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Eine Überschreitung der Aiguille Verte

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Mit 2 Bildern und 1 Zeichnung.Von Adolf Voegeli.

Von der Terrasse auf Montenvers blickt man auf das Mer de Glace. Wie ein riesiger Strom wälzt sich die graue Eismasse daher. Vor zwei Jahren haben wir sie weiter oben betrachten können, dort, wo sie noch weiss und jungfräulich ist, von den Gletscherdomen des Mont Blanc in munteren Sprüngen in die Täler hinabstürzt, sich dann durch den Engpass von Les Moulins hindurchzwängt und hohe Wellen wirft. Jetzt sehen wir denselben Strom, wie er in geglätteten Wogen auf Montenvers zufliesst, um sich von hier in wilden Seraks über die Talschwelle hinabzuwälzen und im Reiche anmutiger Weiden, Matten und Blumenwiesen aufzulösen.

Vom blendendsten Sonnenschein überstrahlt, glänzt im Hintergrund die Aiguille du Tacul. Wie ein blaues Tuch spannt sich der Himmel über der Eis- und Felslandschaft aus. Wir haben uns nun auf den Weg gemacht, und die scharfen Nägel beissen kräftig in die erstarrten Eiswellen. Hinauf und hinunter schleppen wir unsere Körper, die, vom Rucksack beschwert und gehemmt, schwerfällig über Spalten setzen. Manchmal überschreiten wir auch kleine Eisgrätchen, tappen in Wasserlachen, sinken im weichen Schnee ein, bis die Uhr endlich wieder eine Rast anzeigt. Dann lassen wir uns energielos auf einen Felsblock nieder, lösen die Riemen und schöpfen Atem.

« Ein Fluch ist doch das Bergsteigen », denkt jeder für sich. Aber keiner von beiden wagt es, diesen Gedanken laut werden zu lassen. Weder der eine noch der andere möchte es wahr haben, dass er solche Gedanken denke und sich vorstelle, wie schön es jetzt wäre, zu Hause im leichten Sommerkleid herumzuschlendern, in den Badehosen am Strande zu liegen, beim Fischen geniesserischer Ruhe zu pflegen oder sonst einem leicht erreichbaren Vergnügen nachzugehen.

Im Banne dieser ketzerischen Gedanken nehmen wir indessen die Säcke wieder auf, und nach wenigen Schritten biegen wir um eine Ecke. Eine Wand von wundersamer Schönheit enthüllt sich uns. In ihrer ganzen Grosse, ein Bild strahlender Herrlichkeit, strebt sie gen Himmel. Viele sind ihren Lockungen schon zum Opfer gefallen, aber das tut ihrem Glanz keinen Eintrag. Denn die Nordwand der Grandes Jorasses kennt kein menschliches Rühren, sie ist wie die Zauberin Circe, sie lockt und lockt und tötet schliesslich den Freier, um alsdann von neuem ihre Reize zu entfalten und ihre Netze auszulegen. Kaum wagen wir, hinzublicken. Wir haben Angst, ihren Versuchungen nicht widerstehen zu können. Doch steht unser Sinn nach anderem. Und so eilen wir weiter, dem Refuge du Couvercle zu.

Der Wecker rasselt mitten in der Nacht. Es ist stockdunkel, wie wir vor die Hütte treten, und gleich gespensterhaften Gestalten heben sich die Umrisse der Berge vom schwarzen Himmel ab. Nach kurzem Anstieg können wir schon die Steigeisen anziehen, ihre scharfen Zacken bringen uns rasch den Gletscher hinan. Wir überschreiten einige riesenhafte Spalten und stehen bald am haltgebietenden Bergschrund. Hin- und herlavierend arbeiten wir uns in ihm hinauf, erklimmen ein Felswändchen und stehen alsdann an einer Firnwand, die uns fast senkrecht vorkommt. Doch wissen wir, dass dies eine Die Alpen — 1939 — Les Alpes.33 Täuschung der Nacht sein muss, und so nehmen wir das Hindernis ohne Zögern in Angriff. Es geht auch, obwohl die ersten Meter schwierig sind. Atem schöpfend stehen wir bald auf der Kante und betreten dann ein Schuttband, auf dem es nun mühelos in die Höhe geht. Wir frohlocken und werden übermütig.

Aber mit einem Male wird die Sache ernster. Ein steiles Couloir zieht sich wie ein silbernes Band die Wand hinauf. Wir müssen sorgfältig auf das Gleichgewicht achtgeben, was im obern Teil des Couloirs, wo die Steilheit am grössten, gar nicht so einfach ist. Zumal die Arbeit immer mühsamer wird, da nun auch blankes Eis zutage tritt.

Schliesslich liegt aber diese Stelle hinter mir, und ich will eben meinen nachkommenden Kameraden sichern, als ein Schrei ertönt. Ich schaue hinab. Mein Begleiter ist von einem grossen Stein an den Kopf getroffen worden, er klammert sich an einen Felsen, um in der Halbbetäubung nicht zu stürzen. Seine Schläfe ist voll Blut, und er findet nur allmählich seine Sinne wieder.

