigend über den Col des Essets oder von Gryon ausgehend über Solalex, um Anzeinde zu erreichen.

Er spricht auch vom Pfarrer Decoppet von Gryon, « dessen Freundschaft mir immer ehrwürdig und kostbar bleiben wird, und der mich mehr denn einmal unter seinem gastlichen Dach empfing ». In der Tat führte der Dekan seine Wanderung mit diesem Pfarrer aus. Ein bisschen Mediziner, behauptet er, das Klima von Gryon habe einen wohltätigen Einfluss auf Personen, die an Wallungen, Hypochondrie und Wechselfieber leiden, und die beste Heilmethode sei ein Aufenthalt in den Bergen während der schönen Jahreszeit.

Dann beginnt die Reise. Man durchquert die Ebene von Cergnement und von Solalex. Auf dem Plateau von Anzeinde angelangt, begeistert sich der gute Dekan für das geruhsame Leben der Hirten, die « abgeschnitten vom Rest der Welt, ihre Tage mit dem allmorgendlichen und abendlichen Kuhmelken, Käsen, des Reinigens des Milchgeschirrs und mit Holzen verbringen. Trotz all dieser Arbeiten haben sie immer noch Zeit zur Lektüre und zum Gespräch und interessieren sich für die genaue Beobachtung von Naturereignissen, deren Zeugen sie oft sind ».

Weiter spricht der Dekan von Geologie: er hat an der Quelle des Avançon und in seiner Umgebung versteinerte Muscheln gefunden. « So etwas würde im Jura nicht erstaunen, aber hier in den Alpen, auf so grosser Höhe, ist das Vorhandensein dieser Medaillen der Sintflut etwas Ausserordentliches. Ich überlasse es unseren Naturwissenschaftern, darüber zu entscheiden, ob sich in der Nähe Spuren von Lava und eines ehemaligen Vulkans befinden und ob es unter den Felsen der Diablerets tatsächlich Schichten von Steinkohle gibt. » Die tollsten Vermutungen schwirren im Kopfe des Dekans herum, die Theologie dirigiert die grossen Naturereignisse; immerhin hat die moderne Geologie einiges von diesem Durcheinander bestätigt. Mein Dekan, Ihre Steinkohle existiert tatsächlich in den Diablerets! Der « Pointe de la Houille » genannte kleine Gipfel, führt er nicht eine Kohlenschicht, die sogar vor einigen Jahrzehnten durch mutige Pioniere ausgebeutet wurde! Was die Sintflutmedaillen anbetrifft, so ist zu sagen, dass sich zu jener Zeit noch niemand klar war über den Prozess der Bildung von Fossilien. Der Dekan aber, und dies mit Grund, war Anhänger des schweizerischen Wissenschafters Scheuchzer, welcher ein Verfechter der Theorie der sintflutlichen Fossilienbildung war. Dieser hatte 1726 in den Steinbrüchen von Oeningen ein merkwürdiges Skelett gefunden und hatte sich beeilt, dasselbe als ein « seltenes Denkmal der verdammten menschlichen Rasse der ersten Welt » hinzustellen. Er verfasste im selben Jahr einen Bericht, welcher grossen Widerhall fand. Die Wissenschafter mussten ihn zur Kenntnis nehmen, und die Kirche erklärte, nun könne man endlich die Behauptungen der Bibel beweisen. Siebzig Jahre später aber bemerkte man, dass dieses Skelett eines « Sintflutmen-schen » die Überreste eines riesigen Salamanders waren...

Diese kleine Geschichte erklärt die Geistesverfassung, mit der der Dekan diese Meerfossilien handhabte, ohne dass er zu vermuten wagte, die schöne Hochebene von Anzeinde sei vor fünfzig Millionen Jahren von einem tropischen Meer überflutet gewesen.

Dann gelangen unsere beiden Wanderer zum Ende von Anzeinde, « wo sich die Grenze zwischen den beiden Republiken Bern und Wallis befindet; diese wurde nicht von Menschenhand geschaffen und kann auch nicht von ihr verschoben werden. Eine Felswand bildet die Grenzlinie.Vom höchsten Punkt dieser Grenzlinie steigt man über einen Pfad, der überall sonst als Abgrund bezeichnet würde, in ein tief eingeschnittenes Tal, wo sich die Hütten der Walliser Sennen befinden. » Nach den Aussagen des Dekans sind die Waadtländer Chalets im Vergleich dazu die reinsten Paläste, denn die Walliser Sennen wohnen unter Obdächern, die so niedrig sind, dass man sie nicht einmal aufrecht betreten kann, und diejenigen, welche auf ihrer Lagerstätte eine grobe Decke haben, gelten als verwöhnt... Das war im Jahre 1786.