Nun geht es nicht mehr so gut wie vorher. Mein Seilgenosse steigt nicht mehr sicher, öfters schwankt er, und wir haben Mühe, die letzten dreissig Meter dieser glatten Rinne, wo gegenseitige Unterstützung fast nicht möglich ist, zu erklimmen. Aber es geht schliesslich, und wir erreichen einen kleinen Sattel.

Dürfen wir wohl den Anstieg fortsetzen?

Nach längerer Rast entscheiden wir uns für die Wiederaufnahme der Besteigung. Also laden wir die schweren Säcke wieder auf und gehen weiter, nicht ohne von einem unangenehmen Gefühl der Unsicherheit begleitet zu werden.

Schliesslich weicht aber die Mißstimmung, und wir winden uns wieder in besserer Form über Felsstufen hinauf, deren Höhe und Steilheit oft zum Aufhissen der Säcke nötigt. Nach einer Weile betreten wir eine kleine Plattform, die den Zugang zu einem gut fünfzehn Meter hohen Kamin vermittelt. Dieser sieht ganz ähnlich aus wie der Mummeryriss am Grépon, doch ist er etwas kürzer und, wie die Erfahrung lehrt, auch weniger mühsam. Rasch komme ich voran und erreiche wenige Meter unterhalb des obern Kaminendes einen eingeklemmten Block. Hier schöpfe ich Atem, dann setze ich zu einem Knickstütz an und eins — zwei — drei bin ich auf der luftigen Kanzel oben.

Ich habe geglaubt, den Hauptgrat erobert zu haben. Aber damit ist es nichts. Noch versperrt ein glatter Eckpfeiler den Zugang, und umsonst versuchen wir unsere Kunst, seine Erkletterung will uns nicht gelingen. Wohl zwanzigmal werfen wir das Seil vergeblich in die Höhe, es will sich am Zacken nicht verfangen.

Schliesslich wird mir die Geschichte zu dumm, behutsam quere ich den glatten Pfeiler auf nußschalengrossen Tritten. Und wie ich um die Ecke biege, da lacht mein Herz: Ein Band, breit wie eine Strasse, liegt vor mir, und in fröhlicher Bummelkletterei steigen wir vollends auf den Moinegrat.

Nun können wir dem Grate folgen. Wir haben ihn wohl recht weit oben erreicht. Denn der Kampf dauert schon neun Stunden, und so sind wir wohl nicht mehr allzuweit vom Gipfel entfernt. So denken wir uns die Sache wenigstens und eilen zuversichtlich und mit neuem Schwung den Grat hinan. Es geht erst ganz leicht, dann kommen aber hohe Stufen, und die weitere Fortsetzung ist eine Hangquerung in faulem Schnee unter einer überhängenden und drohenden Gwächte. Während wir die Stufen treten, blicken wir unentwegt zur Gwächte hinauf, ob sie wohl halten und ein Einsehen haben werde. Und sie zeigt sich auch von der wohlwollenden Seite, während der Schnee, auî dem wir stehen, immer gemeiner und unsicherer wird. Schliesslich geht er sogar in blankes Eis über, was uns einerseits recht ist, andererseits aber infolge Hackarbeit den ungemütlichen Aufenthalt unter der faulen Gwächte ungebührlich verlängert; zuletzt gebietet uns eine grifflose Rippe halt. So bleibt uns nichts anderes übrig, als senkrecht hinaufzuhacken und der Gwächte direkt zu Leibe zu gehen. Zuoberst muss ich den Sack ablegen, um mich dem Überhang nähern zu können. Langsam, ganz langsam schiebe ich mich in die Höhe. Es ist schwer, das Gleichgewicht zu halten, denn der Überhang drückt mich nach aussen. Tief bis zu den Ellbogen muss ich die Arme in den faulen Gwäch-tenschnee bohren. Aber ich arbeite mich weiter und weiter vor und erreiche schliesslich die Stelle, wo der Durchschlupf auf die andere Seite gelingen könnte.

Nun saust der Pickel. Schnee und Eis stürzen in endlose Tiefe. Dafür tut sich eine Bresche im Grate auf, erweitert und vertieft sich zusehends unter den Pickelschlägen und ist endlich gross genug, um einem Mann den Durchpass zu gewähren. Wieder bohre ich die Arme tief in den trügerischen Schnee, mache dann einen Knickstütz, zwänge die Beine durch die enge Bresche und lasse mich jenseits auf ein Felsköpfchen hinuntergleiten.

« Wir sind drüben, in Sicherheit, wir haben es geschafft », jubelt es in mir, dieweil mein Kamerad langsam nachkommt.

Die Szenerie hat sich nun völlig verändert. Wir sind auf der Charpoua-seite. Schlank stehen die beiden Drus vor uns, fast senkrecht liegt in der Tiefe der zerklüftete Gletscher, und rechter Hand schwingt sich die imposante « Arête sans nom » zur Aiguille Verte hinauf. Wie ein Idyll ruht inmitten der grandiosen Wildnis das Refuge Charlet in der Sonne.

Doch wir dürfen uns nicht lange in die Betrachtung der Natur versenken, wir müssen weiter, die Zeit ist fortgeschritten. Und wenn wir glaubten, der Gipfel sei nahe, so müssen wir nun bald erkennen, dass wir uns getäuscht haben. Denn immer wieder, mindestens ein dutzendmal, wiederholen sich diese Grat- und Gwächtenübergänge, und jedesmal sind wir von neuem erstaunt, wenn wir einen Grataufschwung erklommen haben und der Gipfel immer noch nicht zu sehen ist. Die Unsicherheit des Manöverierens in dem bedenklichen Schnee geht uns allmählich auf die Nerven, und wieder nahen ketzerische Gedanken. Doch wir kämpfen sie nieder, denn wir haben uns das Ziel gesteckt, den Gipfel zu erreichen, und wir wollen nicht nachgeben. Also arbeiten wir uns weiter in die Höhe, steigen über Balkone, Türmchen, Gendarmen und durch nasse Risse hinan, dann über schmale Grätchen, die teils aus Apfel-musschnee, teils aus einem Filigranwerk von zarten Eislamellen bestehen. Oft ist der Stand denkbar unsicher, nicht selten brechen die Eisgebilde unter der Last unseres Körpers zusammen.

Es ist schon spät am Nachmittag, als sich der letzte Gratturm beugen muss und wir mit einem Male einer majestätischen Eispyramide gegenüberstehen. Diese grandiose Gestalt kann nur das Haupt der Aiguille Verte sein. Endlich steht sie vor uns in Riesengrösse und prachtvollem Ebenmass. Von Ehrfurcht erfüllt, betrachten wir den gleissenden Eisdom, der sich hell und klar zum blauen Äther aufschwingt, alsdann eilen wir über die Kante dem Gipfel zu. Nachdem die letzten Pickelhiebe verstummt sind, kommt mein Freund auf mich zu, wir blicken einander in die Augen und schütteln uns kräftig die Hände. Endlich ist die Aiguille Verte 4127 m unser.

Fünfzehn Stunden hat der Aufstieg gedauert, aber wir verspüren keine Müdigkeit. Federleicht erscheint uns der Körper, während wir in die Tiefe schauen und die Wunderwelt betrachten, die unter uns versunken ist.

Ich schaue auf die Uhr. Es ist 6 Uhr abends. Von drüben winkt die Grande Rocheuse. Wir jauchzen ihr zu. Heute nicht mehr, aber vielleicht morgen.

Dann steigen wir in die Flanke ein. Eis mit nassem Schnee von mindestens 50 Grad Neigung stellt unsere Geduld und Vorsicht auf die letzte Probe. Selbst auf den frischgeschliffenen Steigeisen rutschen wir mitunter 20-30 Zentimeter weit. Aber Stufen schlagen wir nicht. Das muss ohne sichere Badewannen gehen. Denn wenn wir das nicht können, dann ist es mit einer Überschreitung ohnehin nichts.

Freilich, froh sind wir, als wir auf dem ersten sichern Felsband stehen. Nun können wir ruhig weiterklettern und finden bald ein geschütztes Plätzchen, das wir zu unserm Ruheplatz für die heutige Nacht auswählen.

Aus der Thermosflasche trinken wir einen heissen Schluck Tee, und wohlige Wärme durchrieselt unsere Körper. Aber die Finger bleiben starr von der vielen Eis- und Schneearbeit, und nach dem Trunk lasse ich den Becher fallen, er hüpft in muntern Sprüngen die Flanke hinunter und entschwindet unsern Blicken. Nicht besser geht es mir mit dem Hut. Auch er fliegt in die Tiefe, aber langsam und gemessen, wie es einem stolzen Bergsteigerhut geziemt. « Heute darf ich nichts mehr anrühren », sage ich zu meinem Begleiter, « bei mir steht 's auf Nidsigends, andernfalls müssen wir vielleicht noch im Hemd biwakieren. » So überlasse ich meinem Kameraden das Weitere. Wir geniessen mit einem barbarischen Hunger die nahrhafte Suppe. Und bald ist uns recht behaglich zumute, wenn wir auch mit leicht gemischten Gefühlen der Nacht entgegensehen und uns fragen, wie wir sie in einem ungefütterten Sack aus Billrothbattist ohne jede andere Schutzhülle auf 4000 m überstehen werden. Aber die letzten Nächte waren milde, schliesslich wird es ja auch wieder Tag werden, und die Sonne wird unsere starren Glieder von neuem geschmeidig machen.

So rauchen wir frohgemut unsere Pfeifen. Bald fangen wir aber an zu frösteln. Denn es wird mit der hereinbrechenden Nacht recht kalt. Wir drücken uns so tief als möglich in die Nische, nachdem wir uns vorsichtigerweise angeseilt und auch Rucksäcke und Bergschuhe hieb- und stichfest angebunden haben. Handschuhe und Seil legen wir auf den Boden und setzen uns darauf, um vor der untern Kälte etwas geschützt zu sein; der Zeltsack wird wenigstens den Wind abhalten, das übrige müssen wir dem Gutdünken der Elemente überlassen.