Dann eröffnet sich vor den Augen unserer Wanderer der Talkessel von Derborence, der durch den schrecklichen Bergsturz von 1714 einen traurigen Ruhm erlangt hatte.Von der gewaltigen Masse des Gerölls sprechend, « der Beschreibungskunst eines Dante würdig », erzählt der Dekan den Hergang der Katastrophe in allen Einzelheiten.

Ich nehme an, es sei nicht nötig, bei dieser Beschreibung eines in unserem Land allgemein bekannten Ereignisses zu verweilen. Während seiner ganzen Erzählung bleibt er bei der Wirklichkeit, denn er hatte verschiedene Handschriften von Leuten der Gegend zur Hand. Schlimmer wird es dort, wo er zur Geschichte von dem Sennen kommt, der durch den Bergsturz verschüttet und in wunderbarer Weise dank dem Verkeilen von zwei enormen Felsblöcken genau über seiner Hütte am Leben geblieben sein soll ( Gegenstand des Buches von Ramuz « Derborence » ). Danach soll der Verschüttete nach drei Monaten hartnäckiger Anstrengungen, sich von seinem Käse nährend und das einsickernde Wasser trinkend, sich einen Ausgang ins Freie verschafft haben, worauf er am Heiligen Abend in sein Dorfe Avent zurückgekehrt sei, zum grossen Schrecken seiner Frau und seiner Mitbürger. Der Gerettete soll furchtbar ausgeschaut haben, bleich, abgemagert, mit zerzausten Haaren und mit Lumpen bekleidet.

Die Urkunden jener Zeit sagen jedoch nichts über eine solche wunderbare Rettung; um 1780 tauchte diese Geschichte zum erstenmal auf und wurde in der Folge ausgesponnen und mit Einzelheiten versehen. Der gute Dekan Bridel trug nicht wenig dazu bei, sie zu verbreiten!

über die Ursachen der Katastrophe wurde lange gestritten. Die waadtländischen Nachbarn, die nichts für Mysterien übrig hatten, gaben als Erklärung: das kommt daher, dass die Diablerets aus verschiedenen Schichten abwechslungsweise von Fels und von Erde bestehen und die Schmelz- wasser der Gletscher die eine Schicht auf der anderen zum Abgleiten gebracht hätten. Wir wissen heute, dass die moderne Geophysik den Bauern von Bex und Gryon zum Teil recht gibt. Die Walliser Bergler, weniger wissenschaftlich, behaupteten dagegen mit Überzeugung, dass der Bergsturz das Ergebnis eines langen Streites zweier sich bekämpfender Parteien gewesen sei: die eine bemühte sich, den Berg auf die Walliser Seite zu stürzen, die andere auf die Berner Seite. Die WalliserTeufel zogen den kürzeren. Die Sennen wurden in ihrer Ansicht bestätigt durch einen Jesuiten von Sitten, der sich bereit erklärte, nach Derborence aufzusteigen, um die durch ihren Sieg stolz gewordenen Berner Teufel wieder auszutreiben, damit sie nicht noch einmal Unheil anrichteten...

Nach der Austreibung gab es drei Jahrzehnte Ruhe. Während des Sommers 1749 jedoch hörten die Sennen ein dumpfes Grollen, das aus dem Inneren des enthaupteten Felsens ( Sex décapité ) kam, und Blöcke rollten den Hang hinunter. Diesmal zauderte man nicht lange. Ohne Diskussion machte sich jeder auf den Weg in die Ebene, den Teufeln das Feld zur Erledigung ihrer ewigen Streitereien überlassend. Sie taten gut daran, denn kurz darauf stürzte der verfluchte Fels ( Sex maudit ) an seiner Basis ab, die Zwischenräume des ersten Bergsturzes mit Geröll auffüllend.