Wir blicken noch einmal zur weissen Zinne hinauf, dann hinüber zum trutzigen Bau der Grande Rocheuse, hierauf lassen wir den Blick nach Norden schweifen zur Aiguille de Talèfre, von wo er fast von selbst weitergleitet zur unvergleichlichen Felsbastion der Grandes Jorasses und alsdann zum Mont Blanc, der eben ein letztes Mal in der untergehenden Sonne golden aufleuchtet.

Dann legen wir uns nieder, die Sinneseindrücke fangen an zu verblassen, und eine Art Halbschlaf bemächtigt sich unser.

Mit einem Male höre ich ein eigentümliches Rollen. Es ist, als ob jemand das Couloir der Nordflanke heraufsteigen würde. Aber nicht mit dem kleinen Schritt eines Menschen, sondern mit dem eines Riesen. Hundert Meter pro Schritt — eins, zwei, drei — jetzt steht er mitten in der Wand — vier, fünf, sechs — nun ist er dicht bei uns.

Huh, huh, huh, pfeift es über uns hinweg. Ein schauerlicher Wind ist aufgestanden und zieht mit seinem Blashorn über Berg und Tal, alle Flanken auskehrend, den Schnee auf den Gräten wegblasend, fällige Lawinen zu Tale fegend. Sein Spiel wird bunt und bunter. Huh, huh, huh gellt es aus dem Loch herauf, huh, huh, huh weht es von den Gräten hinunter.

Bis jetzt waren die Tage auffallend warm und das Wetter unwahrscheinlich schön gewesen. Das Huh-huh-huh will mir nicht gefallen. Wir rücken näher zusammen und ziehen den Zeltsack über den Kopf. Aber wir fühlen den Wind trotzdem, er rüttelt und schüttelt an unserm Sack, er pfeift durch Löcher und Felsen, und über Gräte und Rippen fegt sein durchdringender Atem.

Die Dämmerung hat zugenommen, und die Grande Rocheuse steht nurmehr bleich am nächtlichen Himmel. Sterne funkeln. Mit Heulen und Toben kommt eine dicke Wolkenwand angeschnoben, und im Nu verschwinden die Sterne, verschwindet die Grande Rocheuse, die Aiguille de Talèfre, und vor uns schwebt ein undurchdringliches Wolkenmeer. Dieses Sausen und Brausen und Wolkenschieben rüttelt uns allmählich vollständig wach.

Soll das der Anfang eines Wetterumschlages sein? Das könnte uns hier auf dem Gipfel der Aiguille Verte verhängnisvoll werden.

Diese bösen Gedanken rauben uns für eine Weile den Schlaf Allmählich gewöhnen wir uns aber an das Toben der Elemente, und die Ruhe kehrt wieder bei uns ein. Ja, wir fühlen uns sogar recht gut geborgen in unserm Loch, und bei diesem beruhigenden Gefühle finden wir auch den Schlaf wieder.

Es ist bereits 6 Uhr morgens, als wir endgültig erwachen. Wir kriechen aus dem Schlafsack und spannen ihn zwischen zwei Felsklötzen auf, damit er uns den Wind abhalte. Dann brauen wir den Morgenkaffee. Eine Tasse des heissen, duftenden Getränkes im Magen, und wir fühlen uns wieder prächtig wohl, ja die Unternehmungslust fängt sogar an, sich allmählich zu regen.

Vorerst allerdings können wir derselben nicht freien Lauf lassen, denn wir sehen nichts, aber auch gar rein nichts von den Bergen. Kaum die Hand vor unsern Augen. So schicken wir uns halt darein, das Nebeltreiben um uns her zu betrachten. Nachdem wir dem Wogen nahezu eine Stunde lang zugeschaut haben, zeigt sich allmählich eine deutliche Farbenveränderung in dem grauen Nebelgelichter, und wir haben das Gefühl, dass die Sonne sich einen Weg bahnen wolle. Heller und heller wird es. Dann beginnen sich die Farben zu verwandeln. Das Grau wird zu Blau, das Blau wird ein Gelb, dann bekommt das Gelb einen rötlichen Schimmer, und mit einem Male überfluten helle Sonnenstrahlen das vor uns liegende Riesentheater. Und in uns selbst ist es, als ob ein Feuer entzündet würde, unsere Sinnen erwachen vollends, und wir brennen vor Begierde, bald als Sieger auf dem Gipfel der Grande Rocheuse 4103 m zu stehen.

Doch unsere Freude ist verfrüht. Die Sonne verzieht sich wieder, und von neuem sind wir in Wolken eingehüllt. So haben wir keinen Grund, uns mit dem Frühstück zu beeilen.

Nach einer Weile kommt aber wieder etwas Ordnung in das Wolkenschieben, die Sonne beginnt blassgelb durch den Nebel zu scheinen, dann stösst sie kraftvoll und endgültig hervor und verwandelt den düstern Hexenkessel zum zweiten Male in eine Lichterflut. Oh, wie schön warm scheint sie nun auf uns hernieder, erfüllt uns mit Zuversicht und lässt uns die Unbill der kalten Nacht vergessen!

Bald sind wir marschbereit und eilen dem Grate zu. Wie wir um einen Felsblock biegen, kommen zwei Gestalten, grau verfärbt und mit hohlen Wangen, die Flanke heruntergeschlichen. Es sind zwei Bergsteiger, die auf dem Gipfel von der Nacht überrascht wurden und dort biwakiert haben. Sie haben genug für heute und ziehen sich auf dem kürzesten Wege in die sichere Hütte zurück. Hilfe, die wir ihnen anbieten, weisen sie mit Dank als unnötig ab.

Unsere Kraft ist noch nicht gebrochen. Wir ziehen dem Sonnenschein entgegen und erreichen nach kurzer Zeit den Gipfel der Grande Rocheuse.

Die Landschaft prangt im zartesten Frühlicht. Immer noch hangen Nebelfetzen um die Gräte. Diskrete Lichter spielen um die graugrün und rötlich schimmernden Granitplatten, kleine Wasserlachen auf den Felsen spiegeln die Sonne wieder, und im Tal unten herrscht die Stille eines Sonntagmorgens.

Wir geniessen eine Viertelstunde lang die Pracht um uns. Der Witterungsumschlag scheint überwunden, und der Morgen strahlt in voller Herrlichkeit. So ist es eine erquickende Lust, die Glieder zu recken und zu strecken, bald die Felsen zu umarmen, bald einen kecken Sprung zu wagen und alsdann wieder vorsichtig und behutsam in anschmiegender Kletterei Meter um Meter des abwechslungsreichen Grates zu erobern.

Mittlerweile sind wir über einen Absatz abgestiegen und müssen die Feststellung machen, dass ein Wechsel der Gesteinsschichtung unserer fröhlichen Kletterei ein jähes Ende bereitet. Lose Blöcke mahnen zur Vorsicht. Diese ist um so angebrachter, als es noch kalt ist und viele Steine nur angefroren sind, bei geringer Beanspruchung zwar Festigkeit vortäuschen, bei grösserem Druck aber nachgeben. So zügeln wir unsern ungestümen Mut, winden uns vorsichtig über die trügerischen Blöcke und sind heilfroh, als ein zweiter Absatz einen neuen Wechsel der Verhältnisse ankündigt. Aber wir geraten vom Regen in die Traufe, denn nun sind die Felspartien sogar noch von Schneegrätchen unterbrochen, und der Schnee ist ebenso unsicher und unberechenbar wie am Tage zuvor. Aber auch dieses Stück bringen wir hinter uns und atmen auf, als wir endlich bei den grossen Blöcken anlangen, die unser Auge schon von weitem erspäht und mit Freude betrachtet hat. Nun haben wir wieder sichern Boden unter den Füssen, klettern mit ausholenden Bewegungen über Steilstufen, erklimmen mehrere Gendarmen, zwängen uns durch eine Eisrinne und gelangen so zum dritten Absatz. Hier soll nach dem Führer der schwierigste Teil des Grates beginnen. Nach dem, was wir bereits genossen haben in den letzten dreissig Stunden, ist unser Bedarf aber reichlich gedeckt, und wir brennen keineswegs darauf, weitere Proben technischen Könnens abzugeben. So beschleicht uns ein banges Gefühl, als wir den Eckpfeiler umklettern, das aber im nächsten Moment durch einen Ausruf der Freude gebannt wird.

0h, wie gemütlich schaut der vor uns liegende Grataufschwung aus im Vergleich zu dem, was wir am Tage vorher überwunden haben I Ein scharfes und luftiges, aber anscheinend durchaus sicheres Schneegrätchen führt zur Aiguille du Jardin 4035 m hinüber. Energisch packen wir es an, und schon nach einer halben Stunde ist der Gipfel unser.

Vor 50 Jahren war die Eroberung eines Gipfels ein grosses Ereignis, das man entsprechend feierte. Es wurde eine längere Rast gemacht, abgekocht und mitunter sogar ein Fässchen Wein angestochen. Diese Zeiten sind vorbei, und ich kann mich in den 22 Jahren, da ich zu Berge ziehe, nur eines einzigen Males erinnern, dass auf dem Gipfel der Kocher in Funktion trat.

Eine zweite seltene Ausnahme bietet uns der heutige Tag. Denn es ist noch früh, wir haben Zeit. Das Nachtlager war nicht eines der wärmsten, und der heisse Morgenkaffee duftet noch nach und erregt Gelüste. Also heraus mit dem Kocher. An einer geschützten Stelle wird er in Betrieb gesetzt. Aber ich habe die Stelle schlecht ausgewählt, hinter dem Felsblock klafft eine Lücke, und ein Windstoss wirft die noch leere Pfanne dort hinein. Ein schlürfendes Kollern, und schon sehe ich unter mir das Gefäss in eleganten Sprüngen das Couloir nach Argentières hinabhüpfen.

« Fahre wohl, » denke ich mir, « jetzt wird trocken gegessen. » Doch wie von magnetischer Kraft erfasst, steht das Geschirr plötzlich still. Ich traue meinen Augen kaum, aber es besteht kein Zweifel, die Pfanne steht und glänzt mir einladend entgegen. " Wir knüpfen beide Seile zusammen, dann lasse ich mich über Felsen hinunter, steige zwanzig Meter im Couloir ab, und das Gefäss, das in eine Vertiefung geglitten war, ist wieder in meinem Besitz. So ist dann aus dem warmen Tee doch noch etwas geworden.