Ferner beschreibt der Dekan den lieblichen See von Derborence: « Kein Geograph kennt diesen See, denn nichts ist weniger besucht als die von mir beschriebene Gegend... Einige Hirten der umliegenden Berge, einige Gemsjäger, einige Schmuggler sind die einzigen, die diese düstere Landschaft durchwandern. Keiner der Reisenden, die unsere Heimat durchqueren und sie so leichthin beschreiben, keiner der Maler, die nicht aufhören, Schweizer Bilder zu malen, keiner jener Naturforscher, die, der Mode des Tages folgend, Systeme über die Entstehung der Berge gebären, die überall Vulkane suchen und sie auch finden, ist je am Ufer des Sees von Derborence gewesen... » Es folgt der Abstieg zur Rhoneebene. Das erste Dorf, das den beiden Wanderern erscheint, ist Avent, wo der Dekan den Wein trinkbar, das Roggenbrot schmackhaft und die Früchte und den Käse als reichlich vorhanden findet. Immerhin stösst er sich an etwas: die äusserste Unreinlichkeit der Kleidung und der Häuser der Bewohner des Ortes. Nach ihm sind die Nahrungsmittel kaum appetitlich. Die Dorfbewohner machen sich erst über ihre Vorräte an Fleisch und Butter her, wenn sie diese den Würmern streitig machen müssen...

Von Avent gelangen unsere Wanderer in drei Stunden nach Sitten, sehr fruchtbare Rebberge durchquerend. Sie entdeckten die Ruinen von zwei Schlössern, die in einer Zeit Berühmtheit erlangten, wo die Freiheit gegen die Feudalunterdrückung kämpfte. Mehrmals abgebrannt, wurden sie jeweils wieder aufgebaut durch das Volk, die Bischöfe und den Adel. Jetzt bieten sie nur noch Gemäuer und Erinnerung. Diese Burgen sind Séon und Montorge. Der Dekan widmet ihnen eine volle Seite Walliser Geschichte, die das feurige Temperament der Walliser hervorhebt.

Man kann sich die beiden Bergwanderer sehr gut vorstellen, wie sie in die Stadt Sitten einmarschieren, auf staubigen Strassen einherschreitend und die damals noch unversehrten Schlösser Valére und Tourbillon bewundernd. Der Dekan erzählt sogar den Besuch des Schlosses Tourbillon, wo er weite Wohnungen besichtigt und Gemäldesammlungen bewundert. Er vergisst nicht, von den Abenteuern des bekannten Kardinals Matthäus Schiner, Unruhestifter seines Landes und der ganzen Schweiz, zu erzählen, der 1522 gestorben ist.

Am 4. Mai 1788 zerstörte eine grosse Feuersbrunst den grössten Teil der Stadt, den Bischofs-palast und das Schloss von Tourbillon mit seinen Archiven. Die Streifzüge und die Beschreibung des Dekans stammen von einer Zeit vor diesem Unglück, aber er kann dennoch nicht umhin, darauf zu sprechen zu kommen. Nicht vom Mitleid oder Bedauern bewegt, sondern um Kritik zu üben, die übrigens berechtigt erscheint: « Man hätte an den Pumpen arbeiten sollen, statt Prozessionen zu veranstalten. Man hätte Wasser ins Feuer werfen müssen und nicht die Heiligen, die in unserem Jahrhundert das Feuer nicht mehr löschen, man hätte die der Stadt zu Hilfe eilenden Bauern ermutigen müssen und ihnen danken sollen, statt sie zu misshandeln, und alles wäre besser gegangen. » Mit diesen moralischen Betrachtungen beschliesst unser Pfarrer seinen Bericht. Teilweise lustig, teilweise durch eine etwas verwirrende Aufzählung von Einzelheiten ergreifend, bleibt er auch heute noch lebendig.

Tatsächlich und glücklicherweise für uns hat die Vergangenheit ein zähes Leben. Trotz fortschreitender Zeit bleibt sie durch alte Schriften und Berichte längst dahingegangener Männer erhalten. Hie und da findet man sie zerstreut an vielen Orten. Man begegnet ihr noch in unsern Tagen in althergebrachten Sitten und Gebräuchen, wo sie einen kontrastreichen Widerspruch mit der allzugut organisierten Gesellschaft unserer Zeit und ihrem Wahn der Geschwindigkeit darstellen.

( Übersetzung Nina Pfister )

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