Nach einiger Zeit erblicken wir auf dem Schneegrate eine Dreierpartie, die wir kurz nach unserm Aufbruch schon auf dem Gipfel der Verte gesehen hatten. Ein bekannter französischer Alpinist führt sie, auch ein Mitglied der französischen Himalajaexpedition ist dabei. Der dritte Mann scheint etwas weniger erfahren zu sein, und so kommt die Gruppe nur langsam vorwärts. Obwohl sie kurz nach uns aufgebrochen ist, hat sie nun fast eine Stunde Verspätung. Und dies, obwohl wir durch Hackarbeit manche wertvolle jMinute verloren und keineswegs so vorzüglich biwakiert haben wie die mit allen Schikanen ausgerüsteten Franzosen. Als sie in unsere Nähe kommen, sind wir überrascht, wie die beiden erstklassigen Alpinisten rücksichtsvoll mit ihrem weniger geübten Kollegen umgehen, um dessentwillen die Verspätung entstanden ist. Ein schönes Beispiel echt kameradschaftlicher Gesinnung.

Kurz nach dem Eintreffen der zweiten Partie erschüttert ein Donnerschlag die Luft. Das Wetter scheint wieder umschlagen zu wollen, und die Wolken, die sich über der Aiguille de Talèfre zusammengeballt haben, verheissen nichts Gutes. Ja, der böse Geist naht mit solcher Schnelligkeit, dass wir uns fragen, ob es nicht besser sei, im Schutze der Gipfelblöcke das Unwetter über uns ergehen zu lassen. Aber man kann nie wissen, wann sich die Schleusen öffnen und wieder schliessen, und so ziehen wir es doch vor, die Zeit vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten noch zu nutzen und möglichst weit abzusteigen, um beim Losbrechen des Wetters dann irgendwo in der Flanke Schutz zu suchen.

So eilen wir, durch die drohende Gefahr um so stärker miteinander verbunden, die Wand und den Ostgrat hinunter. Die Wolken kommen und gehen, mitunter setzt ein kurzdauernder Rieselregen ein, aber das Gewitter geht hauptsächlich über der Aiguille de Talèfre und über dem Mont Blanc nieder. Ohne ernste Belästigung bringen wir an die zwei Drittel des Grates hinter uns. Erst bei der zweitletzten Abseilstelle bricht das Unwetter auch über uns herein mit Blitz und Donner, Riesel und Regen, Sturm und Steinlawinen, Kälte und gefrorenem Abseilseil, so dass wir das Gefühl haben, das jüngste Gericht sei angebrochen und die Mächte der Finsternis möchten uns vernichten.

Freilich, erfahrene Mannen denken nicht schnell ans Kapitulieren. So weichen wir den Steinlawinen aus, indem wir wieder auf den Grat zurückkehren, rutschen am gefrorenen Abseilseil ruckweise hinunter, beissen auf die Zähne, wenn uns der « Kuhnagel » plagt, und tun so, als ob uns der ganze Zauber rein gar nichts angehe.

Dies scheint auf das Unwetter einen guten Einfluss auszuüben. Es ist, als ob es den finstern Gewalten allmählich verleiden würde, Menschen zu belästigen, die sich gar nicht um sie zu kümmern scheinen. So stellen sie allmählich ihre vergeblichen Anstrengungen ein, und wir landen, allerdings durchnässt, mit steifen Fingern und mörderisch frierend, auf einer Schutterrasse dicht unterhalb des Col de l' Aiguille Verte, während sich die Wolken wieder lichten und schon einige Strahlen der Sonne schüchtern hervorgucken. Fast gemütlich können wir nun abwärts bummelklettern. Bald verabschieden wir uns von den Franzosen, wir ziehen dem Refuge du Couvercle zu, sie haben andere Pläne.

Ein steiles Schnee- und Eiscouloir liegt vor uns tief unten erblicken wir den Gletscher, der zur Hütte führt. Bereits beginnt die Dämmerung ihre Schatten zu werfen, und wir haben noch einen weiten Weg. Ich vermute auch noch schwere Arbeit, denn die tückischen Bergschründe des Mont Blanc sind mir von frühern Fahrten her vertraut. Mein Kamerad hingegen ahnt nichts Böses und steigt arglos und ein Liedchen summend ab.

Vorerst geht es auch wirklich gut, nur scheint das Couloir endlos. Ich beschleunige das Tempo, um rasch zum Bergschrund zu gelangen. Sorgfältig mustere ich die Abstiegsroute. Hier im Hauptcouloir dürfte der Bergschrund kaum zu überschreiten sein. So strebe ich linker Hand einer Felsrippe zu, in der Hoffnung, es möge dort besser gehen.

« Was ist denn los », ruft da mein Hintermann ungeduldig, « wir wollen doch nicht mehr auf die Droites? » « Verspüre gar keine Lust dazu », brumme ich in meinen Bart.

Mein Kamerad ist von der Auskunft nicht befriedigt, er flucht und schimpft, zieht einmal kräftig am Seil, um mir die Faxen auszutreiben. Als mich das nicht auf den « rechten » Weg bringt, fängt er an auf echt schweizerisch aufzubegehren.

« Das ist doch dumms chaibe Zug, » meint er, « das Schründli da unne, das nimmt me doch im Schwung! Styg nu sänkrächt abe-n-im Guloar, da wo 's d'Lawine abehaued. Uf em Lawinechegel, da chömmer dann nu so übere-schpaziere. Für was da verfluecht Umwäg? » Dieser Erguss ist wohl eine Folge der langen Anspannung und Anstrengung. Unter solchen Umständen braucht es nur eine kleine Enttäuschung, und die Nerven versagen. Ich weiss, dass es jetzt eine heikle Aufgabe ist, an dieser Stelle über den Weg zu diskutieren. Eine Nuance von Befehlston genügt, um den Widerstand zu reizen, statt die Bedenken zu zerstreuen. Man beisst sich dann leicht in seiner vorgefassten Meinung fest und hat ein Vergnügen daran, dem Kameraden eins auszuwischen. Nicht, dass man ihm übelwollte, nein beileibe nicht. Eher dem Berg, der einen hinaufgelockt hat und nun noch einen gesalzenen Heimweg serviert. Der Ärger darüber ruft aber leicht eine Mißstimmung hervor, die eine Einigung äusserst schwierig gestaltet.

Schliesslich verständigen wir uns dahin, probeweise ins linke Nebencouloir hinüberzuwechseln, doch muss ich meinem Begleiter versprechen, dort vor dem weitern Abstieg nochmals mit ihm zu beraten. Ich willige gerne ein, und so ist die Klippe vorerst glücklich umschifft.

Wie wir ins Couloir einschwenken, verschwindet allerdings die Möglichkeit einer Meinungsverschiedenheit sofort, denn Man sieht nun deutlich, dass diese Rinne gut dreissig Meter tiefer hinabreicht als das Hauptcouloir. So können wir die Diskussion fallen lassen und uns befleissen, so rasch als möglich abzusteigen, da die Dämmerung bereits eingesetzt hat.

Wenn dies nicht mehr möglich ist, so bleibt uns nichts anderes übrig als ein zweites Biwak, diesmal aber in nassen Kleidern, ein recht peinlicher Gedanke. Überdies nimmt die Steilheit und Vereisung noch zu, je tiefer wir absteigen, was uns nur massige Freude bereitet. Mitunter liegen auch grössere Flecken weichen, nassen Schnees auf dem Eise. So müssen wir unsere Gangart, kaum aufs Eis umgestellt, alsbald wieder wechseln und dem unsichern Schnee anpassen. Später kommt es sogar so, dass wir zwei Stufen im Eis gehen, dann eine im Schnee und wieder im Eis und so fort das ganze Couloir hinunter. Als wir glauben, sein Ende erreicht zu haben, stehen wir über einem fast senkrechten Eiswändchen, dessen Überwindung den Schwierigkeiten des Abstiegs die Krone aufsetzt. Als wir es geschafft haben, stehen wir auf einer Art Band, das sich im Eise gebildet hat. Auf diesem gelangen wir, unter der Stufe hin-durchquerend, auf den Überhang des Schrundes hinaus. Endlich können wir im Scheine der Dämmerung die Lage überblicken. Die Augen meines Begleiters werden gross wie Mühlräder. Denn in einem Sprung von sechzig Meter Höhe fällt das Hauptcouloir auf den Gletscher ab, und am untern Ende des Absturzes sperrt ein unbändiger Schrund sein Maul grimmig auf.

Ich brauche nichts zu sagen, der Anblick sagt alles. Und in einer Minute hat sich mein Kamerad davon überzeugt, was Bergschründe im Mont-Blanc-Gebiet zu bedeuten haben.

Freilich, noch mehr als dieser Absturz interessiert uns, ob wir von unserm Standpunkt aus den Bergschrund überschreiten können. Er ist hier zwar nur halb so hoch, aber dreissig Meter sind auch kein Spass, und wenn die Kluft hier so breit ist wie drüben, dann kommen wir nicht hinüber.

Doch eine letzte Möglichkeit hat mein Blick inzwischen erspäht. Am äussersten Ende der Flanke ist der Schrund in sich zusammengestürzt, gewaltige Eisblöcke füllen dort die Spalte aus, und dort müsste es gehen. Doch sind es gut 800 m bis dort hinüber, ein Quergang auf blankem Eise, der uns gut zwei Stunden kosten würde.

So wollen wir es lieber hier versuchen. Noch können wir den Überhang nicht überblicken. Sorgfältig arbeite ich mich tiefer. Jetzt kann ich besser sehen: der Schrund scheint begehbar zu sein. Allerdings dauert es noch eine Weile, bis wir in der fortgeschrittenen Dämmerung das unsichere Wändchen hinuntergestiegen sind, denn immer noch sind Schnee und Eis wankelmütig, und die Stufen geben hin und wieder unter den Füssen nach. Aber schliesslich erreichen wir den Grund der Kluft, turnen über einige Eisblöcke, und dann bringt uns eine Abfahrt auf den Gletscherboden hinunter.

Wir atmen auf, ordnen Kleider und Seil und marschieren weiter. Der Gletscher ist von einer Unmenge scharfkantiger Eisblöcke übersät, und wehe dem, der das Couloir abstürzte. Er würde, selbst wenn er heil über den Schrund käme, an den Eisblöcken zerschellen.

Früher habe ich immer geglaubt, dass man im auslaufenden Schnee alles riskieren könne. Diese Eisblöcke, vom Schnee leicht bedeckt und von oben gänzlich unsichtbar, sind mir erneut eine Warnung. Noch nie habe ich ein derartiges Trümmerfeld am Fusse eines Couloirs gesehen.

Mittlerweile hat das schlechte Wetter wieder eingesetzt, und wir müssen einen ausgiebigen, mit Regen und Riesel vermischten Schneefall über uns EINE ÜBERSCHREITUNG DER AIGUILLE VERTE.

ergehen lassen. Da wir befürchten, die Spur, auf die wir nun gestossen sind, könnte zugedeckt werden, beschleunigen wir das Tempo. Es ist aber auch Zeit, denn schon jetzt haben wir Mühe, die Fußstapfen zu erkennen. Und ohne einen Anhaltspunkt wäre der Weg durch die Spalten in der stockdunklen Nacht schwerlich zu finden.

In grossem Bogen umgehen wir Spalten, überschreiten wir Schneebrücken, springen wir über aufgerissene Gletschermäuler. Ein zweiter Bergschrund am Fusse des Whympercouloirs verlangt nochmals grosse Vorsicht. Doch ist er gegen den vorher verhältnismässig harmlos. Allmählich wird der Gletscher flacher, und die Spalten nehmen an Häufigkeit ab. So können wir, ohne viel zu denken, weiterstolpern. Unser Gang wird schon so energielos, dass wir alle Augenblicke in der weichen, schlüpferigen Schneemasse ausgleiten. Meine Stürze, die wesentlich häufiger sind, erwecken in meinem Begleiter menschliche, allzu menschliche Gefühle. Ich habe ihn beim Steigeisengehen einige Male geschulmeistert. Für diese Ermahnungen nimmt er jetzt Rache.

« Was ist auch mit dir los, » ruft er herausfordernd, während er wie ein preussischer Grenadier davonmarschiert, « bist du etwa müde? » « Es scheint so », antworte ich.

« Oho, da bin ich noch so frisch wie am Morgen! » Und angesichts des Parademarsches kann ich an der Richtigkeit dieser Aussage auch gar nicht zweifeln. Allmählich flaut aber seine Energie doch wieder ab, und wir stimmen schliesslich überein, dass der Rückweg zur Hütte endlos sei. Es will und will nicht werden. So gehen wir wieder zur schweizerischen Gangart über, die für solche Nachtmärsche empfehlenswerter ist.

Nachdem wir eine Schneerinne abgestiegen sind, betreten wir das Blockfeld, auf dem die Hütte liegt, und mit einem Male steht sie wie ein gespenstiger Koloss vor uns. Stockschwarz, denn alle Lichter sind ausgelöscht. Wie wir eintreten, sitzt der Hüttenwart beim Kerzenlicht an einem Tische und schreibt. Als er uns sieht, strahlt Freude über sein Gesicht. Er ist noch einer von denen, die Freude an den wirklichen Bergsteigern haben, auch wenn sie selber kochen und nicht so viel Geld dalassen wie die Hüttenbummler, die umfangreiche Mahlzeiten bewältigen, aber dafür die Berge nur von unten betrachten. Wir freuen uns über diese Gesinnung des kernigen Savojarden, in dem halt noch echtes Bergsteigerblut fliesst. Das ist auch kein Wunder, ist er doch der Sohn des bekannten Ravanel, der so manche Zinne im Mont Blanc erobert hat.

Bald umfängt uns ein traumloser Schlaf, aus dem wir leider viel zu früh erwachen. Wir restaurieren uns und treten dann auf den Jardin de Talèfre hinaus, wo die Aiguille Verte nochmals in ihrer ganzen Grosse und Schönheit sichtbar wird. Nunmehr erkennen wir die Einzelheiten unseres Weges, erblicken das Couloir, die Gendarmen, die Schneegrätchen, die uns soviel Mühe machten, und wir schauen noch einmal den glänzenden Dom, der sich wuchtig und ebenmässig in den blauen Himmel hinaufschwingt.

Das Wetter hat sich wieder gebessert, und eben tritt die Sonne hervor. Hell leuchtet der Berg auf, um den wir zwei Tage lang gekämpft haben. Einige Minuten betrachten wir schweigend dieses Bild, dann nehmen wir Abschied.

Etwas Grosses ist uns geworden, und mit einem Gefühl stiller Zufriedenheit bummeln wir zu Tale. Wie die Kinder freuen wir uns auf ein weisses Bett, auf ein Glas frische Milch, auf weiche Rasenteppiche und einige Tage Dolcefarniente.

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